Surprise 548/23

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Serie: Digitalisierung

Alles online

Ob die Digitalisierung Teilhabe oder Ausschluss bedeutet, hängt davon ab, ob gezielt Zugang geschaffen wird.

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Strassenmagazin Nr. 548 21. April bis 4. Mai 2023 Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass davon gehen CHF 3.–an die Verkäufer*innen
CHF 6.–

STRASSENCHOR

STRASSENCHOR

Entlastung

Sozialwerke

Entlastung

Sozialwerke

BEGLEITUNG UND BERATUNG

BEGLEITUNG UND BERATUNG

Solidaritätsgeste

CAFÉ SURPRISE

CAFÉ SURPRISE

Lebensfreude Zugehörigkeitsgefühl

Lebensfreude Zugehörigkeitsgefühl

Entwicklungsmöglichkeiten Unterstützung

Solidaritätsgeste Erlebnis

Entwicklungsmöglichkeiten Unterstützung

Expertenrolle Job

Expertenrolle Job

STRASSENFUSSBALL

STRASSENFUSSBALL

Erlebnis

STRASSENMAGAZIN

STRASSENMAGAZIN

Information

Information

SURPRISE WIRKT

SOZIALE STADTRUNDGÄNGE

SOZIALE STADTRUNDGÄNGE

Perspektivenwechsel

Perspektivenwechsel

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

SURPRISE WIRKT

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

BETEILIGTE CAFÉS

IN AARAU Schützenhaus | Sevilla IN ALSTÄTTEN SG Zwischennutzung Gärtnerei IN ARLESHEIM Café Einzigartig IN BACHENBÜLACH Kafi Linde IN BAAR Elefant IN BASEL Bäckerei KULT Riehentorstrasse & Elsässerstrasse | BackwarenOutlet | Bioladen Feigenbaum | Bohemia | Café-Bar Elisabethen | Flore | frühling Haltestelle | FAZ Gundeli | Oetlinger Buvette | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen Quartiertreffpunkt Lola | Les Gareçons to go | KLARA | L’Ultimo Bacio Gundeli Didi Offensiv | Café Spalentor | HausBAR Markthalle | Shöp | Tellplatz 3 | Treffpunkt Breite | Wirth’s Huus IN BERN Äss-Bar Länggasse & Marktgasse | Burgunderbar Hallers brasserie | Café Kairo | Café MARTA | Café MondiaL | Café Tscharni | Lehrerzimmer | Lorraineladen | Luna Llena | Brasserie Lorraine Dreigänger | Generationenhaus Löscher | Sous le Pont | Rösterei | Treffpunkt Azzurro | DOCK8 | Café Paulus Becanto | Phil’s Coffee to go IN BIEL Äss-Bar Inizio | Treffpunkt Perron bleu IN BURGDORF Bohnenrad | Specht IN CHUR Café Arcas | Calanda | Café Caluori Gansplatz | Giacometti | Kaffee Klatsch | Loë | Merz | Punctum Apérobar | Rätushof Sushi Restaurant Nayan | Café Zschaler IN DIETIKON Mis Kaffi IN FRAUENFELD Be You Café IN LENZBURG Chlistadt Kafi | feines Kleines IN LIESTAL Bistro im Jurtensommer IN LUZERN Jazzkantine zum Graben | Meyer Kulturbeiz & Mairübe Blend Teehaus | Bistro & Restaurant & Märkte Wärchbrogg | Pastarazzi | Netzwerk Neubad | Sommerbad Volière | Restaurant Brünig | Arlecchino IN MÜNCHENSTEIN

Bücher- und Musikbörse IN NIEDERDORF Märtkaffi am Fritigmärt IN OBERRIEDEN Strandbad IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz IN STEIN AM RHEIN

Café Surprise – eine Tasse Solidarität

Zwei bezahlen, eine spendieren.

Raum 18 IN ST. GALLEN S’Kafi IN UEKEN Marco’s Dorfladen IN WIL Caritas Markt IN WINTERTHUR Bistro Dimensione | Bistro Sein IN ZUG Bauhütte Podium 41 IN ZÜRICH Café Noir Zähringer | Cevi Zürich | das GLEIS | Kiosk Sihlhölzlipark Quartiertreff Enge | Quartierzentrum Schütze | Täglichbrot | Flussbad Unterer Letten | jenseits im Viadukt | Kafi Freud | Kumo6 | Sport Bar Cafeteria | Zum guten Heinrich Bistro

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise

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Kultur
Kultur

Editorial Hürden überwinden

Mit diesem Heft setzen wir den Auftakt zu einer Serie über die Digitalisierung. Weil wir uns als Strassenmagazin grundsätzlich für Formen der Ausgrenzung interessieren, fokussieren wir dabei auf die Frage: Wo werden Menschen in der digitalen Gesellschaft ausgeschlossen und wo entsteht mehr Teilhabe?

Die Digitalisierung bietet ein riesiges Potenzial für Inklusion. Über Apps lassen sich Texte vorlesen, per Videocall Distanzen überwinden, Menschen halten und finden Kontakte, vernetzen sich. Die kulturelle Bedeutung des Internets wird oft mit dem Buchdruck verglichen, der langfristig eine unvergleichliche Demokratisierung von Wissen bedeutete. Das ist die eine Seite. Die andere ist die Tatsache, dass die digitale Kluft immer weiter aufreisst. Davon handelt der Auftakt unserer Serie, ab Seite 8.

Wir versprechen uns von der mehrteiligen Auslegeordnung, dass sie eine allgegenwärtige gesellschaftliche Entwicklung beschreibt, Zusammenhänge sichtbar macht, Bedenken formuliert –und im besten Fall auch Chancen aufzeigt.

Es geht in diesem Heft auch um die Einlasspolitik von Notschlafstellen für obdachlose Menschen. Um ihre sogenannte Niederschwelligkeit und auch hier: um Hürden, die bestimmte Menschen ausschliessen. Die Frage stellt sich, inwiefern dies einem nötigen Pragmatismus geschuldet ist und wann es sich um unethische Handhabe handelt, ab Seite 20.

Und dann sind da noch die gesellschaftlichen Hürden, die erstmal sichtbar gemacht werden müssen, um über ein Thema wie Armut überhaupt sprechen zu können. Damit sind vor allem jene konfrontiert, die Sensibilisierungsarbeit machen – zum Beispiel die ehemals obdachlose Bloggerin Janita Juvonen, ab Seite 16.

Und von einem übrigens, der sich von der Digitalisierung weder beirren noch abhängen lässt, lesen Sie in der Verkäufer*innenkolumne.

Surprise 548/23 3 4 Aufgelesen 5 Vor Gericht Viermal schuldig 5 Na? Gut! AHV-Beiträge von Uber 6 Verkäufer*innenkolumne Fünfzehn Jahre 7 Die Sozialzahl Armut und Sozialhilfe 8 Serie: Digitalisierung Zugang für alle 10 Die digitale Kluft: Wer nimmt teil, wer bleibt aussen vor? 15 Anschluss an die Arbeitswelt 16 Sensibilisierung Obdachlosigkeit erklären 19 Biografiearbeit Mitgestalten statt (nur) betroffen sein 20 Obdachlosigkeit Notschlafstellen für alle? 22 Wer bekommt wo ein Dach über dem Kopf? 24 Kino Im Sterben spiegelt sich das Leben 25 Wider den Zwang 26 Veranstaltungen 27 Tour de Suisse Regensdorf 28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Verkäufer*innen-Porträt «Ich sah keine Zukunft» ILLUSTRATION COVER: TIMO LENZEN
DIANA FREI Redaktorin

Auf g elesen

News aus den über 90 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

«Schon immer wohlgefühlt»

Der deutsche Fotograf Robert Lindemann setzt sich mit einem Augenzwinkern für «Body Positivity» bei Männern ein. Seit vier Jahren produziert der 32-Jährige Kalender, in denen er alle Hüllen fallen lässt: «Es ist ein humorvolles Projekt. Solange sich die richtigen Leute darüber aufregen, finde ich, hat man was richtig gemacht. Ich glaube, dass man bei Frauen viel mehr auf die Äusserlichkeiten achtet und Übergewicht bei Männern schon immer akzeptierter war als bei Frauen. Mein Traum war schon immer, eher vor der Kamera zu stehen. Während meiner Arbeit als Fotograf habe ich ab und zu die Möglichkeit genutzt, und sei es auch nur als Lichtmodell. Aber dann wurde mir immer mehr bewusst, dass ich unwissentlich so eine Body Positivity ausstrahle und damit vielleicht auch Männer empowern kann, sich in ihrem Körper wohl zu fühlen.»

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FOTOS: ROBERT LINDEMANN ASPHALT, HANNOVER

AHV-Beiträge von Uber

Arbeiten Fahrer*innen von Uber selbständig oder als Angestellte? Seit Jahren sagt der US-amerikanische Fahrdienst, den es in der Schweiz seit 2013 gibt: selbständig! Man diene lediglich als Plattform zwischen Kund*innen und Fahrer*innen. Das Bundesgericht widerspricht nun zum zweiten Mal und sagt: als Angestellte! Im Sommer 2022 ging es um den Kanton Genf, jetzt, in den vier Urteilen von Ende März, um den Kanton Zürich und um AHV-Beiträge für das Jahr 2014.

Acht Jahre später kommt das Bundesgericht zum Schluss, dass UberFahrer*innen unselbständig sind. Erstens erteilt Uber ihnen Weisungen und kontrolliert über die App, ob sie sich an diese halten. Bei schlechten Fahrtenbewertungen kann Uber ihnen den Zugang zu Services verweigern. Zweitens sind die Fahrer*innen Uber untergeordnet, etwa bei der Preisgestaltung oder dem Bewertungssystem. Und drittens tragen sie praktisch kein unternehmerisches Risiko. Die Rahmenbedingungen wie IT-Infrastruktur, Software stellt Uber, auch das Inkassorisiko liegt bei der Firma in der Rolle der Arbeitgeberin. Alles Gründe dafür, dass die Uber-Gesellschaften für ihre Fahrer*innen AHV-Beiträge zahlen müssen.

Laut einer Uber-Sprecherin habe man die App bezüglich Wahlfreiheit, Flexibilität und Autonomie der Fahrer*innen inzwischen angepasst. Das Ziel der Modifikationen: Die Fahrer*innen sollen eben doch als «selbständige Unternehmer*innen» arbeiten können. Immerhin: Die Sozialleistungen für das Jahr 2014 habe Uber gemäss der Sprecherin bereits bezahlt. LEA

An dieser Stelle berichten wir alle zwei Wochen über positive Ereignisse und Entwicklungen.

Vor Gericht

Viermal schuldig

Kürzlich verurteilte das Bezirksgericht Zürich vier Banker wegen Sorgfaltspflichtverletzungen im Zusammenhang mit mutmasslichen Kreml-Geldern. Die Reaktionen waren einhellig: Ein «starkes Signal» sei das. Dafür, dass die Schweiz gegen jene vorgeht, die unseren Finanzplatz missbrauchen, und jene, die ihnen dabei helfen. Vielleicht ist es auch ein Signal an alle, die boshaft anmerken würden, die «mangelnde Sorgfalt bei Finanzgeschäften» – so der Straftatbestand – sei weniger ein Delikt als das Geschäftsmodell der Schweiz.

Geregelt wird diese Sorgfalt in Artikel 305 StGB: Wer berufsmässig fremde Vermögenswerte annimmt und hilft, sie anzulegen oder zu übertragen, muss die Identität des wirtschaftlich Berechtigten sorgfältig abklären. Die Frage nach diesem wirtschaftlich Berechtigten ist im vorliegenden Fall besonders brisant. Denn es geht es um Geldströme aus dem Kreml –also auch um die Identität der Schweiz. Sind wir mit unseren Mühen, den Finanzplatz zu regulieren, weiterhin willige Komplizen von Massenmördern?

Für den Staatsanwalt ist klar: Die vier hochrangigen Banker der Gazprombank Schweiz haben 2014 bei der Eröffnung von zwei Konten rudimentärste Abklärungen unterlassen. Denn der Kontoinhaber war Sergei Rodulgin, ein Studienfreund von Wladimir Putin, der Götti von dessen Tochter, von Beruf Cellist und Dirigent. All das sei der Bank bekannt gewesen – und es sei nicht plausibel zu begründen, wie ein Musiker zu 50 Millionen Franken kommt. Die Bank hatte sich mit der Erklärung zufriedengegeben, er sei ein «private businessman», der mit Beteiligungen an russischen

Unternehmen ehrlich Geld verdient habe. Doch der Staatsanwalt sagt: Rodulgin ist ein Strohmann Putins.

Dass er ein Günstling des Kremls ist, hatten auch die Strafverteidiger der vier Banker eingeräumt. Doch für sie ist dieser Umstand eine plausible Erklärung dafür, dass Rodulgin Zugang zu besonderen Finanzierungsmöglichkeiten gehabt habe. Die Banker hätten keinen Grund gehabt, die Angaben Rodulgins anzuzweifeln.

Nichts da, sagt der zuständige Richter. Glasklar schuldig, alle vier. Aus den Akten ergebe sich, dass selbst die Bank Zweifel hatte – sonst hätte sie die Geschäftsbeziehung nicht in die höchste Risikokategorie eingestuft. Dennoch seien ernsthafte Abklärungen ausgeblieben. Und die Banker hätten bloss die Zeitung lesen müssen: Er sei weder Geschäftsmann noch Millionär, sagte der Musiker im September 2014 der New York Times.

So gut der kollektive Schuldspruch klingt, so zahnlos wirkt er im Lichte der verhängten Sanktionen. Der Staatsanwalt hatte bedingte Freiheitsstrafen beantragt –doch der Richter belässt es bei hohen, bedingten Geldstrafen. Alle vier lassen durch ihre Verteidiger unverzüglich Berufung erklären. Das Urteil ist also noch nicht rechtskräftig – bis es so weit ist, dürfte es noch dauern. Bis dann sind die vier Banker unbescholtene Bürger.

Es brauche Instrumente, die wehtun, wird nach dem CS-Crash rundherum gefordert, um in der Finanzbranche endlich einen Kulturwandel herbeizuführen. Doch diese Schuldsprüche werden die vier Verurteilten kaum schmerzen. So gesehen haben wir nun neben der Symbolpolitik auch eine Signaljustiz.

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER
Na? Gut!
YVONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin in Zürich.

Verkäufer*innenkolumne

Fünfzehn Jahre

In diesem Monat jährt sich meine Zeit als Surprise-Verkäufer zum fünfzehnten Mal. Anlass genug für ein kleines Resümee.

Zwar ist es mir, als ob er erst gestern gewesen wäre: mein erster Arbeitstag bei Surprise, nicht ohne vorher ein Bier als Mutmacher getrunken zu haben. Aber fünfzehn Jahre sind natürlich eine lange Zeit, in der viel geschehen und in der sich vieles verändern kann.

Zunehmend wird mir während meiner Arbeit von psychischen Problemen, von Depressionen, von langen Klinikaufenthalten erzählt, davon, dass die Anforderungen des Lebens zu gross geworden, der Weg zurück lange und beschwerlich ist, und dass Rückschläge lauern. Und ich wundere mich über die Offenheit und das Vertrauen, das mir die Menschen entgegenbringen.

Relativ neu ist die Frage: Haben Sie Twint? Hmmm, nein, ich habe kein Twint.

Hätten Sie Twint, könnten Sie bestimmt mehr Hefte verkaufen.

Das mag schon sein. Aber ich bin ein Grufti und ich habe vor, ein Grufti zu bleiben.

Grufti, Neandertaler oder auch Ähnliches. Ganz wie es beliebt. Von mir aus. Mir solls recht sein. Ich werde ganz bestimmt nicht böse. Und täte zu meinen Lebzeiten jemals das Bargeld abgeschafft werden: Ich würde das erste Mal in meinem Leben auf der Strasse demonstrieren, um der Sache Nachdruck zu geben mit lauten Parolen wie etwa «Das Eine schliesst das Andere nicht aus.» Ich wäre in dieser Sache bestimmt nicht der Einzige, der demonstriert.

Immerhin ernte ich mit meinen Ausführungen viel Verständnis, Beipflichten und Geschmunzel. Und trotzdem ich so ganz ohne Twint dastehe; Absatzrückgang meiner Hefte ist nicht. Schier alle haben nach wie vor Bargeld dabei. Und nicht selten kommt es vor, dass Bargeldlose, aber Willige, am nahe gelegenen Post- oder Bankomaten Geld abheben, zurückkommen und mir wohlgesinnt ein Heft abkaufen.

Fünfzehn Jahre gehen nicht spurlos an einem vorüber. Auch nicht bei guter Gesundheit. Ich mag nicht mehr so wie einst. Ich kann nicht mehr so oft und so lange stehen, wie es mal der Fall war. Ich werde schneller müde und meine Erholungsphase wird länger. Ebä, es isch nümm so wie aube.

Nicht wenige meiner Kund*innen aus meinen frühen Tagen bei Surprise sind nicht mehr da. Gerne würde ich Namen aufzählen. Aber Namen von Ihnen unbekannten Menschen würden Sie nur langweilen. Ich hingegen sehe sie, die mir vertraut gewesen aber nie mehr vorbeikommen werden, vor meinen Augen, und ich wische mir eine Träne ab.

Wie viel Abschied erträgt ein Mensch?

URS HABEGGER, 67, verkauft Surprise seit 15 Jahren in der Bahnhofunterführung in Rapperswil. Es kommt ihm so vor, als wäre es erst seit gestern. Aber das gelte für alles. Auch für seine Geburt. Aber an die kann er sich nicht erinnern.

Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.

6 Surprise 548/23 ILLUSTRATION: PABLO BÖSCH

Armut und Sozialhilfe

Die Armut in der Schweiz nimmt zu, die Zahl der Sozialhilfebeziehenden aber sinkt. Und das nicht erst seit der CoronaPandemie. 2017 zählte das Bundesamt für Statistik rund 675 000 armutsbetroffene Menschen in diesem Land, fünf Jahre später sind es 722 000. In der gleichen Zeitspanne sank die Zahl der Personen, die von der Sozialhilfe unterstützt werden, von 278 000 auf 272 000. Wie lässt sich diese gegenläufige Entwicklung erklären?

Der Nichtbezug von sozialstaatlichen Leistungen wird seit geraumer Zeit in Fachkreisen diskutiert. Drei Gründe dafür finden sich rasch. Da ist zum Ersten die Angst vor Stigmatisierung und Scham, also psychosoziale Gefühle, die Menschen abhalten, ihr Anrecht auf materielle Hilfe geltend zu machen. Zweitens mangelt es vielen an Wissen, wie sie zu ihrem Geld kommen können, oder sie haben die falschen Informationen über ihre Chancen, Unterstützung von den Sozialdiensten zu erhalten. Und drittens trägt die konkrete Ausgestaltung der Sozialhilfe, etwa die Rückerstattungs- oder die Verwandtenunterstützungspflicht, dazu bei, dass Menschen darauf verzichten, einen Antrag auf Sozialhilfegeld zu stellen.

So plausibel diese Gründe sind, so wenig können sie die gegenläufige Entwicklung bei den Armuts- und Sozialhilfezahlen erklären. Denn mit Blick auf diese drei Beweggründe für den Nichtbezug hat sich in den letzten Jahren kaum etwas Wesentliches geändert. Was sich hingegen geändert hat, ist die Verknüpfung von Sozial- und Ausländerrecht. 2019 wurde das Ausländerrecht verschärft. Beziehen Migrant*innen Sozialhilfe, riskieren sie den Entzug oder die Einschränkung der Aufenthaltsbewilligung. Diese Regelung hat eine diskriminierende Mauer um die Sozialhilfe gebaut und viele Familien mit

Zahl der Armutsbetroffenen und Sozialhilfebeziehenden 2011-2020

Migrationsgrund in existenzielle Notlagen gebracht. Sie sind auf die Hilfe von kirchlichen Organisationen oder NGOs wie Caritas oder das HEKS angewiesen.

Zudem lässt sich ein demografischer Effekt vermuten. Mehr Menschen haben aus prekären Arbeitsverhältnissen oder direkt aus der Sozialhilfe in die Pensionierung gewechselt. Ob sie dort Ergänzungsleistungen beziehen, ist eine offene Frage. Damit steigt die Armut im Alter. Vermutlich beeinflusst noch ein weiteres Phänomen die geschilderte gegenläufige Tendenz, die sogenannte Armutslücke. Diese beschreibt die Differenz zwischen dem vom Haushalt erzielten Erwerbseinkommen und der Armutsgrenze. Je kleiner die Lücke ist, desto geringer ist die Bereitschaft, einen Antrag auf Sozialhilfe zu stellen. Man scheut nicht nur den Aufwand, sondern ist auch nicht bereit, etwa auf ein Auto zu verzichten.

Die sehr tiefen Arbeitslosenzahlen lassen vermuten, dass eine wachsende Zahl von Sozialhilfebeziehenden in den letzten zwei, drei Jahren wieder eine Stelle auf dem Arbeitsmarkt gefunden haben. Dabei dürfte es sich vor allem um prekäre Arbeitsverhältnisse mit tiefen Lohneinkommen handeln. Diese Working-poor-Haushalte finden sich weiterhin in der Armutsstatistik, verzichten aber auf den eher geringen Beitrag an wirtschaftlicher Sozialhilfe, auf den sie im Prinzip Anrecht hätten.

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Surprise 548/23 7 2011 0 100 200 300 400 500 600 700 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 236 272 566 722 250 257 262 266 273 278 274 271 590 458 534 571 616 675 657 735 Armutsbetro ene Sozialhilfebeziehende INFOGRAFIK: BODARA QUELLE: BFS (2023) : ARMUTSSTATISTIK, SOZIALHILFESTATISTIK Die Sozialzahl

Serie: Digitalisierung In einer fünfteiligen Serie machen wir uns auf die Spur der Gräben, welche die Dig italisierung schafft. Und schauen dorthin, wo sie Teilhabe an der Gesellschaft ermö glicht.

Schlecht vernetzt

Apps, Smartphones und Chatgruppen erleichtern viele Lebensbereiche. Doch wir nehmen längst nicht alle in die digitale Gesellschaft mit.

TEXT FLORIAN WÜSTHOLZ ILLUSTRATIONEN TIMO LENZEN

Die Digitalisierung hat unsere Welt verändert. Gerne wird sie uns als Chance verkauft, weil sie unser Leben erleichtert: Wir können einfach Geld überweisen, uns mit Gleichgesinnten über tausende Kilometer hinweg austauschen oder Ersatzteile für das Lieblingsvelo per Klick finden und bestellen. Nur profitieren davon nicht alle. Denn für viele Menschen bedeuten Apps, Smartphones, Online-Schalter und kontaktloses Bezahlen nicht Bequemlichkeit und Flexibilität, sondern: Ausgrenzung.

«Wir sprechen oft über die Chancen –die natürlich durchaus da sind –, vergessen aber, dass es viele Menschen gibt, die abgehängt werden», sagt Isabelle Lüthi von Caritas Zürich. Ob jemand von der digitalen Teilhabe ausgeschlossen ist, sieht man einer Person von aussen kaum an. Manche verzichten freiwillig darauf, ständig vernetzt zu sein und Datenspuren zu hinterlassen. Andere haben keine Wahl. «Menschen, die von Armut betroffen sind, haben in unserer Informationsgesellschaft – wo Digitalisierung überall in unseren Lebensbereichen stattfindet – ein massiv höheres Risiko als der Einkommensdurchschnitt, digital abgehängt zu werden», sagt Christine Mühlebach von Sozialinfo.

Die moderne Gesellschaft stellt sie vor Hürden, weil sie keinen Zugang zu digitalen Mitteln oder zu wenig Geld und Wissen haben, um digitale Angebote zu nutzen. Sie können ihr Auto nicht mehr am Bahnhof parkieren, weil die Parkuhr nur noch per App bezahlt werden kann. Sie erhalten nur auf Umwegen eine persönliche Gesundheitsberatung, weil die Grundversorgung auf Chatbots im Internet verlagert wurde. Oder sie bezahlen extra, um sich einen ausgedruckten Kontoauszug nach Hause schicken zu lassen.

Für all jene Menschen wird es zunehmend schwieriger, sich in der digitalisierten Gesellschaft zurechtzufinden und den Anschluss nicht zu verlieren. Denn mit der Digitalisierung meinen wir oft einen ganzen Strauss von Entwicklungen, der in alle Bereiche der Gesellschaft vordringt: Digitale Arbeitsprozesse und -inhalte, neue Medien und Technologien, digitale Kommunikation, papierlose Gesellschaft, Robotik und künstliche Intelligenz, elektronische Daten, Optimierung, Effizienz. Nicht nur Spiel und Spass werden digital – auch unsere Grundbedürfnisse und die Wege zur sozialen Teilhabe stehen oft nur noch über Smartphones und das Internet offen.

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Dabei steckt beim Internet der Grundgedanke der Inklusion eigentlich im Erbgut. Am 7. April 1999 erklärte der Internetpionier Vint Cerf: «Das Internet ist für alle da –aber nur, wenn es für alle, die es nutzen wollen, erschwinglich ist. Das Internet ist

für alle da – aber nur, wenn es nicht zu kompliziert ist, um von allen problemlos genutzt werden zu können.» Das Internet hatte damals geschätzte 150 Millionen Nutzer*innen. Heute sind es über fünf Milliarden –und trotzdem bleibt Cerfs Erklärung so gültig wie eh und je. Denn das Bundesamt für Statistik geht davon aus, dass 20 bis 25 Prozent der Bevölkerung in der Schweiz –das sind rund zwei Millionen Menschen –keine oder nur geringe digitale Kompetenzen haben (siehe «Der digitale Graben: Für mich, aber auch für dich?», S. 10). Sie finden sich im Internet nicht zurecht oder schaffen es nicht, mit dem eigenen Smartphone um-

zugehen. Als Folge haben sie zum Beispiel Schwierigkeiten, soziale Kontakte aufrechtzuerhalten oder einen Job zu finden und zu behalten. «Um zu erfassen, was die Digitalisierung mit uns als Gesellschaft macht, wäre es wichtig, die Lebenswelt der verschiedenen Betroffenen besser in den Blick zu bekommen», sagt Mühlebach.

Ungleich verteilte Chancen

Grund genug, sich in einer fünfteiligen Serie auf die Spur der digitalen Gräben, Hürden und Sümpfe zu machen. Denn die Chancen, an der digitalen Gesellschaft teilzuhaben und auf den Zug der digitalen Möglichkeiten aufzuspringen, sind ungleich verteilt. Sie hängen von einer ganzen Palette sozialer Faktoren ab. Dabei müssen wir uns die Fragen stellen: Was machen wir mit diesem Werkzeug, das uns in die Hand gedrückt wurde? Und wie können wir dafür sorgen, dass es wirklich für alle da ist?

So ist diese Serie auch ein Versuch, den Blick auf die digitale Lebenswelt und die Betroffenen zu schärfen. Wobei aufgrund berechtigter Kritik das vielversprechende Positive nicht untergehen soll. Denn dank der Digitalisierung können sich Menschen einfach im Internet Hilfe holen und vernetzen. Menschen auf der Flucht koordinieren sich und bleiben dank ihrer Smartphones in Kontakt. Wer schlecht sieht, kann sich die Nachrichten von einer Software vorlesen lassen. Und Suchtkranke erhalten Unterstützung durch Apps und Chatgruppen, an die sie sich fast jederzeit wenden können.

So ist die Digitalisierung auch ein Werkzeug der Ermächtigung, das ausgeschöpft werden darf – bloss, bitte, ohne dabei Menschen auszugrenzen.

Digitalisierung: eine Serie in fünf Teilen

Teil 1: Der digitale Graben, Surprise Nr. 548

Teil 2: Fehlender Zugang, Surprise Nr. 550

Teil 3: Ungleiche Datensammlung, Surprise Nr. 552

Teil 4: Migration und Digitalisierung, Surprise Nr. 553

Teil 5: Blick in die Zukunft, Surprise Nr. 554

Leichte Sprache: Erstmals bieten wir den gesamten Beitrag online auch in leichter Sprache an. Scannen Sie den QR-Code oder gehen Sie auf surprise.ngo/leicht

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Der digitale Graben: Für mich, aber auch für dich?

Digitale Ausgrenzung findet an ganz unterschiedlichen Orten der Gesellschaft statt. Ein Streifzug durch die digitalen Gräben in der Schweiz.

Irgendwann im Jahr 2035 wird in der Schweiz der letzte Ticketautomat abmontiert werden. Das gab der ÖV-Tarifbranchenverband Alliance Swisspass Ende letzten Jahres bekannt. Wenn die Schrauben gelöst und der Kasten im Museum verstaut ist, gibt es Tickets für Zug, Tram und Bus nur noch digital. Wer dann kein mehr oder weniger aktuelles Smartphone besitzt, geht wohl leer aus. Kaum etwas veranschaulicht die digitale Transformation unseres Alltags so deutlich wie das schleichende Verschwinden der verlässlichen Ticketautomaten.

«Viele können sich vorstellen, dass manche Menschen Mühe haben, wenn es keine Ticketautomaten mehr gibt», sagt Isabelle Lüthi von Caritas Zürich. «Viel schwieriger vorstellbar ist es, dass jemand in der reichen Schweiz gar keinen Laptop oder keinen Zugang zum Internet hat.»

Lüthi befasst sich mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf die Gesellschaft – insbesondere für jene, die bereits heute am Rand leben.

Bereits die Kosten für einen Laptop oder ein Internetabo sind für viele eine zu hohe Hürde, um an der digitalen Gesellschaft teilhaben zu können (siehe «Zurück in die digitale Welt», S. 15). «Gemäss Statistiken des Bundesamts für Statistik belaufen sich die durchschnittlichen IT-Ausgaben in der Schweiz auf 250 Franken pro Monat», sagt Lüthi. Dazu gehören unter anderem Geräte, allfällige Reparaturen, Software und Apps sowie der Internetzugang. «Für jemanden mit einem knappen Budget ist das sehr viel Geld.»

Ein Problem, mit dem über 700 000 Armutsbetroffene und weitere rund 600 000 an der Armutsgrenze lebende Menschen in der Schweiz täglich konfrontiert sind. «Die Menschen in unseren Beratungen treibt der fehlende Zugang zur Digitalisierung sehr um», sagt Lüthi. Sie können sich ohne Laptop schlechter auf subventionierte Woh-

nungen bewerben oder haben Mühe, ihre Rechnungen online zu bezahlen. Es drohen Mahnungen oder höhere Mieten. Manche trauen sich, in Digitalcafés oder Beratungssitzungen Unterstützung zu suchen, andere versuchen sich sonst irgendwie durchzuschlagen – nicht immer erfolgreich. Wieder andere resignieren.

«Um heute an der digitalen Welt teilzuhaben, braucht es im Wesentlichen zwei Dinge», sagt Christine Mühlebach, die beim Verein Sozialinfo das Kompetenzzentrum Digitalisierung und Soziale Arbeit leitet, «den Zugang zur nötigen Infrastruktur und digitale Kompetenzen.» Mit anderen Worten: Wer kein Smartphone hat, kann natürlich auch kein Onlineticket fürs Tram lösen. Wer zuhause keinen Internetanschluss hat, kann die Hausaufgaben nicht

Eine Zunahme der Investitionen in digitale Produktionstechnologien um

CHF 100 000

bringt für Hochqualifizierte eine Erhöhung von fast

6 Arbeitsplätzen,

für Mittel- bzw. Geringqualifizierte resultiert ein Wegfall von

4 bzw. 2 Arbeitsplätzen.

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TEXT
WÜSTHOLZ ILLUSTRATIONEN TIMO LENZEN
FLORIAN
QUELLE: EDUCA 2021

auf der digitalen Lernplattform erledigen. Und wer nicht weiss, wie man online eine Überweisung tätigen kann, muss den Weg zu den immer seltener werdenden Bankschaltern auf sich nehmen. Ob jemand über digitale Kompetenzen oder entsprechende Geräte verfüge, sei dabei viel stärker vom Einkommen oder vom Bildungshintergrund als vom Alter abhängig, so Mühlebach. Der Blick durch die Generationenbrille ist zu eng. Der digitale Graben zieht sich eher kreuz und quer durch die Gesellschaft. Bildung, Einkommen, Alter, Kompetenzen, Sprache: alles spielt eine Rolle. Ein reicher Schweizer Rentner mag ebenso betroffen sein wie eine afghanische Gymnasiastin aus einer sechsköpfigen Familie an der Armutsgrenze. Und der digitale Graben ist keine Randerscheinung. Gemäss Daten des Bundesamts für Statistik (BfS) haben rund ein Viertel der Bevölkerung keine oder nur geringe digitale Kompetenzen.

Aus der Logik der Privatwirtschaft gedacht

Diese zwei Millionen Menschen haben Mühe, übers Internet Kontakte herzustellen oder sich mit anderen digital auszutauschen. Sie können nur schwer Informationen in digitaler Form suchen und verarbeiten. Sie können geeignete nicht von ungeeigneten digitalen Instrumenten unterscheiden. Und sie können viele Programme und Geräte nur rudimentär oder gar nicht bedienen. All das, was in einer digitalen Gesellschaft lebensnotwendig ist.

Es sind auch zwei Millionen Menschen, die mit der «Strategie Digitale Schweiz 2023» des Bundes abgehängt zu werden drohen. Die Leitlinien der Bundesverwaltung fordern, dass künftig konsequent auf «digital first» gesetzt wird: Digitale Angebote werden, wo immer möglich, priorisiert. Der Bund will damit, dass «die gesamte Bevölkerung der Schweiz» von einer «nachhaltigen und verantwortungsvollen digitalen Transformation profitieren» soll.

Die gesamte Bevölkerung? Keineswegs.

«Diese Strategie akzentuiert die Problematik für die bereits heute digital Abgehängten», kritisiert Christine Mühlebach und nennt ein Beispiel: In vielen Gemeinden, Städten und Kantonen gibt es mittlerweile Onlineschalter. Damit lassen sich praktisch von Zuhause aus Betreibungsregisterauszüge, Familienbüchlein oder Wohnsitzbestätigungen bestellen. «Oft sind diese Angebote umsonst, weil sie in der Logik der Verwaltung günstig sind», sagt Mühlebach. «Sie benötigen wenig Personal und lassen sich mehr oder weniger automatisiert abhandeln.» Anders sieht es aus, wenn man persönlich vorbeigeht. «Dann kostet es mitunter extra.»

CHF 250

Oder: Wer bei der Post ein Paket ins Ausland verschicken will, braucht ein Verzollungsformular. Wer es zu Hause am Laptop ausfüllt, ist fein raus. Wer am Schalter Unterstützung braucht, bezahlt fünf Franken. Diese Diskriminierung geht oft vergessen. Mühlebach hebt hervor, dass in Digitalisierungsprojekten primär aus der Logik der Privatwirtschaft gedacht werde. Im Vordergrund stünden Aspekte wie Effizienz und Wirtschaftlichkeit. «Das Ziel sollte aber eigentlich sein, dass das Potenzial der Digitalisierung für Inklusion und Integration genutzt werden kann.»

Der Papierauszug kostet extra

So präsentieren sich viele Aspekte der Digitalisierung auf den ersten Blick positiv. Ein Onlineschalter ersetzt das mühsame Anstehen und kann auch nach Feierabend noch angesteuert werden. Ideal für Menschen mit unregelmässigen Arbeitszeiten oder jene, die Care-Arbeit verrichten. Papierlose Rechnungen verringern die Produktion von Altpapier und können mit einem Klick bezahlt werden. Und beim Einkaufen im Internet hat man das gesamte Sortiment zur Auswahl – sogar, wenn man blind ist.

Recherchefonds

Dieser Beitrag wurde über den Surprise Recherchefonds finanziert. Unterstützen Sie aufwändige journalistische Recherchen mit einer Spende: CH11 0900 0000 1255 1455 3 oder surprise.ngo/spenden. Vermerk: Recherchefonds. Mehr Informationen, auch für interessierte Autor*innen: surprise.ngo/recherchefonds

Dass prekarisierte Menschen diese Chancen womöglich nicht nutzen können, sondern stattdessen noch stärker ausgegrenzt werden, darüber wird selten diskutiert. Dabei sind die Konsequenzen oft gravierend. Mühlebach bringt auch dazu ein Beispiel: Auf vielen Gemeinden müssen Armutsbetroffene beim Sozialdienst ihre Kontoauszüge auf Papier einreichen. Wer keinen Zugang zu einem Drucker hat, bezahlt bei der Bank extra für den Papierauszug. «So werden Armutsbetroffenen und digital Abgehängten noch Zusatzgebühren aufgehalst», sagt sie. Natürlich seien das oft nur ein paar Franken pro Monat. «Aber wer weiss, was es in der Schweiz bedeutet, von einem kleinen Budget zu leben, der weiss auch, dass es auf jeden Fünfliber ankommt. Solche Menschen werden doppelt bestraft. Das ist hochproblematisch.»

Tatsächlich ist Armut ein grosser Treiber digitaler Ausgrenzung. Alter und Bildung sind weitere Ursachen. Sie alle bestimmen darüber, wie häufig jemand das Internet benutzt, wie hoch die digitalen Kompetenzen sind, wie viele soziale Kontakte jemand hat. Dabei ist es keineswegs so, dass einzig ein bisschen Spass und Ablenkung im Internet verloren gehen. Digital Ausgegrenzte können sich nicht so entfalten, wie es möglich und gewünscht wäre.

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gibt jede Person in der Schweiz im Schnitt pro Monat für Mobiltelefonie, Internetzugang, Computer, Zubehör etc. aus.

Sie verlieren den Anschluss an soziale Netzwerke, die sich über soziale Medien und Chatgruppen bilden. Oder sie verlieren mangels digitaler Kompetenzen ihre Arbeit und finden dann keine Stelle mehr, weil alles über digitale Kanäle läuft.

Dem folgen manchmal Stigmatisierung und Scham auf dem Fuss. Es kann doch nicht so schwierig sein, mit diesen kleinen Wundergeräten umzugehen, oder? «Wer über wenig Geld verfügt, hat oft auch wenig Zeit», gibt Isabelle Lüthi von Caritas Zürich zu bedenken. Man dürfe nicht vergessen, dass Menschen in finanziell prekären Situationen oft unter Druck stehen, weil sie mehr arbeiten und mitunter zusätzlich noch Care-Arbeit verrichten müssen. «Es braucht aber sowohl Zeit als auch Geld, um sich im Hinblick auf den veränderten Arbeitsmarkt weiterzubilden und sich digitale Grundkompetenzen anzueignen.» Natürlich wäre es gut, wenn sich digital Abgehängte weiterbilden und sich die nötigen Grundkenntnisse aneignen würden. Aber das ist einfach gesagt. «Wer ständig die eigene Existenz sichern muss, hat keine Zeit für Weiterbildung.»

Gleichzeitig werden die Anforderungen in der Arbeitswelt immer digitaler. Bewerbungen müssen online oder per Video eingereicht werden und Stellen erfordern den souveränen Umgang mit mehr oder minder gängigen digitalen Technologien. So verlieren viele ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt, wenn sie auf der falschen Seite des digitalen Grabens stehen. Wer nicht weiss, wie man einen hübschen Lebenslauf gestaltet oder mit dem alten Gerät Mühe hat, das Onlineformular auszufüllen, kann sich auf gewisse Stellen gar nicht erst bewerben.

Mehr Jobs – für Hochqualifizierte

«Bei diesen Menschen droht die Gefahr, in prekäre Jobs gedrängt zu werden», sagt Lüthi. Paradoxerweise ist zudem mit der digitalen Plattformarbeit auf Uber oder Just Eat ein völlig neues Modell der prekären Arbeit erst durch die Digitalisierung entstanden. Und diese neue Form des Arbeitens ist vielleicht ein Vorgeschmack auf die drohenden Umwälzungen.

Unterdessen wird auf der akademischen Ebene munter über die konkreten Auswirkungen der Digitalisierung auf unsere Arbeitswelt gestritten. «Manche sagen, dass sich die Arbeitslosigkeit massiv reduzieren wird, weil es durch die Digitalisierung mehr neue Jobs geben wird», sagt Christine Mühlebach. «Aber selbst wenn das eintreffen wird, stellt sich die Frage: Jobs für wen?»

Ein Blick in den Digitalisierungsbericht von educa – der Fachagentur für Bildung in der Schweiz – verrät: Expert*innen gehen davon aus, dass in Zukunft vor allem hochqualifizierte Menschen mehr Arbeit finden werden. Gleichzeitig werden pro 100 000 Franken, die in die Digitalisierung investiert werden, rund sechs Stellen im mittleren und tiefen Qualifikationsbereich verschwinden.

«Die Frage ist dann, was wir mit jenen machen, die keinen Zugang mehr zum digitalisierten Arbeitsmarkt haben», sagt Mühlebach. «Diese Diskussion muss jetzt auf sozial- und wirtschaftspolitischer Ebene intensiviert

werden.» Vielleicht wäre die Schule ein guter Ort, den digitalen Graben zuzuschütten und junge Menschen auf eine sich verändernde digitale Gesellschaft vorzubereiten. Mit dem Beginn der Covid-19-Pandemie im Frühjahr 2020 rückte die Digitalisierung in der Bildung schlagartig in den Fokus. Von einem Tag auf den anderen mussten Klassen online unterrichtet und Hausaufgaben über digitale Plattformen eingereicht werden. Statt Stift und Papier waren Tablets das Hauptwerkzeug fürs Lernen.

Ein grosses Experiment, das einen Flickenteppich, grosse Mängel und Ungleichheiten zum Vorschein brachte. «Zu diesem Zeitpunkt wurde deutlich, dass es keine flächendeckenden Daten darüber gibt, wer an der Schule welche Geräte zur Verfügung hat und was wie genutzt wird», sagt Chantal Oggenfuss. Sie untersucht für die Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung (SKBF) die Digitalisierung an den Schulen.

So versuchte Oggenfuss ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen und sammelte Daten, wie digitale Mittel an Schulen verwendet werden. Zum einen entdeckte sie, dass

Anteile der Bevölkerung in %, welche über geringe digitale Kompetenzen verfügen.

Wie viele Personen können Informationen in digitaler Form nur schlecht suchen und verarbeiten, geeignete nicht von ungeeigneten digitalen Instrumenten unterscheiden und viele Programme und Geräte nur rudimentär oder gar nicht bedienen?

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QUELLE: (1) BUNDESAMT FÜR STATISTIK, HAUSHALTSBUDGETERHEBUNG 2022; (2) BUNDESAMT FÜR STATISTIK 2021
0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% 15–24 Jahre 25–39 Jahre 40–54 Jahre 55–64 Jahre 65–88 Jahre 7 14 21 26 27 42 26 8 15 16 27 obligatorische Schule Sekundarstufe II Tertiärstufe leicht oder sehr leicht ziemlich leicht schwierig oder sehr schwierig Nach Alter Nach Bildungsstand Nach selbstwahrgenommener finanzieller Situation des Haushalts Vertrauensintervall (95%)

Anzahl der geprüften Websites, die gut bis sehr gut barrierefrei nutzbar sind

Die restlichen können von Menschen mit Behinderungen, älteren Menschen und Personen mit speziellen Bedürfnissen nur schwer oder gar nicht bedient werden.

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zu Beginn der Pandemie Eltern mit Hochschulabschluss für ihre Kinder öfter ein neues Gerät für die Schule kauften als weniger gut ausgebildete Eltern. Noch grösser waren die Unterschiede aber zwischen den Sprachregionen. Während fast 90 Prozent der Schüler*innen in der Deutschschweiz angaben, einen Computer an der Schule zu nutzen, machten das in der Westschweiz weniger als 70 Prozent und im Tessin nur noch die Hälfte.

Und wer von zuhause aus lernen will, braucht unweigerlich einen funktionstüchtigen Internetanschluss. Hier zeigte sich, dass Kinder von Eltern mit geringem Bildungshintergrund doppelt so häufig die Geschwindigkeit des Anschlusses bemängelten. Das ist kein Luxusproblem, denn Forschung aus England konnte nachweisen, dass die Geschwindigkeit des Internetanschlusses zuhause eng mit den Schulleistungen der Kinder zusammenhängt. Je schneller der Internetzugang, desto besser die standardisierten Testwerte der Kinder.

Inklusionschancen bleiben ungenutzt Oggenfuss veranschaulicht den Zusammenhang mit einem Beispiel: Stellen wir uns eine vierköpfige Familie mit einem einfachen Internetanschluss vor, die sich womöglich zu viert einen Laptop teilt. «Wenn die älteste Tochter jetzt etwas für die Schule im Internet erledigen muss, passiert es eher, dass sie gewisse Aufgaben schlechter, langsamer oder gar nicht erledigen kann.» Ein Problem, das auch nicht behoben wird, wenn die älteste Tochter während des Unterrichts ein passendes Gerät von der Schule erhält. Dann herrscht zwar im Klassenzimmer eine gewisse Chancengleichheit – zuhause tut sich der Graben aber wieder auf.

Auch wenn der Einfluss von digitalen Mitteln auf die Bildungsqualität noch wenig erforscht ist, bieten sie offensichtliche Chancen. Wer schlecht lesen kann, schaut sich ein Video an oder hört ein Hörbuch. Wer schlecht schreibt, nutzt vermehrt Sprachnachrichten. Übersetzungsapps helfen dabei, sich über Sprachgrenzen hinweg zu verständigen.

Gerade auch für Menschen mit Behinderungen könnte die Digitalisierung eine bessere Teilhabe an der Gesellschaft ermöglichen. «Der digitale Weg kann eine wunderbare Möglichkeit sein, die Welt in die eigene Stube zu ho-

len», sagt Andreas Uebelbacher. Er arbeitet seit zehn Jahren für die Stiftung «Zugang für alle», welche sich für die Förderung der digitalen Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen einsetzt.

Beteiligung am öffentlichen Leben

In der Realität sieht es jedoch anders aus. «In den meisten Digitalisierungsprojekten ist niemand involviert, der blind oder gehörlos ist oder eine eingeschränkte Bedienungsmobilität hat.» Das Resultat sind digitale Angebote, welche für Menschen mit Behinderungen schwer oder schlicht gar nicht nutzbar sind. «Wenn man auf einer Website eine wunderschön gestaltete Infografik hat, ist diese Information für eine blinde Person komplett verloren, wenn es keine sinnvolle Textalternative gibt, die sie sich vorlesen lassen kann.»

In der Schweizer Accessibility (dt. Zugangs-) Studie von 2016 untersuchte die «Zugang für alle», wie gut sich fürs öffentliche Leben wichtige digitale Angebote von Menschen mit Behinderungen nutzen lassen: Websites des Bundes oder bundesnaher Betriebe, von Städten und Kantonen sowie Newsportale und Onlineshops. Das Urteil fiel vernichtend aus. Weniger als die Hälfte der Kantone und Städte erreichte eine genügende Note. Bei Newsportalen und Onlineshops bestanden gar nur zwei von 26 untersuchten Seiten den Test. «So vieles läuft heute digital ab», sagt Uebelbacher. «Das bedeutet aber auch, dass der Bereich, wo Menschen potenziell ausgeschlossen werden, zunehmend grösser wird.»

Gerade für Menschen mit Behinderungen ist der digitale Kanal oft die einzige Möglichkeit, sich am öffentlichen Leben zu beteiligen. «Eine Tetraplegikerin kann nicht schnell aufs Kreisbüro gehen und sich eine Wohnsitzbestätigung holen, und jemand mit einer Sprachbeeinträchtigung kann nicht am Schalter ein Ticket lösen», sagt Uebelbacher. Weil analoge Kanäle für viele nicht funktionieren, sind die digitalen plötzlich noch wichtiger.

«Doch es hapert leider noch beim Ausschöpfen der Chancen der Digitalisierung», so Uebelbacher. Es fehle am nötigen Wissen in der Ausbildung und Entwicklung und es herrsche das Vorurteil, dass Barrierefreiheit mit Mehraufwand verbunden ist. «Es muss einfach von Anfang an mitgedacht werden und nicht als Surplus behandelt werden. Dann ist es keine Hexerei.» So könnte ein grosser Mehrwert für die Gesellschaft erreicht werden, denn für Menschen mit Behinderung bedeute ein digitales Angebot oft auch ein Stück mehr Selbständigkeit und Selbstbestimmung.

Hintergründe im Podcast: Podcaster Simon Berginz spricht mit Redaktor Florian Wüstholz über dessen Recherche zur Digitalisierung. surprise.ngo/talk

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QUELLE: ZUGANG FÜR ALLE, ACCESSIBILITY-STUDIE 2016
Bundesbehörden Kantone Städte Newsportale Onlineshops
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Zurück in die digitale Welt

Für Armutsbetroffene bleiben die digitalen Türen oft verschlossen.

Das hat Auswirkungen auf Arbeitsbiografien. Und könnte mit relativ einfachen Mitteln angegangen werden.

TEXT FLORIAN WÜSTHOLZ

«Der digitale Graben wird sich nicht einfach so schliessen», sagt Christine Mühlebach von Sozialinfo. Um so wichtiger sei es, Personen Hilfe zu leisten, die bereits heute abgehängt sind. Mit Unterstützungsangeboten oder – ganz einfach – mit Geräten. Ein solches hat auch Tobias Lehmann kürzlich den Wiedereinstieg in die Arbeitswelt ermöglicht. Der 40-Jährige war früher als Logistiker tätig, bis ihm die Sucht zum Problem wurde. «Ich konnte immer wieder ein bisschen arbeiten und landete dazwischen beim Sozialamt», sagt Lehmann. In jener Zeit muss er von rund 700 Franken im Monat leben – jede Ausgabe überlegt er sich zweimal. «Ein gutes Smartphone oder einen Laptop hätte ich mir nie leisten können.»

Stattdessen ist Lehmann weiter auf seinen «alten Knochen» angewiesen, wie er sein Handy nennt – und findet sich vor digital verschlossenen Türen wieder. Eine gute Bewerbung schreiben oder sich di-

gital weiterbilden? Schlicht unmöglich. «Immer häufiger werden heute Online-Bewerbungen verlangt», sagt Lehmann. «Wie willst du das auf einem alten Smartphone oder ohne Internetzugang vernünftig anstellen?» Über das Arbeitsprogramm wurde er auf das Angebot von «Wir lernen weiter» aufmerksam gemacht. Seit April 2020 sammelt der Verein ausgediente Laptops, bereitet sie professionell auf und verteilt sie über ein Netzwerk an bedürftige Personen in der Schweiz. «Innerhalb einer Woche war das Gerät in meinem Briefkasten», sagt Lehmann. «Ich war völlig sprachlos und gleichzeitig glücklich, denn der Laptop war für mich der Grundstein, um überhaupt wieder arbeiten und mich bewerben zu können.»

Lehmann war so begeistert vom Projekt, dass er sich über eine Vermittlung des RAV freiwillig im Verein engagierte. «Ich ging zwei, drei Tage pro Woche vor-

bei und half mit», erzählt er. Die Zusammenarbeit lief so gut, dass er bald vom Verein ein Stellenangebot erhielt – mittlerweile arbeitet Lehmann Vollzeit beim Verein und organisiert die Aufbereitung sowie den Versand der Geräte. «Ich wusste, wie wichtig diese Dienstleistung für viele ist. Ich habe ja selber davon profitiert und gesehen, wie eine so einfache Sache das eigene Leben verändern kann.»

Lehmann denkt dabei auch an Schüler*innen und armutsbetroffene Familien, die sich plötzlich mehrere teure Geräte anschaffen müssen, damit die Kinder lernen können. Tatsächlich gehen viele der rund fünfzig Geräte, die Lehmann pro Woche verschickt, an bedürftige Schüler*innen und Lehrlinge – ausgestattet mit offener Software, die den Nutzer*innen keine zusätzlichen Lizenz- und Abogebühren aufhalsen. Ein Unterschied, der für manche kaum sichtbar ist. Für andere aber bedeutet es das Tor zur Welt.

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Janita-Marja Juvonen, 43, hat vierzehn Jahre Drogenabhängigkeit und Obdachlosigkeit hinter sich. Heute engagiert sie sich in der Aufklärungsarbeit über Obdachlosigkeit und in der Suchtprävention.

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An die wohnende Bevölkerung

Sensibilisierung Janita Juvonen schreibt und bloggt, spricht vor Schulklassen, diskutiert auf Podien und führt Gruppen auf Stadttouren durch ihre Heimatstadt Essen. Immer geht es dabei um Obdachlosigkeit, immer weniger um ihre eigene Biografie.

«Es ist nicht böse gemeint, aber inzwischen langweilt mich das oft», sagt sie und lächelt. «Meine Geschichte kann ich nicht mehr ändern, das, was sie bei den Menschen meist hervorruft, ist Mitleid. Ich kann Mitleid aber so gar nicht leiden. Lieber möchte ich die Situation der heute Betroffenen verbessern, also rede ich über die Gegenwart. Meine Geschichte ist hierbei nur wichtig, um zu zeigen, dass ich weiss, wovon ich rede.»

Gleichzeitig weiss sie, dass sich an ihrer Biografie –und zu der gehören die schrecklichen und traumatisierenden Erfahrungen, die Obdachlosigkeit bedeuten – zeigen lässt, was schiefläuft im gesellschaftlichen Umgang damit, bei der Begleitung auf dem Weg zurück. Sie hat sich entschieden, mit diesem Material zu arbeiten. Als Aktivistin auf Social Media und im echten Leben. Mühelos springt sie dabei von Persönlichem zu Strukturwissen zu den Wissenslücken der «wohnenden Bevölkerung», wie sie sagt. Sie spricht selbstbewusst, ernst, aber mit trockenem Humor und immer wieder aufblitzender Selbstironie.

Harte Sätze und unangenehme Wahrheiten kann sie im Ruhrgebietsidiom versöhnlicher klingen lassen.

Der kurze Abriss ihrer Zeit auf der Strasse umfasst beinahe eineinhalb Jahrzehnte: Mit vierzehn meldet sich Janita in Berlin entkräftet und entnervt bei der Polizei. Sie ist nicht zum ersten Mal von ihren Adoptiveltern weggelaufen. Doch diesmal liegt der Polizei keine Vermisstenanzeige vor. Sie ist allein.

Von nun an lebt sie in Berlin auf der Strasse und später jahrelang in Essen unter einer Brücke. Janita wird süchtig, erlebt Gewalt und überlebt einen Brandanschlag auf ihren Schlafplatz. Schliesslich wird sie so krank, dass sie fast auf der Strasse stirbt. Dass auch nach einer Notoperation sich Ärzt*innen um sie bemühen und sie mensch-

lich behandeln, ist der Auslöser, «mich selbst wieder als Mensch zu sehen, der dann wirklich sagt: ‹Ich will nicht sterben!›» Für die obdachlose JJ, wie sie auf der Strasse heisst, wird diese Situation nach vierzehn Jahren Obdachlosigkeit zum Wendepunkt. Für die Aktivistin Janita Juvonen ist sie der Anlass, Vorstellungen der Mehrheitsgesellschaft zu korrigieren: «Die Menschen sagen, du bist selbst schuld, wenn du obdachlos wirst. Sie sagen aber auch, du hast Glück, wenn du wieder eine Wohnung bekommst. Interessant, oder?»

Suche nach Bewältigungsstrategien

Die meisten denken wohl, dass Wohnungslosigkeit mit dem ausgehändigten Wohnungsschlüssel endet. «Die Vorstellung ist, mit diesem Moment sei alles gut. Das Gegenteil ist wahr. Obdachlosigkeit ist eine traumatische Erfahrung, die dein restliches Leben beeinflussen wird. Psychisch und körperlich, aber auch das gesellschaftliche Stigma bleibt. Auf dem Arbeitsmarkt, bei Ämtern, bei Ärzten. Obdachlosigkeit ist wie eine Straftat, die nicht verjährt. Das bedeutet in der Konsequenz, dass wir sie mit allen Mitteln verhindern müssen.»

Für Janita Juvonen beginnt ein jahrelanger Weg, erzählt sie: Die erste Wohnung ist eine Bruchbude, sie schafft es nicht, dort die Nächte zu verbringen und schläft weiter draussen. «Die Leute sagen dir: Sei froh, sei dankbar, nutze die Chance. Das macht es noch schwieriger.» Erst im dritten Anlauf und nach langer Zeit findet sie eine Wohnung, in der sie bleiben kann: «Vielleicht nichts Besonderes und sogar unrenoviert, aber ich wusste: Hier bin ich richtig.» Sie kämpft gegen Panikattacken, lässt nachts das Licht an, mit der Zeit wird es besser. Heute sagt sie: «Ich habe gute Strategien gefunden. Aber es gibt Dinge,

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TEXT BASTIAN PÜTTER FOTOS DANIEL SADROWSKI

die bleiben: Die Alarmbereitschaft legt sich nicht; ich schlafe mit der Zimmertür im Blick, und die muss offen sein. Zum Beispiel.»

Angekommen in der Wohnung fehlen Menschen, dafür kommen unangenehme Post und ebensolche Erinnerungen. «Ich hatte eine Wohnung und sonst nichts. Alle, die ich vorher kannte, meine sozialen Kontakte und mein ganzes Umfeld waren weg. Ich hatte keine Familie, kein Geld und keine Arbeit. Dann sitzt du da und die Erlebnisse und Gefühle, die du im Stress auf der Strasse gar nicht verarbeiten konntest, holen dich ein. Und schliesslich erreichen dich die unangenehmen Briefe der vergangenen Jahre – alle auf einmal. Auch das muss man aushalten können.» Oder anders: Das müsste nach der so wichtigen Prävention ein Hauptfeld der Wohnungslosenhilfe sein, die Nachsorge. Ehrenamtliche hingegen wollten lieber Suppe verteilen und Schlafsäcke.

Janita Juvonen entscheidet, ihr Leben ganz grundsätzlich zu ändern: Sie will offen mit ihrer Geschichte umgehen und aktiv verlernen, was die Strasse ihr beigebracht hat. «Ich weiss, das darf man vielleicht gar nicht sagen, weil es oft negativ ausgelegt wird, aber meine Körperhaltung hat sich geändert. Ich begann zu dem zu stehen, was ich bin, und wurde akzeptiert.» Es sei rational, sich auf der Strasse unterwürfig zu verhalten. Wer ganz unten sei, komme damit am weitesten. «Du bekommst die Unter-

WIR TRAGEN DIE VERANTWORTUNG

würfigkeit anerzogen, sie hängt dir unheimlich lange nach und macht dich mehr oder weniger handlungsunfähig. Weil du immer Sorge hast, negativ aufzufallen, bestehst du nicht auf deinem Recht, gibst vielleicht schon vorher auf und verharrst in diesen Mustern», sagt Janita. «Ich konnte auf der Strasse überhaupt nicht weinen, aber ich konnte eins: unecht auf Kommando heulen. Kommt immer gut, gibt immer Geld! Du verlernst wirklich, du selbst zu sein. Diese Person, mich selbst, die musste ich erstmal wiederfinden. Und auch Verlernen braucht Zeit.»

Anderen einen Perspektivenwechsel bieten Inzwischen hat Janita Juvonen Routine darin, über den Alltag wohnungs- und obdachloser Menschen zu berichten, und ist doch immer wieder überrascht, wie gross der Informationsbedarf ist bzw. wie festgefügt die Vorurteile. Sie erzählt geduldig davon, dass Obdachlosigkeit ein Vorher und ein Nachher hat, dass es nicht «die Obdachlosen» gibt, sondern sehr unterschiedliche Schicksale, und dass Drogen und Alkohol häufig Bewältigungsstrategien in der unerträglichen Situation der Obdachlosigkeit sind, nicht eine moralische Schwäche, deren Folge der Absturz ist. Sie erklärt, warum Menschen Notschlafstellen nicht aufsuchen – sie selbst hat es in den Jahren der Obdachlosigkeit nur dreimal getan – und korrigiert das Klischee vom aggressiven Obdachlosen: «Menschen auf der Strasse sind immer sichtbar, immer. Jeder kennt das, zuhause mal laut zu fluchen oder buchstäblich die Wände hochzugehen, aber das bleibt im Schutzraum der eigenen vier Wände.» Auf der Strasse lebe man nicht nur im Dauerstress von Lärm und Licht und Dreck und fortwährender mindestens gefühlter Bedrohung. Es sei auch fast nicht möglich, sich zu entziehen: nicht den Wohlmeinenden und nicht den anderen: «Du kannst nicht einfach die Türe zumachen.» Das klinge banal, bedeute aber alles. Und manchmal rasten dann auch die aus, die eigentlich den ganzen Tag versuchen, möglichst unsichtbar zu sein.

«Du musst das aufschreiben», hat Janita Juvonen oft gehört nach ihren Vorträgen und Touren. Weil man wirklich so wenig weiss über Obdachlosigkeit? Oder weil die Geschichte einer klugen, charismatischen Frau, die fast gestorben wäre auf der Strasse und heute wandert, sich vegan ernährt und in einer langjährigen Partnerschaft lebt so – ja, was eigentlich – entlastend ist?

Janita Juvonen spürt den Zwiespalt. «Ich habe gesagt, von mir gibt es kein zweites ‹Kinder vom Bahnhof Zoo›. Definitiv nicht.» Geschrieben hat sie dennoch. Ein Erklärbuch, eine ausgestreckte Hand, um den Perspektivenwechsel zu vollziehen und über den Schatten der eigenen Vorurteile zu springen. Fast fertig ist es und wartet auf einen Verlag, der etwas anderes sucht als eine Betroffenenbiografie. Nicht so einfach, vermutet sie, aber sie bleibt bei dem Satz vom Anfang: «Meine Geschichte ist hierbei nur wichtig, um zu zeigen, dass ich weiss, wovon ich rede.»

18 Surprise 548/23 Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von BODO /  INTERNATIONAL NETWORK OF STREET PAPERS
EIN LEBEN FÜR EUROPA SIMONE VEIL
EIN FILM VON OLIVIER DAHAN ELSA ZYLBERSTEIN REBECCA MARDER DE LA COMÉDIE-FRANÇAISE
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«Impulsgeber*innen für die Gesellschaft»

Bio grafiearbeit Sybille Roter begleitet Surprise Stadtführer*innen dabei, eine erzählbare Version ihrer Lebensgeschichte zu entwickeln. Das ist Übersetzungsarbeit für die Gesellschaft und Arbeit an sich selbst.

Sybille Roter, auf den sozialen Stadtrundgängen sprechen Menschen über Armut, indem sie ihre Lebensgeschichte erzählen. Gibt es denn nur eine wahre Version einer Biografie?

Jeder Mensch könnte jeden Tag seine eigene Biografie auf andere Weise schildern. Wir erzählen auf den Touren jeweils die «Armutsbiografie»: Es sind biografische Ereignisse, die mit Hintergrundinformationen zum Thema strukturelle Armut verbunden werden. Dazu gehören Selbstreflexion, aber auch gesellschaftliche Dimensionen. Die Stadtführer*innen setzen sich mit Themen wie kultureller Teilhabe, Obdachlosigkeit oder dem Schuldensystem in der Schweiz fachlich auseinander. Es ist entscheidend, das gesellschaftliche System und seine Weichenstellungen zu verstehen, die eine individuelle Biografie letztlich stark prägen.

Ich stelle mir vor, dass sich die Authentizität irgendwann abnutzt, die Erzähler*innen sich weiterentwickeln – auch durch die Arbeit selbst. Was passiert, wenn irgendwann die eigene biografische Erzählung nicht mehr recht passen mag?

Die Stadtführer*innen – und auch ich als Zuhörerin – merken, wenn sie sich mit ihrem Lebensgefühl zu weit von ihrer erzählten Lebensgeschichte entfernen. Beispielsweise tauchen neue Themen auf. Plötzlich geht es nicht mehr so sehr um die Erfahrungen als Obdachlose*r, sondern um den Prozess, aus der Obdachlosigkeit heraus und in den eigenen vier Wänden anzukommen. Das ist ja das vermeintliche Happy End. In Wahrheit setzen sich die Schwierigkeiten dort in neuer Form fort. Viele Probleme, gerade in Zusammenhang mit Schulden, bleiben an den Betroffenen hängen wie eine chronische Krankheit. Von da aus gelangen wir auf eine nächste Ebene und erzählen davon, dass es in der Schweiz fast keine Housing-First-Projekte gibt und weshalb die Türen der Gesellschaft trotz Wohnung oft verschlossen bleiben. Was braucht es, um wirklich ein neues Leben beginnen zu können?

Kommt irgendwann auch der Punkt, an dem man Expert*in für Armutsthemen sein kann, ohne als Betroffene*r ständig seine eigene Biografie erzählen zu müssen?

Surprise hatte einen Stadtführer, der 600 Touren absolviert hatte. Wir merkten beide, dass er sich im Grunde zu stark von seinem früheren Leben entfernt hatte. Er war ein Experte, aber verknüpfte das Thema Armut nicht mehr mit sich selbst. Das Wissen, das er bei Surprise aufgebaut hat, kann er jetzt beim Verein «ATD – Vierte Welt» auf andere Weise einbringen. ATD betreibt angewandte Forschung und erarbeitet Konzepte für die Partizipation von armutsbetroffenen Menschen in der Gesellschaft. Sie wollen die gelebte Erfahrung in den politischen Prozess einbringen.

die Partizipation von Betroffenen in Institutionen – in der Sozialhilfe, der sozialen Arbeit, in Housing-First-Projekten etwa, sodass sie dort ihr Wissen operativ einbringen können nund so auch zur Unterstützung fürs System werden. Betroffene mit Erfahrungswissen und einer begleitenden Ausbildung können wichtige Impulsgeber*innen für die Gesellschaft sein.

Ändert sich damit auch der Blick auf Armutsthemen?

Auf jeden Fall. Ich sehe, dass laufend neue Themen in die Öffentlichkeit getragen werden. Man spürt dies in der Gesellschaft. Zum Beispiel im Bereich Frauenarmut oder sexualisierte Gewalt. Es braucht eine Öffnung in der Gesellschaft, damit wir diese Themen auch unseren Besucher*innengruppen zumuten können. An eine gesellschaftliche Debatte anknüpfen zu können, ist ein wichtiger Schritt.

Trotzdem sind Armutsthemen oft gesellschaftliche Tabus, die mit Scham und Schuld zu tun haben.

SYBILLE ROTER, 61, ist verantwortlich für die Entwicklung der ersten Sozialen Stadtrundgänge in der Schweiz, die Surprise anbietet.

Mir scheint, es gibt immer mehr Bereiche, in denen Armutsbetroffene eine Expertenrolle einnehmen. Stimmt das?

Wir sind oft in Kontakt mit Fachhochschulen und sehen da verstärkt Ansätze dazu, die Expertise von Betroffenen in Lehre und Forschung einzubinden. Oder sie werden als Vermittler*innen eingesetzt, als sogenannte Peers. In der Psychiatrie werden schon länger Betroffene auf diese Weise eingesetzt. Ein wichtiger Schritt wäre auch

Sexuelle Gewalt, Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, Sucht und Schulden sind Themen, die immer stark mit Schuldzuweisungen an die Betroffenen verknüpft waren. Damit stösst man schnell auf Ablehnung. Die Schuldenthematik, die auf vielen unserer Stadtrundgänge zur Sprache kommt, war in der Gesellschaft lange kaum greifbar. Nun fängt plötzlich ein Umdenken an, viele realisieren, dass am Schuldensystem in der Schweiz viele Akteure verdienen – Kreditinstitute etwa am offensichtlichsten. Da ist etwas aufgebrochen. Schulden werden endlich als gesellschaftliches System diskutiert und nicht mehr bloss als persönliches Versagen verstanden.

Auf den Sozialen Stadtrundgängen vermitteln Menschen, die Armut und Ausgrenzung aus eigener Erfahrung kennen, ihre Perspektive auf die Städte Basel, Bern und Zürich. surprise.ngo/Stadtrundgang

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INTERVIEW DIANA FREI
«An eine gesellschaftliche Debatte anknüpfen zu können, ist wichtig.»
FOTO: RUBEN HOLLINGER

Notschlafstellen für alle?

In vielen Schweizer Notschlafstellen werden Einheimische bevorzugt, so eine neue Studie. Das sei ungerecht, aber auch nachvollziehbar, meint Autorin Sabine Furrer Bill.

Sabine Furrer Bill, die Wohnungs- und Obdachlosigkeit in der Schweiz ist marginal, sie betrifft 0,02 Prozent der erwachsenen Bevölkerung. Wieso braucht es dennoch Notschlafstellen?

Sabine Furrer Bill: Weil es immer Menschen gibt, die unter prekären Bedingungen leben und kein Dach über dem Kopf finden. Einige von ihnen sind nur vorübergehend in dieser Lage, andere sind seit Jahren obdachlos. Für sie alle sind Notschlafstellen oft der letzte Ort, wo sie Schutz oder Ruhe finden. Darüber hinaus erfüllen Notschlafstellen eine wichtige gesellschaftspolitische Rolle. Gäbe es sie nicht, müssten diese Leute zum Beispiel in Parks, auf der Strasse oder in Hauseingängen schlafen. Und daran würde sich die dort wohnhafte Bevölkerung sicher stören.

Was umgekehrt bedeutet, dass Notschlafstellen die Obdachlosigkeit unsichtbar machen?

Diese Gefahr besteht, und es ist sicher so, dass gewisse politische Kreise Notschlafstellen für ihr Bild einer «sauberen» Schweiz benutzen. Das ist aber gut so, denn dadurch haben Notschlafstellen einen breit abgestützten Rückhalt in der Bevölkerung. Denn was wäre die Alternative? Obdach- und Wohnungslosigkeit sind oft strukturell bedingt, und diese Strukturen aufzudecken ist wichtig, wenn man das Phänomen bekämpfen will. Das aber können Notschlafstellen nicht leisten. Für die betroffenen Menschen – oder jedenfalls die meisten von ihnen – sind Notschlafstellen jedenfalls die weitaus bessere Alternative, als draussen schlafen zu müssen.

In der Schweiz gibt es zwischen 35 und 40 Notschlafstellen, Sie haben 28 davon empirisch untersucht. Gibt es so etwas wie die typische Notschlafstelle?

Nein, Notschlafstellen sind sehr individuell. Die einen bestehen seit über vierzig Jahren, andere öffnen nur drei Monate im Winter. Manche werden vom Sozialdienst der Stadt betrieben, andere haben eine Anbindung an Kirchen, wieder andere wurzeln in der Jugendbewegung der 1980er-Jahre. Wenn man die Notschlafstellen in der Schweiz dennoch einteilen wollte, so gibt es auf der einen Seite des Spektrums solche, die dem Betreuten Wohnen recht nahe kommen und nur ausgewählte Personen aufnehmen. Auf der anderen Seite des Spektrums bewegen sich Notschlafstellen, die niederschwellig arbeiten und im Prinzip für alle offen sind.

Sie sagen «im Prinzip». Wie sieht es in der Praxis aus?

Niederschwelligkeit als Konzept der Sozialen Arbeit bedeutet ja eigentlich eine Inklusion der Exkludierten, also: Niemand soll ausgeschlossen werden. In der Praxis sind soziale Angebote ohne jede Schwelle aber wohl eine Utopie. Die allermeisten Notschlafstellen haben Hürden.

Trifft es zu, dass während Corona gewisse Menschen in Notschlafstellen bevorzugt behandelt und andere gar nicht erst eingelassen wurden?

Mit Corona wurde die Obdachlosigkeit sichtbarer, weil alle zuhause blieben – ausser diejenigen, die eben kein Zuhause hatten. Einlassregeln gab es aber schon vorher, und es gibt sie noch immer. Von den 28 untersuchten Institutionen gaben lediglich zwei an, sie hätten keine solchen Bestimmungen.

Um welche Regeln handelt es sich dabei?

Vielleicht lohnt es sich, an dieser Stelle zunächst eine Unterschei-

Obdachlosigkeit Nicht erst seit Corona g ibt es Re geln, wer in eine Notschlafstelle darf und wer nicht. Das wirft p raktische Fra gen auf, aber auch ethische.
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INTERVIEW UND FOTO KLAUS PETRUS

dung einzuführen, nämlich jene zwischen Vorgaben, Einlassregeln sowie Kriterien. Vorgaben können durch politischen Druck oder durch die Geldgeber*innen auf die Notschlafstelle wirken. Die jeweilige Notschlafstelle legt dann in einem Regelkatalog fest, wer die Notschlafstelle nutzen darf oder wer in Fällen von Platzmangel vor den anderen bevorzugt wird. Dafür werden Kategorien wie Geschlecht, Alter oder Aufenthaltsstatus gebildet. Nebst diesen Einlassregeln gibt es noch einen Handlungsspielraum für die einzelnen Mitarbeitenden, und dieser wird durch Kriterien bestimmt.

Können Sie ein Beispiel für solche Kriterien nennen?

Angenommen, eine Notschlafstelle legt in den schriftlichen Regeln fest, dass nur Personen aus dem Kanton zur Anspruchsgruppe gehören. Trotzdem kann es sein, dass die Mitarbeitenden abends an der Tür noch weitere Kriterien auf diese Gruppe anwenden und zum Beispiel einer Person den Vorrang geben, die erkrankt ist, oder dass sie eine Person abweisen, die zu stark alkoholisiert ist.

Besteht damit nicht die Gefahr der Willkür?

In gewisser Hinsicht schon. Allerdings muss man sich immer wieder vor Augen führen: Diese Einlassbestimmungen kommen meistens nur dann zum Zuge, wenn zu viele Menschen vor der Tür stehen, es also zu wenig Platz hat.

Zurück zur Frage, welche Kategorien am meisten greifen. Bedürftigkeit oder Krankheit dürften naheliegen.

Die Untersuchung hat etwas anderes aufgezeigt: 20 der 28 Notschlafstellen priorisieren nach Aufenthaltsstatus, die meisten führen die Kategorie «Menschen aus Stadt/Kanton» und grenzen diese von «Ausserkantonalen», «Ausländischen Reisenden» sowie «Sans-Papiers» ab. Nur sehr wenige führen auch andere Einlasskategorien wie Geschlecht, Alter oder Krankheit auf.

Ist die Priorisierung nach Aufenthaltsstatus nicht diskriminierend?

Tatsächlich gibt es in der Schweiz eine Art «Papierismus»: Es kommt sehr darauf an, ob jemand Papiere hat und was drinsteht. Tatsächlich hat die Auswertung gezeigt, dass in fast der Hälfte der untersuchten Notschlafstellen Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus keinen Zutritt haben. Allerdings lässt sich die Priorisierung von ortsansässigen Menschen ein stückweit nachvollziehen.

Inwiefern?

Für mich gibt es hier zwei Ebenen. Die erste ist eine menschliche: Die meisten von uns schauen zunächst zu den «eigenen» Leuten, zur Familie, zu Freunden und Nachbarn. Sie sind uns näher als andere, und Nähe verpflichtet. Die zweite Ebene ist eine soziale: Wer unter prekären Umständen leben muss, ist oft umso mehr auf ein soziales Umfeld angewiesen, und dieses Umfeld ist meistens dort, wo die Person sich aufhält. Für Menschen auf der Durchreise mag es dagegen keine allzu grosse Rolle spielen, ob sie in dieser Notschlafstelle unterkommen oder in einer anderen.

Wird die Kategorie des Aufenthaltsstatus am Ende pragmatisch gewählt – weil sich recht leicht herausfinden lässt, wo eine Person ansässig ist?

Das trifft sicherlich zu. Allerdings fällt auf, dass es einen grossen Unterschied zwischen den Sprachregionen gibt. In der Deutschschweiz wird der Aufenthaltsstatus ungleich mehr gewichtet als in der Romandie, wo auch Kategorien wie Alter und Bedürftigkeit aufgeführt werden. Gleichzeitig kommt es in den Notschlafstellen der Deutschschweiz kaum zu Überlastungen, in der Westschweiz hingegen fast jeden Tag. Ein Grund besteht darin, dass hierzulande über die Hälfte aller von Obdach- und Wohnungslosigkeit Betroffenen Sans-Papiers sind und sich die meisten von ihnen aufgrund von Herkunft und Sprache in der Romandie aufhalten. Die unterschiedliche Einlasspolitik in der Deutsch- und Westschweiz hat in diesem Fall also nichts mit Pragmatismus oder «Ideologie» zu tun, sondern schlicht mit der Sprache sowie der Tatsache, dass die Romandie auf die dort stärker ausgeprägte Obdachlosigkeit reagieren muss.

Dennoch entnehme ich Ihren Aussagen, dass Sie die Einlasspolitik nach Aufenthaltsstatus in Notschlafstellen ungerecht finden. Ich möchte darüber nicht urteilen, sondern nur Tatsachen aufzeigen. In den Medien ist immer wieder davon die Rede, dass ausländische Menschen von Schweizer Notschlafstellen profitieren würden. Das stimmt allerdings nicht. Und bei Notschlafstellen, die ihnen Zutritt gewähren, werden weitere Steuerelemente angewendet, die für sie Hürden bedeuten. Zum Beispiel bezahlen «Einheimische» in manchen Notschlafstellen CHF 6 pro Nacht, alle anderen aber CHF 40. Ungeachtet dessen bin ich allerdings der Meinung, dass es am Ende ohnehin keine gerechte Lösung des Problems gibt. Allenfalls gibt es Ansätze, die gerechter sind als andere.

Wie sehen diese aus? Zum Beispiel könnte man sagen, es solle das Los entscheiden. Alle sind bedürftig und hätten so dieselbe Chance.

Ich denke nicht, dass dies eine gute Lösung wäre, denn die Annahme, alle seien gleichermassen bedürftig, ist sehr theoretisch. In der Realität wird es immer Unterschiede oder Grade geben. Am gerechtesten ist es wohl, wenn man im Sinne des Chancengleichheitsprinzips versucht, die Unterschiede auszugleichen und Schlechtergestellten den Vorrang einzuräumen. Doch wie gesagt, das ist alles ziemlich theoretisch und kaum umsetzbar. In der Praxis liegt die Lösung viel näher.

Nämlich?

Die Obdachlosigkeit hat in der Vergangenheit stetig zugenommen und wird weiter zunehmen. Es braucht daher mehr Notschlafstellen und temporäre Winterangebote, und zwar über die ganze Schweiz verteilt. Hat es genügend Platz, benötigt man keine diskriminierenden Einlassregeln mehr. Es spielt dann keine Rolle, wie alt eine Person ist, ob sie männlich oder weiblich ist, woher sie kommt oder wo sie sich gerade aufhält.

Sabine Furrer Bill, 46, arbeitet seit 2012 in der niederschwelligen Sozialarbeit. 2022 hat sie den Studiengang Soziale Arbeit an der Fachhochschule Bern mit der Arbeit «Triage an der Tür – Die Einlasspraxis in Schweizer Notschlafstellen» abgeschlossen. Die Arbeit wurde im Soziothek-Verlag veröffentlicht und kann dort gratis heruntergeladen werden. soziothek.ch/triage-an-der-tuer

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Wer bekommt wo ein Dach über dem Kopf?

Wie verschiedene Staaten in Europa und den USA Obdachlosigkeit begegnen.

Obdachlosigkeit gefährdet grundsätzliche Menschenrechte wie das Recht auf Leben, auf Gesundheit, auf körperliche Unversehrtheit und auf Menschenwürde. Der Staat ist verpflichtet, diese zu schützen. Sogar ein Recht auf Wohnen ist in den sogenannten sekundären Menschenrechten verankert. Jedoch kommen die Staaten ihrer Verpflichtung auf sehr unterschiedliche Weise nach. Ein Blick auf Europa und die USA.

USA: Ein massives Problem

Die Zahl der Menschen ohne Obdach in den USA steigt: Mehr als eine halbe Million lebten 2022 auf der Strasse. Das sind 34 Prozent mehr als noch 2020. Die USA verfügen über ein dezentral geregeltes System von Notunterkünften, das jede Nacht etwa 354 000 Menschen unterbringt. Immerhin gibt es hier im Gegensatz zu den meisten europäischen Staaten einen Überblick über das Ausmass des Problems. Es bestehen erhebliche Unterschiede zwischen den Bevölkerungsgruppen: Die Wahrscheinlichkeit, dass Familien mit Kindern nicht untergebracht werden, ist am geringsten (zehn Prozent der nicht untergebrachten Personen). Allerdings hatten 50 Prozent der unbegleiteten wohnungslosen Jugendlichen im Jahr 2020 kein Dach über dem Kopf. Alleinstehende tragen ein besonders starkes Risiko, keinen Platz in einer Notunterkunft zu bekommen. Es mangelt an sicheren, barrierefreien Unterkünften oder Übergangswohnungen. Viele Notunterkünfte sind voll oder verweigern Menschen den Zutritt, die mit einer psychischen Erkrankung zu kämpfen haben und/oder an einer Drogenabhängigkeit leiden, die vorbestraft sind, mit einer Behinderung oder chronischen Krankheit leben oder sich als LGBTQIA+ identifizieren – trotz anderslautender Vorschriften, die diese Art der Diskriminierung verbieten. Darüber hinaus werden die Unterkünfte den Bedürfnissen der Menschen oft nicht gerecht. Zudem haben die Auswirkungen der steigenden Obdachlosigkeit auf die Umgebung in vielen Gemeinden die Unterstützung für weitere Investitionen untergraben. Immerhin hat die Regierung Biden die Wohnungslosigkeitskrise auf nationaler Ebene als solche anerkannt und einen strategischen Plan zur Bekämpfung entworfen mit dem Ziel, die Wohnungslosigkeit bis 2025 um 25 Prozent zu reduzieren.

Polen: Öffnung für Auswärtige

Die Notunterkünfte in Polen richten sich grundsätzlich an sogenannte «selbständige Wohnungslose»: Menschen, die selbständig laufen, essen und Körperpflege betreiben können und keine ansteckenden Krankheiten haben. In den Notschlafstellen spielt es seit einer Gesetzesänderung von 2016 allerdings keine Rolle mehr, ob man am entsprechenden Ort gemeldet ist oder mit dem lokalen Sozialhilfesystem kooperiert. 2018 wurde das Angebot ergänzt: Nun gibt es auch Notunterkünfte mit Pflege- und Betreuungsangebot für sogenannte «unselbständige» Obdachlose. Menschen mit einer Drogen- oder Alkoholabhängigkeit jedoch dürfen nur die Wärmestuben besuchen (ausser an sehr kalten Tagen). Und der Zugang zu ganztägig geöffneten Einrichtungen bleibt beschränkt auf Leute, die mit der örtlichen Sozialhilfe kooperieren – es braucht hier eine amtliche Zuweisung. Es bestehen Diskrepanzen zwischen Rechtsanspruch und lokaler Praxis, vor allem bei der Öffnung der Notschlafstellen für Nicht-Einheimische.

Irland: Menschen in normales Wohnen überführen

In Irland stieg die Zahl der von der Wohnraumkrise betroffenen Menschen in den zwei Jahren vor 2018 stark an: um knapp 60 Prozent. Die Regierung reagierte und erhöhte das Budget der Gemeinden für die Bereitstellung entsprechender Auffangangebote von 70 Millionen im Jahr 2016 auf 120 Millionen Euro im Jahr 2018. Geändert hat sich nicht nur die reine Anzahl der Betroffenen, sondern auch, wen es trifft: Immer mehr junge Menschen sind obdachlos, zudem ist das Phänomen vermehrt auch in ländlichen Gegenden zu beobachten. Passende Unterbringungsmöglichkeiten fehlen vor allem für Familien. Da die vorhandenen Notunterkünfte in den Ballungsräumen nicht für Familien geeignet sind, akquirierten die Behörden zusätzlich Hotel- und Gästezimmer. Dies entwickelt sich zu einer längerfristigen Behelfslösung. Das Housing-First-Programm in Dublin ist lediglich auf rund 300 Langzeitobdachlose ausgerichtet. Auf Dauer gelingt es nur mit einem Ausbau an erschwinglichem Wohnraum, Menschen aus der Wohnungslosigkeit wieder in «normales Wohnen» zu überführen, das anerkennt auch der irische Minister für Wohnen.

QUELLEN: ENGELMANN, CLAUDIA / MAHLER, CLAUDIA / FOLLMAR-OTTO, PETRA: VON DER NOTLÖSUNG ZUM DAUERZUSTAND. DEUTSCHES INSTITUT FÜR MENSCHENRECHTE, 2020; WWW.FEANTSA.ORG/DOWNLOAD/ SPRING-2018-FEANTSA-HOMELESS-IN-EUROPE-MAGAZINE3972490471031025956.PDF; «ALL IN: THE FEDERAL STRATEGIC PLAN TO PREVENT AND END HOMELESSNESS»; USICH.GOV/ALL-IN, 2022 22 Surprise 548/23

Deutschland: Unterkunft für unfreiwillig Wohnungslose

In Deutschland sind die Kommunen ordnungsrechtlich verpflichtet, «unfreiwillig obdachlose Personen» unterzubringen. Es gibt keine bundesweit geregelten Mindeststandards, Fachverbände fordern diese seit Langem. Das explizite Recht auf Wohnen, wie es in den sekundären Menschenrechten verankert ist, fehlt im Grundgesetz. Zuständig für die Unterbringung ist jeweils die Gemeinde, in deren Gebiet die Betroffenen sich aufhalten, nicht mehr die Meldegemeinde. Das umfasst neben der Notversorgung auch längerfristige Unterbringung, sofern die Betroffenen sich nicht durch Eigeninitiative selbst eine Unterkunft verschaffen könnten (indem sie bspw. zur Sozialhilfe gingen), und betrifft auch Angehörige aus EU- und Drittstaaten, also auch aus dem Asylwesen. Ein Verweis auf die Rückkehrmöglichkeit bei EU-Bürger*innen ist rechtlich nicht zulässig. Jedoch wird gerade im Falle von EU-Bürger*innen teilweise mit eben diesem Verweis die Unterkunft verweigert.

Praxisberichte und Studien zeigen, dass je nach Gemeinde entweder grundsätzlich Menschen nicht ordnungsrechtlich untergebracht oder bestimmte Gruppen vom Anspruch ausgeschlossen werden. Mangel gibt es vor allem bei Menschen mit besonderen Bedürfnissen wie Frauen, Menschen mit Behinderungen, auch psychischen Erkrankungen, Familien, jungen Wohnungslosen, Abhängigen oder Haustierhalter*innen. Teilweise werde der Zugang auch davon abhängig gemacht, ob die Betroffenen ihren Anspruch auf Sozialleistungen nachweisen können. Eine bundesweite Strategie zur Vermeidung von Wohnungslosigkeit fehlt.

Niederlande: Wer für sich selbst sorgen kann, ist allein

Rund 30 500 Menschen galten 2016 in den Niederlanden als wohnungs- oder obdachlos. Sie hätten dem Gesetz nach ein Recht auf Unterstützung, viele Gemeinden erfüllen dieses Recht allerdings nur unzureichend. In Amsterdam ist beispielsweise die Schwelle für eine Hilfeleistung extrem hoch: Mit bis zu sechs Behördenmitarbeiter*innen müssen Betroffene sprechen, allein um auf eine Warteliste für eine Notunterkunft zu kommen. Der Prozess kann länger als acht Wochen dauern. Die Betroffenen müssen nachweisen, dass sie «nicht selbständig» sind, um Anspruch auf Unterstützung zu haben (also gerade eine gegenteilige Handhabe als in Polen). Vor allem obdachlose Menschen ohne psychische Erkrankungen oder Suchtprobleme haben demnach keinen Anspruch auf Unterstützung durch den Staat. Zudem werden die Betroffenen von den Behörden oft unzureichend über ihre Rechte informiert. Bei einer Untersuchung in 43 Gemeinden kam heraus, dass Obdachlose vor allem aufgrund der strengen Kriterien daran scheitern, überhaupt Hilfe zu beantragen. Dies führt in der Folge oft zu einer weiteren Verschlechterung ihrer Lebenslage. Besonders Menschen, die unverschuldet auf der Strasse gelandet sind, die grundsätzlich aber einigermassen zurechtkommen, werden von den Anlaufstellen mit dem Verweis auf fehlende Ressourcen und Eigenverantwortung zurückgewiesen.

Frankreich: Zentral geregelter Zugang als Nadelöhr

Gesetzlich hat in Frankreich jede*r Obdachlose in einer medizinischen, psychischen oder sozialen Notlage ein Recht auf bedingungslosen Zugang zu einer Notunterkunft. Die Zuweisung erfolgt seit 1997 über die zentrale Hotline 115, die in der Verantwortung der regionalen Verwaltungseinheiten, der Départements, liegt. Wer nicht durchkommt oder eine Absage kassiert, muss erneut anrufen. Seit 2010 erteilen die Einrichtungen selbst keine Einlassbewilligungen mehr. Die Anzahl der Bedürftigen übersteigt die Kapazitäten der Notunterkünfte seit vielen Jahren. 2017 wurden am Stichtag im September nur 36 % der Anrufer*innen untergebracht. Die meisten Notunterkünfte sind nicht auf Familien ausgerichtet, weshalb betroffene Familien oft in Hostels und Hotels eingemietet werden –was zunächst als kurzfristige Lösung gedacht, de facto aber oft längerfristig wird und teuer ist. 2018 blieben am Stichtag im März sogar mehr als die Hälfte aller Anrufer*innen ohne Obdach; dabei sind nicht Durchgekommene und solche, die gar nicht erst anrufen, nicht miteingerechnet. Auch in französischen Asylunterkünften herrscht Platzmangel, weshalb viele Asylsuchende auf die Hotline 115 ausweichen. Abgewiesene Asylsuchende und Menschen ohne Duldung sind dabei besonders vulnerabel: Sie leben zwischen Strassenobdachlosigkeit, Übergangsbehausungen und Notunterkünften – ohne Perspektive auf Änderung. Hieran könnte nur eine offizielle Duldung inkl. Zugang zu Arbeits- und Wohnungsmarkt etwas ändern.

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Verzicht auf Chemo und Spitalbehandlung: Mit dieser Entscheidung wird das Zuhause zum Hauptschauplatz des Films.

Im Sterben spiegelt sich das Leben

Kino Robert Widmer-Demuth hatte Krebs und blickte dem Tod gelassen entgegen. Der Dokumentarfilm «Röbi geht» zeigt, was am Ende wirklich wichtig ist.

37 Jahre hat Robert Widmer-Demuth, genannt Röbi, den von Pfarrer Ernst Sieber gegründeten «Suneboge» geleitet (siehe S. 23), wo er Menschen am Rand der Gesellschaft auch in deren letzten Stunden beistand. Mit 77 Jahren ist Widmer nun selbst unheilbar an Lungenkrebs erkrankt, es bleiben ihm nur noch wenige Monate. Eine Zeit, die er ganz bewusst erleben möchte. Er verzichtet auf Chemotherapie und Bestrahlung und setzt auf palliative Pflege zuhause.

Der Regisseur Christian Labhart begleitet seinen Freund Röbi dabei, wie er Abschied nimmt und annimmt, was sich nicht ändern lässt. Obwohl das Ende auch Schmerzen und ein Schwinden der Kräfte mit sich bringen wird. Immer wieder kommen Freunde und Verwandte zu Besuch und sprechen mit ihm voller Dankbarkeit und Wehmut über gemeinsam Erlebtes. Viele drücken ihre Bewunderung für Widmers Gelassenheit angesichts seiner Diagnose aus und einige werden von ihren Gefühlen überwältigt. Ein Freund erzählt, wie er bei Röbi zuhause zum ersten Mal den Raum mit dem Namen «Bücherwürmli» betrat: ein Zimmer voller Bücher, Figuren, Fotografien. Was bleibt, wenn ein Mensch für immer geht? Haftet noch etwas von seiner Lebensenergie an den Dingen, die er mochte?

Das «Bücherwürmli» gibt darauf zwar keine direkte Antwort, lässt dafür aber erkennen, woher Widmers Akzeptanz kommen könnte: Dieses Zimmer widerspiegelt einen Menschen, der sich vom Leben reich beschenkt fühlt. Das ganze Haus ist erfüllt von

den Spuren eines bunten Familienlebens, das der Sterbende mit seiner grossen Liebe Heidi aufgebaut hat. Ein Leben abseits der bürgerlichen Norm, geprägt von der Vision einer besseren Welt. Tiefgründige Gespräche, grosse Feste, Liebe und Freundschaft machten dieses Leben aus. Und das «Bücherwürmli» zeugt davon. «Du nahmst die Gegenstände in die Hand und jeder Gegenstand und die Geschichten, die du dazu erzählt hast, begannen zu leben. Alles war beseelt, und ich war völlig verzaubert», erinnert sich René, der Freund, wobei ihm beinahe die Stimme versagt. Tröstend und nachdenklich nimmt Widmer seine Hand.

Auch ihm hat vor langer Zeit ein sterbender Mensch die Hand gereicht, ein Mann aus dem «Suneboge». «Er war ein absoluter Choleriker, niemand durfte ihm nahekommen, er war der Unberührbare», erzählt Widmer. Als er an dessen Sterbebett die Hand auf die Decke legte, habe der Mann ihn angeschaut und von sich aus zum ersten Mal «die Distanz unterschritten» – und seine Hand festgehalten. Dann sei er gestorben. «Er hat voll bewusst Abschied genommen», beschreibt Widmer den Moment.

«Röbi geht» handelt vom Tod. Und darüber hinaus ist der feinfühlige Dokumentarfilm eine Anregung herauszufinden, was ein gutes, erfülltes Leben ausmacht. Sodass man irgendwann wie «Röbi» ohne Reue die letzte Reise antreten kann.

geht», Regie: Christian Labhart und Heidi Schmid, Dokumentarfilm, CH 2023, 84 Min. Läuft ab 11. Mai im Kino.

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«Röbi

Wider den Zwang

Institution Die geschichtsträchtige Zürcher Wohnund Arbeitsgemeinschaft Suneboge ging aus Pfarrer Siebers «Obdachlosen-Bunker» hervor.

Der Suneboge war als Anschlusslösung von Pfarrer Ernst Siebers Obdachlosen-Bunker beim Helvetiaplatz entstanden. Im kalten Winter 1962/63, als der Zürichsee zufror und viele die «Seegfrörni» als Volksfest auf Schlittschuhen genossen, eröffnete Pfarrer Sieber den Bunker und brachte dort 67 obdachlose Männer unter – andere Anlaufstellen gab es damals kaum in der Stadt. 1975 wurde der Bunker vom Suneboge abgelöst, der sich als eigenständiger Verein mit professionellem Team reorganisierte und von den Sieber-Werken löste. Auch Robert Widmer-Demuth war damals schon dabei. Und war im besten Sinn ein Unangepasster.

Über die von ihm geleitete Institution Suneboge sagte die damalige Vorsteherin des Sozialdepartements der Stadt Zürich, Monika Stocker, in ihrer Rede zum 25-JahrJubiläum: «Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass wir es im Suneboge mit einer ‹Widerstandsorganisation› zu tun haben.» Sie meinte damit nichts staatsgefährdend Aufrührerisches. Widmer stand mit seinem Team schlicht für menschliche Werte ein. Er lehnte Zwänge als Lösungsansatz ab und anerkannte, dass viele der Bewohner*innen sowieso schon unter den Regeln und Ordnungen der Gesellschaft litten. Er installierte die grösstmögliche Niederschwelligkeit bei der Aufnahme von Neueintretenden und bei der Mitbestimmung im Bewohner*innenrat und an Hausversammlungen. Das Alkoholverbot auf den Zimmern wurde schrittweise abgeschafft – im vollen Bewusstsein, dass das Vorgehen gesellschaftlich schlecht akzeptiert werden würde. Widmer spürte selbst einen gewissen Widerspruch zur fürsorgerischen Rolle der Institution –und hielt diesen aus. In der Überzeugung, dass dies am nachhaltigsten wirke, setzte er mit seinem Team auf professionell durchgeführte Kurse für kontrolliertes Trinken statt auf Zwang, um den Konsum zu reduzieren. Neue Bewohner*innen wurden in der Regel nicht von einem Sozialdienst vermittelt, sondern sie kamen direkt von der Gasse.

Auch heute noch besteht der Suneboge im Zürcher Selnau-Quartier als Wohn- und Arbeitsgemeinschaft für «sozial desintegrierte» und psychisch beeinträchtigte Menschen, viele von ihnen mit Suchterkrankung. Zurzeit leben 44 Personen hier und 34 arbeiten vor Ort an einem geschützten Arbeitsplatz. Dabei wird weniger auf berufliche als auf soziale Integration gesetzt. Dieser Ansatz reflektiert die sich verändernde (Arbeits-)Welt: Während Anfang der Sechzigerjahre auch alkoholabhängige und psychisch beeinträchtige Personen noch Arbeit fanden, gibt es für sie unterdessen praktisch keine Möglichkeiten mehr. Heute arbeiten im Suneboge auch junge Menschen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt nie eine Chance gehabt hätten, sagt Anna Brändle, die die Institution seit 2010 leitet.

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Szenen aus «Röbi geht»: Auf dem Sofa nehmen Freunde für letzte Gespräche Platz – hier ein Suneboge-Bewohner (zweites Bild). Unten: Esssaal in der Wohn- und Arbeitsgemeinschaft, 1979.
FOTOS: ZVG

Veranstaltungen

Zürich

«Frisch und Fein. Exil Zürich 1933», Installation und Ausstellung, bis Sa, 10. Juni, Mi und Fr, 14 bis 18 Uhr, Sa, 13 bis 16 Uhr, Galerie Litar Zürich, Letzistrasse 23. litar.ch

macht nun das Beziehungsnetzwerk des Museums im Bellpark sichtbar und versteht sich als Hommage an all jene, die durch ihre Teilhabe das kulturelle Umfeld entscheidend mitgestalten. DIF

Warth TG

«Gärten der Kartause Ittingen – Zum Nutzen und zur Freude», von Mai bis September täglich 11 bis 18 Uhr, Stiftung Kartause Ittingen. kartause.ch

der touristischen Nutzung und zuletzt dem heutigen Fokus auf Biodiversiät und Nachhaltigkeit.

Die Ausstellung findet im Rahmen des grenzüberschreitenden Projekts «Grüne Fürsten am Bodensee» statt, das vom Schlossgut Arenenberg, der Insel Mainau und Kloster und Schloss Salem iniitiert wurde. Die Gärten in der Kartause Ittingen bilden hier quasi das Gegenstück, weil sie eben nicht das Resultat einer fürstlichen Landschaftsgestaltung sind. DIF

Solothurn

«Ankerpunkt», Gottesdienst mit Gast: Surprise Strassenchor, So, 30. April, 10.30 Uhr, anschliessend Apéro, Kirche St. Niklaus, St. Niklausstrasse 79.

Der 90. Jahrestag der Bücherverbrennungen im Mai 1933 ist Anlass für eine Ausstellung über Zürich als Ort des literarischen Exils. Doch für einmal geht es nicht um bekannte Autor*innen wie Thomas Mann oder Else Lasker-Schüler. Im Mittelpunkt stehen acht Übersetzerinnen: Trude Fein, Fega Frisch, Edith Gradmann-Gernsheim, Anna Katharina Rehmann-Salten, Eva Maria Röder-Kann, Eva Salomonski, Nettie Sutro und Ursula von Wiese. Nie gehört – nie gelesen? So geht es wohl den meisten. Denn viel zu rasch gingen sie vergessen. Die Galerie Litar wird für die Dauer der Ausstellung in eine Exil-Bibliothek verwandelt: Ausgewählte Dokumente geben Einblick in Leben und Schaffen dieser Literaturvermittlerinnen, und mit einer Installation aus Text und Bild erhalten sie raumfüllend die Bedeutung, die ihnen gebührt. Im vielfältigen Rahmenprogramm gibt es Vorträge, Gesprächsrunden, Führungen und eine Veranstaltung zu den Bücherverbrennungen in Kooperation mit dem Strauhof Zürich und dessen Ausstellung «Satanische Verse & verbotene Bücher». DIF

Kriens

«Bellpark Photomat», Projekt von Patrick Blank, bis So, 16. Juli, Mi bis Fr, 14 bis 17 Uhr, Sa und So, 11 bis 17 Uhr, Museum im Bellpark, Luzernerstrasse 21. bellpark.ch

Der Fotoautomat als Kunstwerk. Das Projekt «Bellpark Photomat» des Luzerner Künstlers und Foto-

grafen Patrick Blank adaptiert das Konzept des Schnellfoto-Automaten und bringt damit die Wahrheit auf den Punkt, dass das aktive Umfeld jede kulturelle Institution mitprägt. So wurde der Fotoautomat Kult wegen der Kreativität seiner Nutzer*innen. Anfänglich war der Fotoautomat wohl dazu gedacht, schnell und günstig Passfotos anfertigen zu lassen. Doch er wurde zu dieser magischen Box, in denen vor allem Freundschaften inszeniert und dokumentiert wurden. Blank geht es genau um diesen Kerngedanken – dass die Menschen ein Teil der Kultur werden. Der Künstler setzte die Freund*innen des Museums im Bellpark in Szene: Eine Digitalkamera, Blitzlampen, ein knallroter Hocker, ein enger Bildausschnitt und Silberpapier als Hintergrund gaben das Setting her. Wie bei den alten Fotoautomaten wurden lediglich vier Augenblicke eingefangen, in denen sich die Besucher*innen und Freund*innen des Hauses präsentierten. Die Ausstellung mit den rund 260 auf diese Weise entstandenen Porträts

Wenn sich an der Gestaltung der Dinge ablesen lässt, wie Menschen leben und denken, gefällt uns das immer ganz besonders. Hier haben wir einen solchen Fall, denn in der Kartause Ittingen gab es nie autokratische Herrscherpersönlichkeiten, die Architektur und Gärten als Ausdruck ihrer Macht benutzten, wie es andernorts oft der Fall war. Vielmehr dienten die Gärten auf dem Klostergelände ganz pragmatisch dem Anbau von Nahrungsmitteln und erst in zweiter Linie als Mittel der Selbstdarstellung für die Bewohner*innen. Entsprechend gibt es für die Kartause Ittingen keine gross gedachten Gartenpläne oder visionäre Darstellungen einer reichen Gartenlandschaft innerhalb oder ausserhalb der Klostermauern. Nur wer genauer hinschaut, findet Hinweise darauf, dass die Gestaltung des Aussenraums doch auch ein Mittel war, um das Selbstverständnis der Nutzer*innen nach aussen zu tragen. Dabei überlagern sich mehrere Zeitschichten: die Mönchszeiten mit ihren kontemplativen Kreuzgärten, dann die Jahre der Gutsbesitzerfamilie mit ihren Exotenbäumen und Schafweiden, gefolgt von

Die «Ankerpunkte» sind unkonventionelle Gottesdienste, bei denen Inhalt und Predigt nicht von Pfarrer*innen, sondern von Menschen aus anderen Lebensbereichen gestaltet werden. Sie erzählen davon, was ihnen in ihrem Leben Halt und Vertrauen gibt und woran sie glauben. Aber auch davon, was schwierig ist und wo sie zweifeln. Das sind Themen, zu denen Menschen im Surprise-Umfeld durchaus etwas zu sagen haben, und so erzählt am letzten April-Sonntag die Stadtführerin Lilian Senn aus ihrem Leben. (Wer sie kennt, freut sich auf ihre Radiostimme.) Dazu singt der Surprise Strassenchor. Es soll eine Stunde zum Zuhören werden, zum Reflektieren einer anderen und der eigenen Lebensrealität. Wenn jemand dabei auf neue Ideen kommt, umso besser. Die jeweils eingeladenen Gäste der «Ankerpunkte» kommen aus unterschiedlichen Lebensbereichen –es sind etwa Unternehmer*innen, Menschen mit Migrationsgeschichte, Sozialarbeiter*innen, Politiker*innen oder Wissenschaftler*innen. Nach dem Gottesdienst trifft man sich bei einem kostenlosen Apéro im Gemeindehaus, um weiter ins Gespräch zu kommen. DIF

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BILD (2): PATRICK BLANK, BILD (3): ZVG, BILD(4): KLAUS PETRUS
BILD(1): AYSE YAVAS,

Pörtner in Regensdorf

Surprise-Standort: Zentrum

Einwohner*innen: 18  543

Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 35,4

Sozialhilfequote in Prozent: 4,2

Anzahl Arbeitsplätze: 10 000

Beim Zentrum Regensdorf wurde nicht gekleckert, sondern geklotzt. Es sind grosse, viereckige Gebäude, in denen alles untergebracht ist, was es zum Leben braucht. Immerhin dringt die Sonne durch die Oberlichter der weitläufigen Passagen, die durch den mehrstöckigen Einkaufsklotz führen. Unten ist ein Fitnesscenter mit Saunalandschaft, Bädern und allem, was dazugehört. Das war, als es eröffnet wurde, neu und zog Besucher*innen von weit herum an, sogar aus der Stadt, denn so etwas gab es dort seinerzeit noch nicht, nicht in dieser Grösse.

Gross ist hier alles, die Läden, die drei Hochhäuser, von denen eines vor dem Eingang des Zentrums steht. Daneben ist ein Hotel, das über einen edlen Vorplatz verfügt, auf dem Limousinen vorfahren könnten. Limousinen fahren jedoch keine

vor, aber es tritt eine Gruppe Tourist*innen heraus, bereit, die Gegend zu erkunden. Sie bewegen sich in Richtung des historischen Zentrums, nicht des Einkaufszentrums. Verlässt man Letzteres durch den Hinterausgang, vorbei am China-Restaurant, in dem alte Männer Bier trinken, an der Recyclingstation und dem Automaten, aus dem mittels eines Kranarms Stofftiere geangelt werden können, gelangt man durch eine Drehtür zu einem Hochhaus, vor dem fünf unbeflaggte Fahnenmasten stehen.

Hier wurde, vermutlich in den 1970erJahren, die neue Welt erschaffen, in der zwischen Wohnen, Einkaufen, Fitness nur kurze Strecken im Freien zurückgelegt werden müssen. «Alles unter einem Dach» wird denn auch in der Drehtür geworben, die Mitarbeitenden der beiden

sonst konkurrenzierenden Grossverteiler sitzen harmonisch nebeneinander auf einem roten Würfel. Zu Fuss gehen wurde als bald obsolet betrachtet, dem Auto wurde viel Platz eingeräumt. Inzwischen gibt es auch für Velos Kurz- und Langzeitparkplätze, sauber angeschrieben. Wer weiss, ob diese Zukunft des Vermeidens der Aussenwelt wieder aktuell wird, wenn die Temperaturen dereinst so weit steigen sollten, dass der Aufenthalt im Freien unerträglich wird.

Zurzeit scheint sie noch etwas veraltet, diese Zukunftsvision. Die Gänge sind nicht leer, doch das Publikum ist spärlich. Am Esspunkt sitzen junge Frauen bei Red Bull und Evian und geben sich Fist Bumps. Daneben richtet sich eine vielköpfige Dreigenerationenfamilie mit zwei Kinderwagen ein. Eine Kinderschar vergnügt sich laut kreischend auf dem restauranteigenen Kletterturm, der etwas eingezwängt in der Ecke steht, flankiert von den obligaten fröhlichen Comic-Figuren, mit denen Kindern eine Welt voller Spass und Abenteuer vorgetäuscht wird. Draussen scheint die Sonne, doch die wird hier von niemandem vermisst. Wer sich verläuft, findet sich unverhofft vor ein paar Sesseln, die um ein rundes Tischchen aufgestellt sind. Dies ist das Business Center. Dazu gehört auch ein verschlossenes Sitzungszimmer. Die Frau, die dort mit ihrem Einkaufswagen voller kleiner Sektflaschen Platz genommen hat, scheint aber nicht aus geschäftlichen Gründen vor Ort zu sein.

Irgendwann wird es aber Zeit, das Zentrum zu verlassen und ins Ortszentrum zu wechseln, das mit seiner Kirche und den alten Häusern fast ein wenig künstlich wirkt, nach so viel angejahrter Modernität.

STEPHAN PÖRTNER

Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

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Tour de Suisse

Die 25 positiven Firmen

Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellscha . Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung.

Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit.

Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.

Arbeitssicherheit Zehnder, Zürich

Gemeinnützige Frauen Aarau

Madlen Blösch, Geld & so, Basel

Breite-Apotheke, Basel

Spezialitätenrösterei derka ee, derka ee.ch

Boitel Weine, Fällanden

Farner’s Agrarhandel, Oberstammheim

Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden

Kaiser Software GmbH, Bern

InoSmart Consulting, Reinach BL

Maya-Recordings, Oberstammheim

Scherrer & Partner GmbH, Basel

BODYALARM - time for a massage

EVA näht: www.naehgut.ch

TopPharm Apotheke Paradeplatz

AnyWeb AG, Zürich

Cobra Software AG www.cobrasw.ch

Praxis Dietke Becker

Beat Vogel - Fundraising-Datenbanken, Zürich

InhouseControl AG, Ettingen

Beat Hübscher, Schreiner, Zürich

Yogaloft GmbH, Rapperswil SG

unterwegs GmbH, Aarau

Fäh & Stalder GmbH, Muttenz

Büro Dudler, Raum- & Verkehrsplanung, Biel

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden?

Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei.

Spendenkonto:

IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Surprise, 4051 Basel

Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag

Sie erhalten von uns eine Bestätigung.

Kontakt: Caroline Walpen

Team Marketing, Fundraising & Kommunikation

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA

Das Programm

Einige unserer Verkäufer*innen leben fast ausschliesslich vom He verkauf und verzichten auf Sozialhilfe. Surprise bestärkt sie in ihrer Unabhängigkeit. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkäufer*innen zusätzliche Unterstützung. Sie erhalten ein Abonnement für den Nahverkehr, Ferienzuschlag und eine Grundausstattung an Verkaufskleidung. Zudem können bei nanziellen Notlagen aber auch für Gesundheits- oder Weiterbildungskosten weitere Unterstützungsbeiträge ausgerichtet werden. Die Programmteilnehmer*innen werden von den Sozialarbeiter*innen bei Surprise eng begleitet.

Eine von vielen Geschichten

Der Weg in die Armut führte für Daniel Stutz über die Sucht. Als Jugendlicher rutschte der heute 50-Jährige in die Spielsucht und später in den Konsum harter Drogen. Dank einer Therapie scha e er vor über 10 Jahren den Ausstieg. Geblieben ist dem Zürcher Surprise-Verkäufer ein Schuldenberg.

«Den Weg aus der Sucht habe ich hinter mir, der Weg aus der Armut liegt noch vor mir», beschreibt Daniel seine Situation. SurPlus gibt ihm dabei Rückenwind:

«Es ermöglicht mir hin und wieder Ferien. Ausserdem bedeutet es, auch einmal krank sein zu dürfen – ohne gleich Angst haben zu müssen, die Miete oder Krankenkasse nicht zahlen zu können.»

Die

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Derzeit unterstützt Surprise 27 Verkäufer*innen des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlus-Programm teilzunehmen.

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#545: Pörtner in Büren an der Aare «Ein anderer Preis»

Bei Büren hat Stephan Pörtner sich kurz verhauen: Der Konjunktiv im Einleitungssatz führt in die falsche Richtung. Es gibt in der Schweiz einen vielbeachteten Preis, er heisst «Wakkerpreis» und ehrt Gemeinden für beispielhaften Ortsbildschutz. Er wird seit 1972 verliehen, als französisches Pendant betrachte ich die Auszeichnung «Les Plus Beaux Villages de France», die 1982 gegründet wurde. Tatsächlich gibt es in Frankreich aber einen anderen Preis, dessen Verleihung an gefühltermassen jedem zweiten Dorfeingang vermeldet wird: «Concours des villes et villages fleuris». Vermissten Sie in Büren doch nicht etwa einen solchen Bluemetrögli-Preis? Darauf hat die Schweiz hoffentlich nicht gewartet!

Wir alle sind Surprise

Antw. d. Verf.

Sie haben natürlich recht mit dem Wakkerpreis. Und da ich öfters in Frankreich bin, finde ich diese Ville-Fleuri-Tafeln mit einem, zwei oder drei Blümchen stets erheiternd, vor allem bei den Einsternigen reicht dem Eindruck nach ein Blumentrog auf dem Dorfplatz. Dazu gibt es auch noch die «Plus beaux villages de France», genau an so etwas habe ich gedacht. Es wird wohl irgendwann jemand auf die Idee kommen, auch hierzulande so etwas zu vergeben. Die Motivation dazu in Frankreich ist wohl touristischer Natur und beschert vielleicht dem einen oder anderen Dorfbistro ein paar Touristen. Vielleicht sollte es eher eine Auszeichnung «Hässlichste Dörfer der Schweiz» geben, um Gemeinden zu motivieren, ihre ärgsten Bausünden zu überdenken.

Das Surprise ist inzwischen eine richtig interessante Zeitschrift geworden. Ganz zu Anfang, die aller-allerersten paar Nummern, die ich kaufte, waren etwas kläglich. Damals machte ich wegen der Verkäufer*innen weiter. Aber dann ist es immer besser geworden, und jetzt ist der Inhalt immer sehr lesenswert.

Imp ressum

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Verantwortlich für diese Ausgabe: Diana Frei (dif), Klaus Petrus (kp), Sara Winter Sayilir (win)

Reporterin: Lea Stuber (lea)

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Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Christina Baeriswyl, Dina Hungerbühler, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer

Mitarbeitende dieser Ausgabe

Pablo Bösch, Urs Habegger, Ruben Hollinger, Timo Lenzen, Bastian Pütter, Daniel Sadrowski, Florian Wüstholz Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.

Gestaltung und Bildredaktion

Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik

Druck

AVD Goldach

Papier

Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach

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31200

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Surprise 548/23 29
548/23
STEPHAN PÖRTNER MARGARET PAVLETIC, WÄDENSWIL VENANZ NOBEL, OHNE ORT
#Strassenma
g azin «Immer besser»

«Ich sah keine Zukunft»

«Heute sage ich: Die Schweiz ist meine zweite Heimat. Ich fühle mich sehr wohl hier und schätze besonders das geordnete, geregelte Leben, die Pünktlichkeit. Doch geplant war ein Leben in der Schweiz eigentlich nie. Ich wurde in der sogenannten Süd-Region von Eritrea, in der Nähe der Stadt Mendefera, geboren und wuchs mit acht Geschwistern auf. Meine Familie hatte viele Kühe, Schafe, Ziegen, Hühner und baute Gemüse und Getreide an.

Als ich achtzehn wurde, musste ich in den Militärdienst. Aber das wollte ich auf keinen Fall. Ich versteckte mich und übernachtete monatelang draussen bei den Tieren auf abgelegenen Weiden. Um meine Familie nicht zu gefährden, ging ich schliesslich in eine andere Stadt. Nach einem Jahr fand mich die Militärpolizei und brachte mich in die Kaserne.

Die fünf Jahre im Militärdienst waren schwierig für mich. Besonders schlimm war, dass ich kein Ende und keine Zukunft sah. Ich hatte während der Dienstzeit geheiratet und war Vater einer Tochter geworden. Doch konnte ich Frau und Kind immer nur kurz im Heimaturlaub sehen. Eines Tages konnte ich nicht mehr. Ich flüchtete aus dem Militärdienst, um zunächst nach Äthiopien zu gehen.

Zusammen mit einem anderen Mann wollte ich die Grenze zu Äthiopien überqueren. In der Dunkelheit machten wir uns auf den Weg, wurden jedoch von eritreischen Soldaten entdeckt. Als sie anfingen zu schiessen, lief ich so schnell ich konnte. Eine Kugel verfehlte mich nur knapp, sodass ich noch ihre Wärme an meinem Kopf spürte. Ich lief so lange weiter, bis ich das Gefühl hatte, in Sicherheit zu sein.

Was mit dem anderen Mann passiert ist, weiss ich nicht, ich denke, er wurde festgenommen. Den Rest der Nacht verbrachte ich, um mich vor Hyänen zu schützen, unter einem grossen Stein und überquerte bei Tagesanbruch den Fluss, der die Grenze bildet.

In Äthiopien lebte und arbeitete ich fast zwei Jahre. Ich half Bauern bei der Ernte, um Geld für die weitere Flucht zu verdienen, denn Menschen aus Eritrea können nicht legal in Äthiopien leben. Schliesslich entschied ich mich für die Flucht über den Sudan, Libyen und das Mittelmeer nach Europa.

Bei der Überfahrt hatte ich ein weiteres Mal grosses Glück: Ich sass mit vielen anderen in einem kleinen Boot, und schon nach kurzer Zeit war der Motor kaputt. Hätte es an dem Tag hohe Wellen gehabt und hätte uns nicht ein Helikopter gesehen, der ein italienisches Rettungsschiff alarmierte, wäre ich jetzt nicht hier – hier in der Schweiz mit meiner Frau, unserer Tochter und unseren zwei Söhnen.

Weil mir in Sizilien viele geraten hatten, nicht in Italien zu bleiben, kaufte ich mit dem letzten Geld ein Zugticket in die Schweiz und stellte hier im Sommer 2014 mein Asylgesuch. Vom Bundesasylzentrum Altstätten wurde ich wenig später nach Bern transferiert, in die unterirdische Flüchtlingsunterkunft im Berner Länggass-Quartier. Das Leben dort war nicht einfach, es gab fast täglich Streit. Deshalb war ich froh, als ich von Surprise hörte und schon bald die Tage draussen mit dem Heftverkauf verbringen konnte.

Mittlerweile verkaufe ich seit fast neun Jahren Surprise in Bern am Casinoplatz und seit einigen Monaten auch bei der grossen Migros in Ostermundigen, wo ich mit meiner Familie wohne. Meine Frau und unsere mittlerweile dreizehnjährige Tochter konnten mir zum Glück 2016 im Familiennachzug in die Schweiz folgen, die beiden sechs- und vierjährigen Buben sind hier zur Welt gekommen.

Surprise verkaufe ich heute noch nebenbei, ich arbeite hauptsächlich in einem Altersheim in der Reinigung. Den Kontakt zu den älteren Menschen schätze ich sehr, und ich könnte mir auch vorstellen, in der Pflege zu arbeiten. Doch leider fehlen mir die nötigen Sprachkenntnisse, vor allem die schriftlichen. Aber wer weiss, vielleicht hole ich das irgendwann noch nach.»

30 Surprise 548/23 Surp rise-Porträt
Asmerom Tesfay, 36, verkauft Surprise in Bern und Ostermundigen. Er wünschte sich eine Zukunft mit seiner Familie in Freiheit und riskierte viel dafür. Aufgezeichnet von ISABEL MOSIMANN
FOTO: RUBEN HOLLINGER

DIE KRAFT DER MUSIK KONZERT

Samstag, 13. Mai 2023

um 19.00 Uhr

(Türöffnung 18 Uhr)

Amthausstrasse 7

4143 Dornach

Eintritt frei – Kollekte

Surprise Strassenchor unter der Leitung von Rhea Hindermann www.surprise.ngo

Piano Con Voce – aus Genf

Natalie Anston - Sopran

Inga Feter - Piano

www.pianoconvoce.com

Myriam Hidber Dickinson – Flöte www.missflute.ch

Ein Benefizkonzert für den Surprise Strassenchor

weitere Infos: www.surprise.ngo www.missflute.ch

SURPRISE STRASSENFUSSBALLLIGA 2023

So 21. Mai, 11– 17 Uhr Schützi, Olten

So 11. Juni, 11– 17 Uhr Helvetiaplatz, Zürich

Sa 9. September, 11– 17 Uhr Kaserne, Basel

So 15. Oktober, 11– 17 Uhr Reitschule, Bern

Alle Infos auf

surprise.ngo/strassenfussballl

Unterstützt durch: Surprise ist Partner von:
KOMMVORBEI UND JUBLEMIT!

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