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Internationales Verkäufer*innen-Porträt

«Die Schizophrenie schlich sich heran»

Die Idee, nach Perth auszuwandern, stammte von meinem Vater. Er war bereits als Soldat in Indonesien stationiert gewesen und besuchte damals oft Australien. So kannte er aus seiner Militärzeit noch Leute, die in Perth ­wohnten. Für meinen Vater begann die beste Zeit seines Lebens, er trieb sich mit seinen alten Freunden herum. Doch für meine Mutter war es sehr hart. Sie machte bei Nonnen eine Ausbildung zur Krankenschwester, be­ zahlte die Miete und brachte das Essen auf den Tisch. Meine Mutter sorgte für uns alle. Für mich war sie eine Heilige. Leider starb sie viel zu früh, das war im Jahr 1979. Nach meinem Abitur wollte ich von zuhause weg. Mit einem Freund ging ich nach Melbourne, dort begann ich eine Arbeit als Krankenpfleger. Ich hatte bereits Jahre zuvor einen Job als Krankenpfleger. Meine Mutter nahm mich damals in das Spital mit, in dem sie arbei­ tete, und so erhielt ich eine Anstellung. Dann kam die Schizophrenie. Nicht von heute auf mor­ gen, vielmehr schlich sie sich langsam an mich heran. Und wurde für mich mehr und mehr zu einem ernsthaf­ ten Problem. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Damals gab es noch keine Organisation, die sich um Menschen mit dieser Krankheit kümmerte. Das ging ein paar Jahre so und war nicht einfach. Dann kam ich endlich in psychiatrische Behandlung, ich erhielt Medikamente und es wurde für mich gesorgt. Inzwischen geht es mir besser. Bis heute gehe ich jede Woche zu einem ­Spezialisten, ich kriege wertvolle Ratschläge von ihm, das gibt mir Sicherheit. Inzwischen hatte ich eine Ausbildung zum Koch ab­ solviert und arbeitete in einem italienischen Restaurant. Wir hatten Pizza und Teigwaren auf der Karte. Meine ­Spezialität waren «Gnocchi Parisienne» mit einer be­ sondere Sauce. Die war so gut, dass man nicht genug davon bekommen konnte. Neben meiner Arbeit als 30

FOTO: JAMES BRAUND

«Ich wurde 1957 in Den Haag geboren. An meinem 11. Geburtstag kamen wir in Perth an, der Hauptstadt des australischen Bundesstaates Western Australia – meine Mutter, mein Vater und meine beiden jüngeren Brüder. Ich hatte meine gesamte Grundschulausbildung in ­Holland absolviert. In Australien musste ich allerdings zwei Klassen wiederholen, um die Sprache zu lernen. Zwar hatten wir in Holland neben Deutsch und Franzö­ sisch auch ein wenig Englisch gelernt, doch das reichte nicht. Obschon ich inzwischen schon viele Jahre in Australien lebe, rede ich noch immer Niederländisch.

Kelly kam aus den Niederlanden nach Australien, arbeitete als Krankenpfleger und Koch und verkauft heute The Big Issue Australia in Melbourne.

Koch hatte ich noch drei weitere Jobs: Ich war Kurier bei einem Pizza-Lieferanten, trug Zeitungen aus und arbeitete oft bis in die Nacht in Bars. Irgendwann wurde das alles zu viel für mich. Mein Arzt schrieb mich krank und sagte zu mir: «Nimm dir eine Auszeit.» Das war 2008. Einige Zeit später habe ich bei The Big ­Issue Australia angefangen und das Strassenmagazin verkauft. Der Betrieb startete damals eine grosse ­Werbekampagne. Sie fragten mich, ob ich mitmachen wollte, und plötzlich war ich im ganzen Land auf ­riesigen Plakatwänden zu sehen. Das war grossartiges Erlebnis. Überhaupt ist es für mich sehr wichtig, dass ich The Big Issue verkaufen kann. So kann ich mir gesundes Essen leisten, ab und zu kaufe ich mir sogar ein Buch im Secondhand-Laden. Die Liebe zu den ­Büchern habe ich von meiner Mutter geerbt. Daneben höre ich viel Musik, ich mag Karaoke. Ich habe einen Plattenspieler und ein paar Schallplatten, so kann ich das Singen üben. Auch das tut mir gut. Überhaupt geht es mir heute viel besser, ich achte auf meine Gesundheit und habe meine Krankheit einigermassen im Griff. Jetzt fehlt mir nur noch eine Freundin. Es wäre schön, nicht immer allein zu sein.

Aufgezeichnet von AMY HETHERINGTON Mit freundlicher Genehmigung von THE BIG ISSUE AUSTR ALIA

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