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Strassenmagazin Nr. 519 18. Februar bis 3. März 2022

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Steuern

Hilfe!

Wer seine Steuererklärung nicht ausfüllt, wird bestraft. Das muss nicht sein. Surprise 519/22

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Kultur Kultur

Solidaritätsgeste Solidaritätsgeste

STRASSENSTRASSENCHOR CHOR

CAFÉ CAFÉ SURPRISE SURPRISE

Lebensfreude Lebensfreude Entlastung Entlastung Sozialwerke Sozialwerke

BEGLEITUNG BEGLEITUNG UND UND BERATUNG BERATUNG

Unterstützung Unterstützung

Job Job

STRASSENSTRASSENMAGAZIN MAGAZIN Information Information

SURPRISE WIRKT SURPRISE WIRKT

ZugehörigkeitsZugehörigkeitsgefühl gefühl EntwicklungsEntwicklungsmöglichkeiten möglichkeiten

STRASSENSTRASSENFUSSBALL FUSSBALL

Erlebnis Erlebnis

Expertenrolle Expertenrolle

SOZIALE SOZIALE STADTRUNDSTADTRUNDGÄNGE GÄNGE PerspektivenPerspektivenwechsel wechsel

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, uns ohne staatliche sind aufHinsicht Spenden Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschenfinanzieren in der Schweiz. Unser Angebot Gelder wirkt inund doppelter – und auf den armutsbetroffenen Menschen surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC gewinnorientiert, 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1455 3Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht finanzieren uns ohne1255 staatliche surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Helfen tut gut. Zeit, zuzuhören. Zeit, abzuwarten. Zeit für Rückschläge. Zeit, zu helfen. All das gibt es in der Sozialberatung und -begleitung, die Surprise an seinen drei Standorten in Basel, Bern und Zürich anbietet. Die Verkäufer*innen des Strassenmagazins sowie die Stadtführer*innen, die Spieler*innen des Strassenfussballs und die Chormitglieder erhalten hier nicht nur ihre Hefte, gratis Kaffee oder Internetzugang, sondern wenden sich mit ihren Sorgen und Fragen an die Surprise-Mitarbeiter*innen. Ob bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, bei Schulden, beim Umgang mit Behörden und administrativer Korrespondenz, bei familiären Krisen oder Suchtproblemen – für rund 450 armutsbetroffene Menschen ist diese umfassende und niederschwellige Begleitung eine unentbehrliche Stütze im Alltag.

Surprise hilft individuell und niederschwellig. Spenden Sie heute. Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 surprise.ngo/spenden


TITELBILD: OPAK.CC

Editorial

Schwer zu verstehen Frau Koller wurde alles zu viel: der Mann weg, ­allein mit zwei Kindern, arbeitslos, eine schwere Depression, der Briefkasten voller Rechnungen. Wenn ich mich nicht melde bei den Ämtern, gibt es mich nicht, und wenn es mich nicht gibt, trifft es mich nicht – so dachte sie. Bis das Steueramt sie einschätzte und sie sich ver­ schuldete. Von da an ging es bergab. Der Staat sollte in Fällen wie diesen nicht ­bestrafen, sondern helfen, so meinen Expert*innen. Das Übel bestehe nämlich darin, dass er von den Bürger*innen in Sachen Bürokratie zu viel verlange. Wer überfordert ist, zieht den Kürzeren. Muss das wirklich sein? Wir fragen nach, ab Seite 10. Auch etwas, das nur schwer zu verstehen ist: Vertrauen, welches über Nacht zerbricht, Hass, der um sich greift, ein Nachbar – gestern noch Mensch, heute ein Etwas –, der zum Todfeind wird. Elvis Alic, während des Bosnienkrieges 1992 bis 1995 gefangen in einem serbischen Inter­ nierungslager, sagt: «Ich verspürte einen ­un­vorstellbaren Hass gegenüber Serben.»

4 Aufgelesen 5 Vor Gericht

Noch besteht Hoffnung 5 Was bedeutet eigentlich …?

Steuergerechtigkeit 7 Verkäufer*innenkolumne

Lebendig begraben 6 Moumouni …

... landet fast in Lörrach

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10 Steuern

Hoffnungslos überfordert 16 Bosnien-Herzegowina

Mal Feind, mal Freund

Grund dazu hatte er genug, fürchterlich waren seine Erlebnisse. Begreifen, wie es so weit ­gekommen war, konnte er aber nicht. «Das war auch eine Folge der Kriegspropaganda», versucht er zu erklären. Eine Propaganda, die schlei­ chend um sich griff und nur funktionieren konnte, wenn alles Mitgefühl starb. Elvis Alic hat sich dieses Mitgefühl zurückerobert mit einem simplen Trick, so könnte man meinen: Er hat in seinem Gegenüber – einem serbischen Kumpel – den Menschen wiedererkannt. Dass sie einander getroffen haben, dass sie, ganz buchstäblich, miteinander am selben Ort sein durften, war vielleicht das Wichtigste überhaupt. Auch deswegen bauen Diktator*innen und ­Nationalist*innen Mauern, so hoch sie nur können. Elvis Alic und Sascha, sein serbischer Freund, ­haben die Mauer zwischen ihnen niedergerissen, ab Seite 16.

KL AUS PETRUS

Redaktor

24 Kino

Auf romantisierter Selbstsuche 25 Kino

«Ein Mädchen fragt und sagt nichts» 26 Veranstaltungen 27 Tour de Suisse

28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Porträt

«Die Schizophrenie schlich sich heran»

Pörtner in Zürich Bellevue

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Aufgelesen

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Vernichtet aus Gier «Ich bin ein reisender Fotograf und Dichter. Seit genau 50 Jahren wandere ich durch Brasilien, dieses gesegnete und fruchtbare Land. Ich kämpfe mit Fotos und Worten für ein neues planetarisches Bewusstsein. Für mich ist die Kunst ein Mittel zur Transformation, das Ergebnis einer tiefen inneren Wahrheit, eines Engagements für die Verteidigung des Lebens. Amazonien beherbergt ein Drittel der Tropenwälder auf diesem Planeten und mehr als 20 Prozent der 1,5 Millionen Pflanzen- und Tierarten der Erde. Heute werden fast 90 Prozent des Holzes, das aus den Wäldern gewonnen wird, illegal durch Kahlschlag gewonnen, ohne dass dadurch Steuereinnahmen oder Arbeitsplätze entstehen. Wenn ich zwei- oder dreitausend ­Kilometer am Waldrand entlang fahre, sehe ich nur eine schwarze Rauchwand, den Geruch verbrannter Erde, Rinder, die dort ­grasen, wo einst majestätische Wälder standen, Holzkohleöfen, die Holz verschlingen, wilde Goldminen, die die Erde ausbluten, Sojafarmen, die in Amazonien einmarschieren. Wir lassen die Verödung des grössten wissenschaftlichen Labors unserer Zivilisation zu, noch bevor wir es ausreichend untersucht haben, um seine Geheimnisse zu entdecken. Jeder Baum sollte als moralisches Erbe und als strategisches Gut des Landes betrachtet werden. Schwindelerregende 99 Prozent der brasilianischen Kiefernwälder sind inzwischen verschwunden; dasselbe gilt für 93 Prozent des atlantischen Waldes, 45 Prozent des Cerrado und 17 Prozent des Amazonasgebiets. Angesichts des Klimawandels und des derzeitigen Tempos der Abholzung sagen Wissenschaftler voraus, dass der grosse Wald innerhalb der nächsten zwanzig Jahre abgeholzt sein wird. Die Zeit drängt.» OCAS, SAO PAULO, BRAZIL

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FOTOS: ARAQUÉM ALCÂNTARA

Araquém Alcântara, 71, ist ein Fotograf und Autor aus Brasilien. Der gegenüberliegende Text ist ein Ausschnitt aus seinem «Glaubensbekenntnis», das in dem Fotoband «Leben und Sterben in Amazonien» (2020) erschienen ist.

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Was bedeutet eigentlich …?

Steuergerechtigkeit

Vor Gericht

Noch besteht Hoffnung Unbestritten ist: Ein Mann und die Frau hatten Sex. Recht harten Sex: Er hat sie mit einem Schal gefesselt. Sie zehn, fünfzehn Mal geohrfeigt. Stimmt, sagt der Mann, aber er habe gefragt, ob das okay sei. Sie habe gelächelt. Sie hätten sich megagut verstanden, man habe gekuschelt. Die Frau sagt, sie habe sich weggedreht, den Mann weggedrückt, zwei Mal «stopp» gesagt. Er sei aggressiv und bedrohlich gewesen. Sie habe Angst gehabt, er würde sie erwürgen. Ihre Anwältin verdeutlicht: Der Mann sei nachts in das Zimmer der Frau gekommen, habe sich unvermittelt auf sie gesetzt. Sein Handeln zeuge von Rücksichtlosigkeit und Frauenverachtung. «Komplett gelogen», sagt der Beschuldigte. Sie sei zehn Kilo schwerer als er, kräftiger. Die Fesselung, die Ohrfeigen? Ein Rollenspiel. Dazu habe auch gehört, dass sie sich wehrte. Dass sie ihn danach angezeigt habe, sei dreist. Sie habe sein Vertrauen missbraucht. Seine Verteidigerin sagt: Was im normalen Leben schon kompliziert ist, sei in diesem Fall noch komplizierter. Denn was immer sich zugetragen hat: Es geschah in einer psychiatrischen Klinik. Der 23-Jährige leidet unter Schizophrenie. Bereits auf der Jugendpsychiatrie sei es zu übergriffigem Verhalten gekommen. Er empfiehlt eine stationäre Behandlung – was der Beschuldigten nicht will. Er habe im Gefängnis eingesehen, dass er krank sei. In der «Kiste» habe er Schübe gehabt – und keine Medikamente. Aber: Sie sei auch Patientin, das müsse man beachten. 6

Die Geschädigte leide an einem Borderline-Syndrom, führt seine Verteidigerin aus. Sie habe damals starke Medikamente genommen, vielleicht sei ihre Wahrnehmung verändert gewesen. Vielleicht habe die Frau wirklich Angst gehabt, also machte sie mit. Vielleicht habe sie sich damit abgefunden, dass sie vergewaltigt wird, und es geschehen lassen. Jedenfalls könne nicht sichergestellt werden, dass sich der Beschuldigte über den Willen der Geschädigten hinweggesetzt habe. Überdies habe sie schon früher Dinge dramatisiert. Deshalb habe das Klinikpersonal ihre Meldung nach dem ersten Vorfall nicht ernstgenommen. Der erste Vorfall: Darüber zeigt sich die Staatsanwältin schockiert. Schon Tage vor den nun zu beurteilenden Vorkommnissen meldete die Geschädigte, der Mann sei in ihr Zimmer gekommen, habe sie an die Wand gedrückt und gesagt: «Ich liebe dich.» Das Personal habe ihr keinen Glauben geschenkt. Dies gibt der Sache den fahlen Beigeschmack, dass nicht einfach nur der junge Mann verantwortlich ist für grosses Leid – die Frau wurde nach der Vergewaltigung stark suizidal –, sondern auch andere Faktoren einen Anteil tragen. Für das Gericht steht fest, dass sie den Sex nicht wollte. In ihren Aussagen fänden sich keine besonderen Übertreibungen, vielmehr beschreibe sie eindrücklich, wie sie innerlich kapitulierte, die Situation akzeptierte. Man wünscht dem jungen Mann, dass er dies nun auch tut: Die 24-monatige Freiheitsstrafe muss er nicht im Gefängnis absitzen. Denn damit wäre, so die Richter, wenig erreicht. Stattdessen ordnet das Gericht eine stationäre Behandlung an und hofft, dass er die Chance packt.

Y VONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin

in Zürich.

Mit Steuern finanziert der Staat seine Ausgaben. Damit die Last gerecht unter den Bürger*innen aufgeteilt wird, sieht die Bundesverfassung ein Steuerkonzept vor, das die Umverteilung fördert: progressive Steuersätze. Das heisst: Die geschuldeten Steuern wachsen überpro­ portional mit Einkommen und Vermögen. Steuergerechtigkeit ist damit aber noch nicht erreicht. Das Recht verlangt, dass bei der Berechnung der Steuern nicht nur auf die finanzielle, sondern auch auf die persönliche Situation Rücksicht genommen wird. So gibt es unterschiedliche Steuersätze (für Verheiratete, Alleinlebende, etc.) sowie Sozialabzüge (für Kinder, unterstützungsbedürftige Personen, etc.). Auch wer am Existenzminimum lebt, muss Steuern bezahlen (ausser Beiträge der Sozialhilfe). Das in der Bundesverfassung begründete Recht auf Existenzsicherung darf allerdings nicht verletzt werden. Dies wird mit Steuerabzügen, Freibeträgen und Steuerbefreiungen für bedürftige Menschen erreicht. Die Reichsten bezahlen überproportional viel Steuern. Allerdings wird die Progression an einem gewissen Punkt gestoppt, da eine konfiskato­ rische (enteignende) Besteuerung verboten ist. Einige Kantone locken mit einer «Flat-Rate Tax» Reiche und Unternehmen an. Dies führt zu einem Steuerwettbewerb zwischen den Kantonen. Zudem begünstigt dieser einheitliche Steuersatz auf Einkommen die reichsten Klassen und untergräbt den Grundsatz der Umverteilung des Vermögens. EBA

Quelle: Samuele Vorpe & Kelly Scapozza: Steuerregime. In: Wörterbuch der Schweizer Sozialpolitik. Zürich und Genf, 2020. Surprise 519/22


Verkäufer*innenkolumne

Lebendig begraben Früher war ich Journalistin. Seit einem Tag im Jahr 1993 in ­Somalia kann ich diesen Beruf nicht mehr ausüben. Nur schon wenn ich daran denke, wird mir unwohl. Ich wollte damals über eine Versammlung der Regierungspartei berichten. Damals waren die amerikanischen Besatzungstruppen bereits auf dem Rückzug. An der Versammlung war auch der ehemalige ­Regierungspräsident Mohamed Farah Aidid anwesend, der mit seiner Somalischen Nationalen Allianz militärisch gegen die Uno-Truppen vorgegangen war. Als wir ankamen, war er allerdings schon wieder gegangen.

Ich weiss noch, dass ich mich wunderte, dass man, auch wenn man tot ist, von Ärzten zusammengeflickt wird. Sonst kann ich mich an nichts mehr erinnern. Erst später, nach etwa einem Jahr – damals war ich in einem Krankenhaus in Äthiopien – kam ich langsam wieder zu mir, von da an habe ich wieder Erinnerungen. Trotzdem lässt mich dieses Erlebnis nicht los. Ich habe seither keine Nacht schlafen können, ohne Albträume zu haben. Ich sehe immer wieder die Menschen vor mir, die von den Bomben getötet wurden. Ich habe das Gefühl, begraben zu werden. Ich kann seither nur noch schlafen, wenn ich Schlafmittel nehme. Wahrscheinlich müsste ich eine Therapie machen, aber ich denke immer, ich warte noch, bis meine Kinder alle gross sind. Bis dahin muss ich mich um sie kümmern. Erst dann kann ich mich um mich kümmern.

Anm. d. Red.: Ausnahmesweise veröffentlichen wir diese ­Verkäufer*innen-Kolumne in Absprache mit der Autorin anonym, um die Verfasserin zu schützen. Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die ­­Illustra­tion zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der ­Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.

ILLUSTRATION: NICOLE VÖGELI

Wahrscheinlich weil sich vor dem Gebäude eine Menge Leute eingefunden hatten, wurden wir plötzlich bombardiert. Menschen­ansammlungen wurden als gefährlich eingestuft. Siebzehn Menschen starben, ein Journalist, mit dem ich zusammen­arbeitete, wurde vor meinen Augen in zwei Hälften zerrissen. Ich selber wurde von Bombensplittern getroffen, vor allem am Arm und an der Hüfte, mein Trommelfell wurde zerfetzt. Ich lag unter den Toten und wurde mit anderen in einen Teppich eingewickelt, man fuhr uns zu einer Stelle, an der ein Massengrab ausgehoben werden sollte. Weil es schon dunkel wurde, verschob man die Arbeit auf den nächsten Tag. Inzwischen hatten viele Leute, auch meine Mutter, erfahren, was geschehen war, sie eilten hinzu, um ihre Angehörigen zu suchen. Die erneute M ­ enschenansammlung hatte einen weiteren Bombenangriff zur Folge. Meine Mutter wurde an der Hüfte getroffen und in ein Spital gebracht.

Ich habe die ganze Zeit gedacht, ich sei tot. Am frühen Morgen kam eine Mutter, die ihr Kind bei dem Angriff verloren hatte, und suchte es. Sie rief seinen Namen, und ich versuchte, etwas zu sagen, obwohl ich doch tot war. So wurde sie auf mich aufmerksam und hat gemerkt, dass da noch jemand am Leben ist. Sonst wäre ich lebendig begraben worden. Ich kam in dasselbe Spital wie meine Mutter.

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ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING

Liebsten weiter sehen, meiner Arbeit weiter nachgehen kann, und auch ein ­bisschen, um weiter in Schweizer Supermärkten einkaufen zu können. Ich muss jedes Jahr aufs Neue um ein weiteres Jahr Aufenthaltsbewilligung ­betteln. Letztens gab es mal wieder Komplikationen. Kurz: Wissend, dass ich ­ausreichende Gründe für eine Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz habe, hatte ich aus Frust ein Dokument nicht eingeschickt, das ich von einem anderen Amt aus mir unersichtlichen Gründen und nach ungewöhnlich langer Wartezeit nicht erhalten hatte. Zack! Schon sollte ich nach Lörrach abgeschoben werden. Dann meine Stellungname: Ein fast zehnseitiger Brief, der einem Nacktfoto glich, so sehr musste ich mich aus­ ziehen: über meine Lebensumstände mit Belegen und Bescheinigungen und ­Kontoauszügen und einer grässlichen Schilderung davon, wie gut ich integriert bin. Wortlos kam eine Bewilligung ­zurück, die zwar nicht meiner Tätigkeit entspricht und mir ein Arbeitspensum ­vorschreibt, von dem ich nicht leben könnte, aber ich darf doch nochmal ein Jahr bleiben. Alhamdulillah!

Moumouni …

… landet fast in Lörrach Lörrach ist meine persönliche Hölle. ­Lörrach, oh Schreckliches! Und die Sprache! Die Leute da sprechen so, wie ich es auf keinen Fall tun will: Schweizerdeutsch deutscher Grenzgänger. Und Alemannisch, das klingt so ähnlich. Mein hart antrainiertes Züri-Aargau-Schweizerdeutsch würde beim kleinsten Kontakt vergiftet werden zu einer scheusslichen Brühe aus melodiösem Genuschel. Und das Ganze auf nur 294 Metern über Meer, ich würde ersaufen in diesem Sumpf aus badischer Geselligkeit, Maultaschen und Lörrachigkeit. Lörrach, das klingt wie der gefährliche Schlund der Provinz. (Ganz anders als Zürich, oder?) Einmal, am Tiefpunkt, googelte ich: «Ist Lörrach schön?» Es war der Horror. Die ersten drei Attribute im zuoberst ­erscheinenden Artikel lauteten: «Aufenthaltsqualität, guter Branchenmix in 8

den Geschäften, schöne Fußgängerzone», was sich wohl in das folgende Para­doxon übersetzen lässt: «Hier gibt es nichts, aber Schweizer*innen kommen gerne hierher, wenn sie was brauchen.» So hätte es mir auch ergehen können. Denn beinahe wäre es passiert. «Sehr geehrte Frau Moumouni – Wir beabsichtigen […], Ihre Aufenthaltsbewilligung nicht zu verlängern und Ihnen eine Frist zum Verlassen der Schweiz anzusetzen», begann der Brief vom Migrationsamt, der mir ein verbeamtetes «Ausländer*innen raus» mitteilte. Ich hatte circa drei Wochen Zeit, eine Stellungnahme zu verfassen. In dieser Zeit malte ich mir mein Leben in Lörrach aus. Was hätte ich sonst tun sollen? Ich wäre nach Lörrach gezogen, denn ich habe in der Schweiz meinen Lebensmittelpunkt. Ich wäre in die Hölle gezogen und folglich gependelt, damit ich meine

Es kommen regelmässig Leser*innenReaktionen auf diese Kolumne, in denen es heisst, dass ich zu viel jammere. Schon gut! Ich kann «dann ziehe ich halt nach Lörrach!» sagen – nicht gut mit Trotz und auch nicht mit Stolz, aber wenigstens mit Sicherheit: Mein ­deutscher Pass würde es mir erlauben. Und Lörrach ist gar nicht so schlimm. Viel schlimmer ist, dass ich deutsch kann, sogar Beamtendeutsch verstehe, studiert habe, einen Pass mit Schengenraumzugehörigkeit besitze und arbeite. Wenn ich schon ständig mit meinem Aufenthaltsstatus zu kämpfen habe – was ist dann mit all denen, die diese Privi­­­­­­­ legien nicht haben?

FATIMA MOUMOUNI

wohnt seit ca. 10 Jahren in der Schweiz und unterstützt die Aktion 4/4 – nicht für ihr eigenes verwöhntes Dasein, sondern für ein zeitgemässes Bürgerrecht. aktionvierviertel.ch Surprise 519/22


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SOZIALE STADTRUNDGÄNGE

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Steuern Viele sind mit dem Ausfüllen ihrer Steuererklärung überfordert und werden zu hoch eingeschätzt. Nicht selten folgt ein Schuldenberg. Das könnte verhindert werden.

Das Preisschild der Krise Die Steuererklärung ist eine Art jährliche Prüfung. Wer sie nicht besteht, bezahlt teuer. Warum bestraft der Staat Überforderung? TEXT ANDRES EBERHARD

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ILLUSTRATIONEN OPAK.CC

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Alimenten ihres Ex-Mannes. Sie schaute zu ihren Kindern, aber mehr lag nicht drin. Zehn Jahre lang ignorierte sie die Post vom Steueramt. Für die Krise bezahlte Koller einen hohen Preis. Eigentlich hätte sie in all der Zeit keinen Rappen Steuern zahlen müssen. Denn als Arbeitslose hatte sie kein Einkommen. Weil sie aber keine Steuererklärung einreichte, schickte das Steueramt Jahr für Jahr Rechnungen in Höhe von mehreren tausend Franken. Die Beamt*innen hatten Koller aufgrund ihrer früheren Tätigkeit als Anwalts- und Direktionssekretärin bei der kantonalen Verwaltung eingeschätzt und den Betrag daraufhin schrittweise erhöht. Koller wehrte sich nicht, konnte aber auch nicht bezahlen – sie ignorierte einfach alles. Es folgten Betreibungen, heute sitzt Koller auf einem Schuldenberg im fünfstelligen Bereich – lediglich bestehend aus Steuer- und Krankenkassenschulden. «Ich habe keine Konsumschulden, nur Idiotenschulden», sagt sie. Denn auch die Schulden bei ihrer Krankenversicherung sind unnötig. Hätte Koller eine korrekte Steuererklärung eingereicht, dann hätte sie Anspruch auf Prämienverbilligung gehabt und damit wohl auch keine zusätzlichen Schulden gemacht. Hätte.

Müssten Hasen oder Rehe Steuern bezahlen, dann würden sie wohl einfach davonrennen. Doch Menschen sind nun mal keine Fluchttiere, und das Steueramt würde ohnehin die Verfolgung aufnehmen. Solange Gefahren unsichtbar sind, neigen Menschen eher dazu, sie zu verdrängen: Sie deponieren Briefe auf einer nicht einsehbaren Beige oder gehen gar nicht mehr zum Briefkasten. Dann hoffen sie, dass sich das Problem von selbst erledigt. Was es natürlich nicht tut. Dafür nimmt der Druck mit jedem Tag und jedem ungeöffneten Brief zu. Vor allem Menschen in psychischen Krisen haben Mühe, aus diesem Teufelskreis herauszufinden. «Ich war wie erstarrt», erzählt Erika Koller*, eine zweifache Mutter, die vor zehn Jahren eine schwere Depression durchlitt. «Ich konnte nichts mehr erledigen.» Sie bezahlte ihre Rechnungen nicht mehr, worauf ihr mehrmals der Strom abgestellt wurde. Auch die Briefe vom Steueramt legte sie ungeöffnet beiseite. «Ich hatte furchtbare Angst, dass mich die Steuerverwaltung ausfragt, wovon ich lebe», sagt sie. «Die werden sich irgendwas zusammenreimen. Solange ich mich nicht melde, gibt es mich quasi gar nicht. Wenn ich die Deklaration ausfülle, bin ich auf einmal wieder existent. Davor fürchtete ich mich.» Koller schämte sich. Sie war zu dem Zeitpunkt arbeitslos, lebte von Erspartem und den Surprise 519/22

Mangelnder politischer Wille Jürg Gschwend ist Leiter der Schuldenberatungsstelle Plusminus in Basel. Fast täglich kommen Menschen bei ihm vorbei, denen es ähnlich geht wie Erika Koller. Alleine in Basel füllen jährlich 5600 Menschen ihre Steuererklärung nicht aus, 8000 weitere reagieren erst auf die zweite Mahnung. «Die allermeisten sind nicht faul oder renitent, sondern schlichtweg überfordert», sagt Gschwend. Das deckt sich mit den Erkenntnissen einer Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz: Grund für das Nichtausfüllen ist demnach häufig eine allgemeine Lebenskrise, etwa nach einer Trennung, einem Stellenverlust oder verursacht durch gesundheitliche, häufig psychische Probleme. Als weitere Gruppe der Nicht-Einreicher*innen identifiziert die Studie Personen, die von den buchhalterischen Anforderungen überfordert sind. Die Schweiz ist ein Sonderfall. In anderen Ländern ist es üblich, dass die Steuern direkt vom Lohn abgezogen werden. Hierzulande muss jede*r eine Steuererklärung ausfüllen. Wer es nicht tut wie Erika Koller, bezahlt dafür teuer. Gschwend kritisiert: «Wir müssen von dieser erzieherischen Haltung wegkommen. Es gibt einfach Menschen, die es nicht schaffen, die Steuererklärung auszufüllen.» Am besten fände es der Schuldenberater, wenn das Ausfüllen der Steuererklärung freiwillig würde. Die Quellenbesteuerung, wie sie heute nur bei Ausländer*innen mit einer Aufenthaltsbewilligung B angewandt wird, könnte dann zum Regelfall werden. Gschwend macht sich aber keine Illusionen. Für einen solchen Systemwechsel braucht es eine Anpassung im Bundesgesetz. Viele Vorstösse in den letzten Jahren scheiterten, der politische Wille ist nicht vorhanden. Es wird an die Eigenverantwortung appelliert. «Die Steuererklärung ist in der Schweiz eine Art heilige Pflicht», sagt er. Gschwend lotet derweil andere Wege aus, um die Situation für Betroffene zu verbessern. Zusammen mit sozialen Institutionen des Kantons hat Plusminus das Pilotprojekt «Mir hälfe» lanciert. Dabei geht es darum, Direktbetroffenen beim Ausfüllen der Steuererklärung zu helfen, sie zu beraten oder mit der Steuerbehörde zu vermitteln. Ziel ist aber auch eine Veränderung auf struktureller Ebene. Konkret sollen die amtlichen Einschätzungen präziser werden. Gschwend ist überzeugt, dass damit Fälle wie jener 11


von Erika Koller vermieden werden könnten. Dafür braucht es allerdings die Mithilfe des Steueramts. Entsprechende Gespräche laufen (siehe Seite 13). Wie eklatant die Fehleinschätzungen des Steueramts sein können, zeigt auch das Beispiel von Mauro Gallati*. Den Mittfünfziger traf die Krise, als Ende 2019 sein Vater erkrankte. «Das warf mich komplett aus der Bahn.» Gallati pflegte ihn mehrere Monate lang, daneben plagten ihn Zukunftsängste. Schon länger hatte er mit dem Gedanken gespielt, beruflich umzusatteln, doch fehlten ihm die nötigen Qualifikationen. Gallati war selbständig, führte eine kleine Firma und war mit Gästen im Ausland unterwegs. Als Corona kam und er nicht mehr reisen konnte, musste er zuhause bleiben. «Ich fiel in ein tiefes Loch. Acht Monate lang war ich in der Vollkrise», sagt er. Just als sein Kontostand auf null war, bekam er Post vom Steueramt: die amtliche Einschätzung und einen Einzahlungsschein über 8500 Franken. Dabei hatte er als Geringverdiener zuvor nie mehr als 1000 Franken Steuern bezahlt. Gallati ist aber auch ein Beispiel dafür, wie verhindert werden kann, dass jemand aufgrund einer Krise in die Schuldenspirale gelangt. Denn im Kanton Basel-Stadt ist es möglich, ein Gesuch um Steuererlass einzureichen. Einzige Bedingung ist, dass noch keine Betreibung vorliegt. In anderen Kantonen geht das nicht: Wer dort eingeschätzt wird und die Einsprachefrist von 30 Tagen verpasst, schuldet den vom Steueramt geschätzten Betrag. Zu Ungunsten der Steuerzahlenden Ein solches Gesuch stellte Gallati. Die hohe Rechnung des Steueramts habe ihn aus seinem Delirium aufgeschreckt, erzählt er. «Sie war der Auslöser, dass ich mir Hilfe holte.» Er wandte sich an Plusminus, ausserdem half ihm sein Bruder dabei, die Steuererklärung nachzureichen. Gallatis Gesuch wurde bewilligt, am Ende bezahlte er nur jene Steuern, die seinem tatsächlichen Einkommen aus dieser Zeit entsprachen. «Die Erleichterung war so gross, dass ich dachte, ich könne fliegen», so Gallati. Letztlich half ihm dieser Erfolg auch, über seine psychische Krise hinwegzukommen. «Heute bin ich zu 80 Prozent der Alte», sagt er. Zwar dauerte es, bis er den Sprung zurück ins Arbeitsleben schaffte; als gering ausgebildeter Ü50er schrieb er Hunderte von Bewerbungen, bis es schliesslich mit einer Teilzeitstelle klappte. Daneben arbeitet er auf Abruf. «Da ich alleinstehend bin, komme ich über die Runden», sagt er. Auch Erika Koller geht es heute besser, selbst wenn sie nach wie vor hohe Schulden hat. Nach mehr als zehn Jahren reichte sie letztes Jahr erstmals wieder eine Steuererklärung ein. «Diese Last loszuwerden, eine Sorge weniger zu haben, das war ein riesiges Glücksgefühl», sagt sie. Ihr gelang die Kehrtwende durch Druck und Hilfe von aussen: Da ihr das Geld ausgegangen war, hatte sie sich auf dem Sozialamt gemeldet. Und eine Bekannte machte sie auf das Projekt von Plusminus aufmerksam. Gerne würde sich Erika Koller ins Berufsleben zurückkämpfen, doch zunächst muss sie sich um andere Probleme kümmern. Sie braucht für sich und die Kinder eine neue Wohnung. Die jetzige befindet sich in einem Haus, das demnächst abgerissen werden soll. Mit der Pflicht zur Steuererklärung überträgt die Schweiz ihren Bürger*innen viel Verantwortung. Dass es vor allem Menschen in einer Krise sind, welche die Steuererklärung nicht einreichen, sollte hellhörig machen. Denn wenn gerade diese Menschen systematisch zu hoch eingeschätzt werden, bedeutet dies, dass der Staat Überforderung bestraft. «Die Steuerämter üben ihr Ermes12

sen bei der Einschätzung tendenziell zu Ungunsten der Steuerzahler*innen aus», sagt Schuldenforscher Christoph Mattes von der Fachhochschule Nordwestschweiz. Dies auch, weil sie dabei oft von einem gleichbleibenden Einkommen ausgehen. «Es gäbe aber gute Gründe anzunehmen, dass es jemandem wirtschaftlich schlechter geht, wenn er oder sie die Steuererklärung nicht mehr ausfüllt.» Dass die Steuerbehörden bei der Einschätzung grosszügig aufrunden, hat damit zu tun, dass sie von Gesetzes wegen sicherstellen müssen, dass nicht schlechtergestellt wird, wer seine Steuern korrekt deklariert. Sie achten also darauf, dass niemand zu tiefe Steuern bezahlt. Doch müssen Behörden nicht auch dafür sorgen, dass Bürger*innen nicht zu hohe Steuern bezahlen - indem sie auf berechtigte Abzüge aufmerksam machen? Diese Frage warf Carlo Knöpfel kürzlich in einer Surprise-Kolumne auf. Der Sozialwissenschaftler ist der Meinung, dass der Staat auch eine Bringschuld trägt (siehe Interview, Seite 14). Dabei geht es um die grundsätzliche Frage nach den Rechten und Pflichten des Staates. Sie stellt sich nicht nur bei den Steuern, sondern auch bei den Sozialleistungen: Einerseits unternimmt der Staat grosse Anstrengungen sicherzustellen, dass nicht zu viel Sozialhilfe oder IV bezogen wird. Umgekehrt aber schiebt er die Verantwortung von sich, ob jene Unterstützung erhalten, die zu einer Sozialleistung berechtigt sind. Wer keinen Antrag stellt, geht in aller Regel leer aus. Die Stadt Bern versucht, dieser Bringschuld bei gewissen Sozialleistungen nachzukommen (siehe Seite 15). Und in Basel überlegt sich Finanzdirektorin Tanja Soland, ob ihre Angestellten im Steueramt all jene persönlich anrufen sollten, die keine Steuererklärung einreichen (siehe Seite 13). Schweizweit sind solche Versuche der Behörden, den Ärmsten und Überforderten unter die Arme zu greifen, Ausnahmen. Wenn die Abschaffung der Steuererklärungspflicht in Bundesbern zur Diskussion steht, dann meistens aus anderen, administrativen Gründen. *Namen geändert

Wie wird eingeschätzt? Wer trotz zwei Mahnungen keine Steuererklärung einreicht, wird amtlich eingeschätzt. Darin sind die Behörden relativ frei. Im Bundesgesetz steht dazu, dass die Behörde die Veranlagung nach «pflichtgemässem Ermessen» vornimmt. Sie kann dazu «Erfahrungszahlen, Vermögensentwicklung und Lebensaufwand» des oder der Steuerpflichtigen berücksichtigen. Dazu gehören Vorjahresdaten oder auch Lohnmeldungen des Arbeitgebers. Das Ermessen stützt sich zwangsläufig auf Vermutungen. Fachleute stellen fest, dass Behörden häufig Jahr für Jahr einen Zuschlag von zum Beispiel 10 Prozent draufschlagen – wohl zur Sicherheit, dass amtliche Einschätzungen nicht zur Steueroptimierung ausgenutzt werden. Nach einer Einschätzung haben Betroffene 30 Tage Zeit, um Einsprache zu erheben. Läuft diese Frist ab, ist die Steuer geschuldet. In den meisten Kantonen gibt es danach keine Möglichkeiten mehr auf einen Steuererlass. In Basel-Stadt kann einmalig ein Gesuch um Teilerlass gestellt werden. Sobald das Steueramt eine Forderung betreibt, ist es auch dafür zu spät. EBA

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Steueramt am Telefon Die Basler Steuerbehörden wollen Nichtzahler*innen anrufen. Aber nicht, um Druck zu machen.

Wer seine Steuererklärung nicht einreicht, wird häufig zu hoch eingeschätzt. Dies wohl darum, weil es tatsächlich Menschen geben soll, die darauf pokern, dadurch weniger zahlen zu müssen. Im Gesetz ist allerdings festgeschrieben, dass nicht höher besteuert werden darf, wer seine Steuern korrekt deklariert. «Es gibt schon auch Steuerzahler*innen mit hohem Einkommen, welche die Steuererklärung zunächst nicht einreichen und mal schauen, was passiert», sagt Tanja Soland, die für die Finanzen zuständige Regierungsrätin im Kanton Basel-Stadt. Nach einer zu hohen Einschätzung würden diese innerhalb der 30-tägigen Einsprachefrist sofort alle Unterlagen einreichen. Es handle sich hier aber um eine Minderheit, räumt Soland ein. Weitaus mehr Menschen reichen ihre Steuererklärung nicht ein, weil sie in einer Lebenskrise stecken oder sonstwie überfordert sind. Diesen Schluss legt eine Untersuchung der Fachhochschule Nordwestschweiz nahe. Werden diese Menschen zu hoch eingeschätzt, könne sich die Krise wegen Steuerschulden noch verschärfen, weiss Jürg Gschwend, Leiter der Schuldenberatungsstelle Plusminus in Basel. «Viele gelangen wegen unbezahlter Steuern in eine Schuldenspirale.» Aber auch die Steuerbehörde ist an einem Rückgang der amtlichen Einschätzungen interessiert, wie Soland sagt. «Einschätzungen generieren viel Aufwand. Zudem zahlt ein Teil der Personen erfahrungsgemäss selbst im Fall einer Betreibung nicht.» Um die Situation zu verbessern, treffen sich Gschwend und Soland zu Gesprächen. Gschwend hat zwei Vorschläge eingebracht. Erstens: Die Steuerverwaltung Basel-Stadt soll bei der Steuerveranlagung die Daten der Sozialhilfe nutzen. Damit könnte verhindert werden, dass Sozialhilfeempfänger*innen Steuerschulden anhäufen. Bezüger*innen müssen eine Steuererklärung einreichen. Tun sie das nicht und werden eingeschätzt, schulden sie die Steuern trotzdem. Gschwends zweiter Vorschlag zielt darauf ab, amtliche Einschätzungen zu verhindern. Und zwar, indem Betroffene direkt kontaktiert werden. Ihm schwebt vor, dass das Steueramt im zweiten Mahnschreiben auf die Hilfsangebote hinweist. Etwa 13 000 zweite Mahnungen werden in der Stadt Basel pro Jahr verschickt, davon werden rund 5600 Personen amtlich eingeschätzt – die Zahl ist seit Jahren konstant. Analysen zeigen, dass die meisten später betrieben werden: rund 70 Prozent waren es im Jahr 2013. Die Basler Finanzvorsteherin Soland begrüsst den Vorschlag zum Datenaustausch zwischen Sozial- und Steueramt. Eine Arbeitsgruppe aus beiden Ämtern prüfe derzeit Details. Rechtlich spreche nichts dagegen. Bei der Frage, wie man die Menschen dazu bringt, mit dem Steueramt oder einer Beratungsstelle in Kontakt zu treten, schwebt Soland aber anderes vor. «Wir könnten sie alle telefonisch kontaktieren.» Und zwar nicht, um Druck zu machen, die Rechnung zu begleichen, wie sie betont. «Sondern um die Gründe zu verstehen, warum sie ihre Steuern nicht deklarieren.» Ob die Kontaktaufnahme nach der ersten oder erst nach der zweiten Mahnung sinnvoller ist, werde derzeit noch geprüft. EBA Surprise 519/22

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«In der Schule vernachlässigt» Für Sozialwissenschaftler Carlo Knöpfel überträgt der Staat seinen Bürger*innen zu viel Verantwortung und vermittelt zu wenig Wissen. Das Resultat ist Überforderung. INTERVIEW ANDRES EBERHARD

schränkungen, Arbeitslosigkeit, Schulden, Trennung, Wohnungsverlust und so weiter. Die Steuererklärung bleibt dann liegen. Oft versteht er oder sie das System auch ganz grundsätzlich nicht. Beides sind Zeichen von Überforderung.

Carlo Knöpfel, wer seine Steuererklärung nicht ausfüllt, wird häufig zu hoch eingeschätzt. Selber schuld? Carlo Knöpfel: Nein. Der Staat steht nicht nur in der Pflicht, das Geld einzufordern. Er muss auch dafür sorgen, dass die Beträge stimmen, indem er seine Bürger*innen aktiv auf ihre Rechte hinweist. Anders gesagt: Er trägt auch eine Bringschuld.

Was ist zu tun? Das Wissen über den Sozial- und Steuerstaat gehört in die Schule. Alle zwischen 16 und 18 Jahren sollten schon einmal eine Steuererklärung gesehen haben. Doch das Fach Staatskunde wurde abgeschafft. Heute vernachlässigt es der Staat über weite Strecken, Wissen über sich selber im Rahmen der Schulbildung zu vermitteln. Selbst im Gymnasium ist es Zufall, ob Lehrpersonen das Thema aufgreifen. Dabei ist das enorm wichtig, denn niemand sagt dir Bescheid, wenn du Anspruch auf staatliche Leistungen wie Stipendien, Sozialhilfe oder Prämienverbilligung hast. Sogar für die AHV-Rente muss man selbst einen Antrag stellen.

Die nimmt er nicht wahr. Bei den Steuern nicht. Ich kenne Menschen, die mir weinend erzählten, wie sie eine Steuerrechnung über 300 oder 400 Franken bekamen. Dies, obwohl sie so wenig verdienten, dass sie gar keine Steuern hätten zahlen müssen. Der Grund: Sie schickten den Steuerbehörden nur den Lohnausweis, ohne irgendwelche Abzüge zu machen. Sie wussten nicht, dass man in vielen Kantonen ab 1 Franken Einkommen Steuern zahlt. Den Steuerbehörden ist das egal, sie stellen eine Rechnung. Und das, obschon sie ja sehen, wenn jemand die Formulare nicht korrekt ausgefüllt hat und eigentlich keine Steuern bezahlen müsste.

Warum ist Staatskunde nicht Teil des Lehrplans? Heute stehen Leistungsziele im Vordergrund, also Kompetenzen, die man in der Berufswelt braucht: Sprachen, Mathe, Physik. Ich finde aber, wir sollten von der Schule auch erwarten dürfen, dass sie einen Beitrag dazu leistet, die jungen Menschen an die Gesellschaft heranzuführen, sodass diese ihre Aufgabe als kritische Staatsbürger wahrnehmen kön-

Sind andere Länder solidarischer? Die Perspektive in der Schweiz ist stark auf das Individuum gerichtet und nicht auf die Gemeinschaft. Zum Vergleich: In Deutschland steht in der Verfassung, dass die Familie als Zelle der Gesellschaft besonderer Schutz bedarf. Hierzulande gibt es nur Individuum und Staat, die Bundesverfassung regelt das Verhältnis. John F. Kennedys berühmtes Zitat «Frag nicht, was der Staat für dich tun kann, sondern was du für den Staat tun kannst» steht in Artikel 6 der Bundesverfassung praktisch eins zu eins. Das ist Ausdruck unseres liberalen Denkens. Zurück zu den Steuern. Was ist so schwer daran, sie korrekt zu deklarieren? Wer die Steuererklärung nicht einreicht, hat häufig andere und wichtigere Probleme am Hals: gesundheitliche Ein14

FOTO: ZVG

Warum sind Steuerbeamt*innen so unbarmherzig? Das wird von ihnen verlangt. Eigenverantwortung gehört quasi zur DNA der Schweiz, sie ist in Artikel 6 der Bundesverfassung festgehalten. Ganz anders ihr Gegenpart, die Solidarität. Von ihr wird lediglich in der Präambel der Verfassung gesprochen. Doch es braucht sie genauso, damit die Gesellschaft funktioniert. Die Sozialversicherungen sind Ausdruck davon.

«Es braucht Solidarität, damit die Gesellschaft funktioniert.» PROF. DR . CARLO KNÖPFEL

ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz. Er schreibt regelmässig für Surprise die Kolumne «Sozialzahl». Surprise 519/22


nen. Die Steuererklärung ist da nur ein Beispiel. Abstimmen ein weiteres. Hierzu eine persönliche Anekdote: Als mein Gottemeitli 18 Jahre alt wurde, lud ich sie zu einem Städtetrip nach Prag ein. Im Flugzeug sagte sie mir, dass ich ihr noch bei zwei Dingen helfen müsse. Zum einen hatte sie das Stimmcouvert dabei. Zum anderen die Steuererklärung. Und wenn weder der Götti noch sonst jemand in der Familie helfen kann? Es gibt junge Menschen, die eignen sich das Wissen trotzdem an, über ihre Peers, also ihre Freunde. Der Staat setzt darauf, dass das Wissen über den Staat in den Familien oder sonstwo vermittelt wird. Doch das passiert nicht überall. Das hat zum Beispiel zur Folge, dass viele bei Referenden falsch abstimmen, weil sie Ja statt Nein ankreuzen oder umgekehrt. Das ist mit Studien belegt. Absurderweise spielt das aber keine so grosse Rolle, weil sich die falschen Stimmen oftmals gegenseitig aufheben. Bei den Steuern sind die Folgen gravierender: Menschen können sich überschulden. Dann geraten sie in einen Teufelskreis, aus dem sie nicht mehr herauskommen. Und sie ziehen oft ihre Familie in die Schuldenspirale hinein: die soziale Vererbung von Armut wird damit vorgespurt. Sie plädieren also für mehr Staat. Halt! Mich kribbelt es, wenn es heisst, der Staat soll mir sagen, was ich tun soll. Aber zwischen Staat und Individuum gibt es auch noch andere Formen der Gemeinschaft. Dazu gehören neben Schulen und Familie auch Angebote aus der Zivilgesellschaft. Der Staat kann den Bedarf definieren und dann Beratungsstellen unterstützen. Im Gegenzug erhalten diese einen Leistungsauftrag. Viele Beratungsstellen klagen darüber, dass sie die Betroffenen mit ihrem Beratungsangebot gar nicht erreichen. Das ist ein grosses Problem und wird bislang zu wenig beachtet. Ein Büro aufmachen, ein paar Flyer verteilen und dann warten, bis die Leute kommen, das funktioniert erfahrungsgemäss schlecht. Aber auch in der konkreten Beratung muss die Soziale Arbeit sich selbst hinterfragen. Eines ihrer zentralen Mottos lautet «Hilfe zur Selbsthilfe». Da ist der Appell zur Eigenverantwortung nicht mehr weit weg. Die Soziale Arbeit läuft damit Gefahr, quasi das Weltbild des liberalen Staates zu reproduzieren.

Bern sucht arme Rentner*innen Nur wenige wissen von den Betreuungs­ gutsprachen, die die Stadt anbietet. Wie bei den Steuern könnte der Staat auch bei Sozialleistungen eine aktivere Rolle einnehmen. So führte die Stadt Bern 2019 sogenannte Betreuungsgutsprachen für ärmere AHV-Rentner*innen ein. Sie beteiligt sich finanziell an Unterstützungen im Alltag (z.B. Notrufsysteme, Haushalthilfen, Mahlzeitendienste). Das Problem ist, dass nur wenige davon wissen. Darum sucht die Stadt aktiv nach Berechtigten: mit Flyern, Inseraten in Quartierzeitungen, Info-Veranstaltungen und Mund-zu-Mund-Propaganda über Netzwerke und Nachbarschaftshilfe. Trotz der Anstrengungen wurden bislang «nur» 116 Gutsprachen getätigt. Weil das Alters- und Versicherungsamt wegen Datenschutzbestimmungen nicht auf die Daten des Steueramts zugreifen darf, kann auch nicht systematisch geprüft werden, wer Anspruch auf die Sozialleistung hat. «Ich bin der Ansicht, dass der Staat eine Informationspflicht hat», sagt die in der Berner Regierung fürs Soziale zuständige Gemeinderätin Franziska Teuscher (Grüne). «Wir haben in der Schweiz ein gutes soziales Sicherungssystem. Es ist Aufgabe des Staates, jene darauf hinzuweisen, die ein Anrecht auf eine Leistung haben.» Ob sie oder er eine Leistung beanspruchen möchte, müsse jede*r selber entscheiden. «Denn in unserem System kann das leider auch mit Nachteilen verbunden sein. Zum Beispiel gefährden Ausländer*innen mit einer Aufenthaltsbewilligung ihren Status, wenn sie Sozialhilfe beziehen.» Bei Leistungen, die alle betreffen, wie die Prämienverbilligung, erachtet Teuscher eine Automatisierung hingegen für sinnvoll. Die Betreuungsgutsprachen seien eine Möglichkeit, wie Senior*innen mit kleinem Budget vonseiten der Gemeinde unterstützt werden könnten, so Teuscher. Eine gute Versicherungslösung auf nationaler Ebene sei aber dennoch zwingend. «Alle Menschen in der Schweiz haben ein Anrecht auf gute Betreuung und Pflege im Alter.» EBA

Was raten Sie? Beratungsstellen müssen mobiler werden, es braucht mehr aufsuchende Arbeit. Ausserdem gibt es zum Beispiel in der Stadt Basel praktisch für jede Lebenssituation eine Beratungsstelle. Die Menschen befinden sich aber meistens in einer sehr komplexen Problemlage und würden gerne mit jemandem über alles reden. Eine zentrale Anlaufstelle tut not. Und dann braucht es manchmal ganz praktische, konkrete Hilfe. Surprise 519/22

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Korace, Oktober 1992: Als plötzlich alle zu den Waffen griffen und Nachbarn zu Freunden wurden – im multiethnischen Bosnien wütete der Bürgerkrieg besonders schlimm. 16

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Bosnien-Herzegowina Hundertausend Tote und zwei Millionen Vertriebene forderte vor dreissig Jahren der Bosnienkrieg. Bis heute gibt es viele offene Wunden. Am schlimmsten sind die Feindbilder.

Über die Runden kommen Wieder einmal flammt in Bosnien-Herzegowina der Nationalismus auf. Dabei haben die Menschen dort ganz andere Sorgen. TEXT KLAUS PETRUS

Weit, weit weg ist der Balkan für die meisten von uns, auf der Karte wie im Kopf, und verloren sowieso: ein gescheitertes Projekt der «Brüderlichkeit und Einigkeit», ein ewiges Pulverfass, eine Region korrupter Eliten und geschichtsblinder Nationalist*innen. Die meisten dieser Bilder gründen auf Vorurteilen, von denen es bis heute haufenweise gibt. Über den Balkan reden, das kann man nicht ohne Klischees, so lautet ein Sprichwort. Dabei geht es nicht bloss um Stereotypen, mit denen sich der «Westen» – gemeint ist hier ein enggefasstes, elitäres Konstrukt von Europa – unentwegt vom Balkan abheben will. Sondern auch um Vorurteile, mit denen sich Menschen im ehemaligen Jugoslawien und speziell im ethnisch vielfältigen Bosnien untereinander begegnen: der böse Serbe, die unterdrückte Kroatin, die rückständigen Bosniaken. Lange galt Bosnien-Herzegowina als «kleines Jugoslawien im grossen Jugoslawien»: ein Land mit nur 3,3 Millionen Menschen, davon etwa 50 Prozent muslimische Bosniak*innen, 30 Prozent orthodoxe Serb*innen und 15 Prozent katholische Kroat*innen, mit drei Sprachen und zwei Schriften. Für Josip Broz Tito, der mit seinen Partisanen die Nazis aus dem südslawischen Raum vertrieben und 1945 die Föderative Volksrepublik Jugoslawien gegründet hatte, war dieses kleine Bosnien stets ein Musterbeispiel seines Vielvölkerstaates, über den er bis zu seinem Tod 1980 herrschte. Als Jugoslawien in den Jahren danach zerfiel, wütete der Krieg ab 1992 im multiethnischen Bosnien besonders arg. 100 000 Tote, zwei Millionen Geflüchtete, ethnische Säuberungen, der Genozid von Srebrenica – nach nur drei Jahren lag das Land in Trümmern. Das Friedensabkommen von 1995 wollte das Unmögliche: die Menschen zusammenführen, ohne sie zu einen. Herausgekommen ist ein Gesamtstaat mit klaren ethnischen Trennlinien: auf der einen die Föderation Bosnien-Herzegowina mit einer überwiegend kroatischen und bosniakischen Bevölkerung, auf der anderen Seite die Republika Srpska, hauptsächlich von bosnischen Serb*innen bewohnt. Surprise 519/22

FOTOS THOMAS KERN

Diese ethnischen Trennlinien entpuppen sich oft als Selbstläufer. Politiker*innen aus allen ethnischen Lagern beschwören ihre nationale Identität und drohen pathetisch mit der Abspaltung vom Gesamtstaat Bosnien – wie unlängst der Anführer der Republika Srpska, Milorad Dodik. Und schon reden alle wieder vom «Pulverfass Balkan». Dabei haben die Menschen im Lande ganz andere Sorgen. Bereits in einer Umfrage von 1991 – also kurz vor Ausbruch des Krieges und in der Blütezeit eines von oben diktierten Nationalismus – gaben 90 Prozent der Befragten an, nationale Identität spiele für sie im Alltag keine Rolle. Und 90 Prozent waren überzeugt, sie würden gegenüber den anderen – und zwar egal, welche Ethnie – benachteiligt: in der Schule, auf der Arbeit oder bei der Subventionierung durch den Staat. Soziale Sicherheit war den Menschen damals wichtiger als ethnische Identität. Und das ist auch heute so: Soziale Probleme dominieren Bosnien, auch dreissig Jahre später, immer noch. Die Arbeitslosigkeit ist 2020 auf 19 Prozent gestiegen, 34 Prozent der Jugendlichen haben keinen Job. Im Korruptionsindex liegt Bosnien auf Platz 111 von 180 Ländern. Viele Gründe, in Bosnien zu bleiben, gibt es also nicht. Wer durch das Land fährt, sieht Kriegsspuren allenthalben und allzu viele verwaiste Dörfer. Und doch: Die dort bleiben, suchen beharrlich nach einer Perspektive – und das oft gemeinsam. Bei sozialen Protesten stehen sich nicht Bosniak*innen, Kroat*innen und Serb*innen gegenüber, sondern einmal mehr die Bevölkerung hier und die politische Obrigkeit dort. Den Nationalist*innen mag das nicht ins Konzept passen, auf dem Spiel steht immerhin ihre Mär vom ewigen Hass zwischen den Ethnien. Die Menschen müssen derweil mit dem wenigen, das sie noch haben, über die Runden kommen.

Hintergründe im Podcast: Simon Berginz spricht mit Redaktor Klaus Petrus über die Hintergründe zum Thema. surprise.ngo/talk 17


KROATIEN

Brčko

Banja Luka BOSNIENHERZEGOWINA BOSNIENHERZEGOWINA

SERBIEN

Tuzla

Sarajevo, Dezember 1992: Liebe und Hoffnung in Zeiten des Kriegs und der Zerstörung – ein junges Paar, frisch verheiratet, der Mann wird schon bald an der Kriegsfront sein.

Srebrenica

Sarajevo

Mostar ADRIATISCHES MEER

MONTENEGRO

Republika Srpska (35% der Bevölkerung) Föderation Bosnien und Herzegowina (63% der Bevölkerung) Sonderdistrikt Brčko (2% der Bevölkerung) Ethische Gruppen Serben Bosniaken Kroaten

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Zwischen Himmel und Trnopolje Elvis Alic war acht, als er während des Bosnienkrieges in serbische Gefangenschaft geriet. Das schürte seinen Hass. Und brachte ihm Freunde.

«Es lag etwas in der Luft. Seit Wochen schon hatte sich die Situation zugespitzt, die Fronten waren endgültig verhärtet. Das ehemalige Jugoslawien stand im Frühling 1992 kurz vor einem historischen Umbruch, das war förmlich spürbar. Ich weiss noch, wie ich als kleiner Junge täglich gespannt den Nachrichten im Fernseher gelauscht hatte. Sie berichteten von einem Krieg, der unausweichlich schien. Unser kleines Heimatdorf Kozarac im Norden Bosnien-Herzegowinas befand sich inmitten der Teilrepubliken Kroatien, Serbien und Montenegro. Der Alltag wurde vom multikulturellen Aufeinandertreffen verschiedenster Nationalitäten und Religionen geprägt: Bosnier*innen lebten Seite an Seite mit Serb*innen und Kroat*innen. Symbolisch für das funktionierende Zusammenleben war eine Moschee, die mitten in der Stadt stand – einige Meter weiter folgte eine christliche Kirche. Die Menschen lebten hier im Einklang miteinander. Uns wurde schon von klein auf die Prämisse gelehrt: «Einigkeit und Brüderlichkeit.» Doch diese Welt begann mit den Kriegswirren zu bröckeln. Das gegenseitige Misstrauen innerhalb der Bevölkerung wuchs, Bevölkerungsgruppen entfremdeten sich. Es bildeten sich militante Gruppen, die abends durch das Dorf patrouillierten. Waffen wurden gehortet. Auch der Schulunterricht wurde auf unbestimmte Zeit abgesetzt. Ich verstand damals nicht wirklich, was da im Gang war – lediglich meinen Eltern merkte ich die Anspannung an. Wegweisend war die Schliessung der Landesgrenzen im Mai 1992. Ein- und Ausreisen waren nicht mehr möglich. Serbien hatte mittlerweile bereits Kroatien den Krieg erklärt. Es folgte ein Ultimatum der übermächtigen serbischen Armee: Bosnien sollte bis 12 Uhr mittags widerstandslos kapitulieren – ansonsten würde das Feuer eröffnet werden. Mein Vater hatte in den Wochen zuvor bereits vorgesorgt. Neben unserem Haus hob er eine meterhohe Grube aus, rund 10 Meter tief. Der improvisierte Bunker wurde mit massiven Baumstämmen abgedeckt und sollte uns vor feindlichen Geschossen etwas Schutz bieten. Punkt 12 Uhr flog die erste Granate über unsere Köpfe hinweg. Zwar schlug die Granate in einiger Entfernung ein, der Einschlag war aber deutlich zu hören. Ich geriet in Panik, mein Vater zog mich in den Bunker. Es folgten zugleich meine Mutter und mein damals einjähriger Bruder. Mein Vater konnte nicht bleiben. Er griff sich sein Gewehr und lief geradewegs in die Richtung, aus der die Granate geflogen kam. Ich hatte panische Angst, das Gefühl lässt sich kaum beschreiben. Es folgte ein riesen Donnerwetter, das Bombengewitter kam näher und näher. Der Boden bebte förmlich. Sie feuerten mit Panzern und schweren Kalibern. Das ist ein Gefühl, das ich niemandem zu erleben wünsche. Hätte es bei uns eingeschlagen, wäre es mit uns vorbei gewesen, das war mir bewusst. Das ging den ganzen Tag so weiter, stundenlang. Ich weinte endlos. Es war Surprise 519/22

ein banges Warten auf das Ungewisse. Abends musste ich auf die Toilette. Meine Mutter hob mich aus dem Bunker raus. Es war bereits dunkel, ich musste mich erst wieder orientieren. Was dann folgte, war ein Gefühl, das ich kaum beschreiben kann. Ich stand inmitten meiner altbekannten Strasse vor meinem Elternhaus – und um mich herum herrschte komplette Verwüstung. Alles brannte lichterloh, überall Rauch. Die zerstörten Gebäude glichen einem Schlachtfeld. Ich kriege heute noch Gänsehaut, wenn ich das erzähle. Mein Heimatdorf war nicht wiederzuerkennen. Die Serben hätten uns eingekesselt und seien bereits vor den Toren der Stadt. Es ging alles sehr schnell. Wir gingen los, ziellos liefen wir in eine Richtung – geradewegs in die Arme serbischer Soldaten. Widerstand zu leisten war zwecklos. Die Soldaten brachten uns zu einer riesigen Anlage. Es sah aus wie eine kleine Stadt, die von Stacheldraht umringt war. Überall war Militär. Und beim Eingang las ich die Aufschrift «Trnopolje». Ich sah vor mir eine riesige Menschenschlange, hunderte, tausende Menschen standen in Reih und Glied an. Wir mussten uns ihnen anschliessen. Vorne angekommen, wurden wir Häftlinge sortiert – hier Frauen und Kinder, auf der anderen Seite die Männer. Es ereigneten sich schreckliche, herzzerreissende Szenen in diesem Moment. Familien wurden auseinandergerissen und sahen sich teilweise nie mehr wieder. Schulter an Schulter Mit Bussen wurden wir zu einer alten Schule gebracht. Das karge Gebäude war zur Unterkunft für die Insassen des Lagers umfunktioniert worden. Darin sollten wir die Nacht verbringen. An Schlaf war jedoch nicht zu denken. Der nackte Boden war eiskalt, wir lagen eng aneinandergereiht, Schulter an Schulter. Draussen wurden immer wieder Schüsse abgefeuert. Regelmässig öffneten Soldaten die Türe, leuchteten uns mit Lampen ins Gesicht und zerrten junge Frauen aus dem Zimmer. Gehört hat man nichts, aber jeder wusste, was folgte. Es sollte die erste Nacht von vielen werden. Eine grauenhafte Zeit. Es handelte sich um ein Kriegsgefangenenlager der serbischen Armee, primär wurden dort Frauen und Kinder gefangen gehalten. Andere Lager waren auf männliche Insassen ausgerichtet. Alle Kriegsparteien unterhielten im Kriegsgebiet solche Anlagen, in denen auch ethnische Säuberungen und Kriegsverbrechen verübt wurden. Schätzungen unabhängiger Organisationen zufolge wurden damals in hunderten Internierungslagern rund 30 000 Menschen ermordet. Im August 1992 wurde Trnopolje als erstes Lager von internationalen Kriegsberichterstatter*innen besucht. Die Bilder gingen um die Welt und wurden als endgültiger Beweis für das Bestehen solcher Lager gesehen. Das berühmteste Bild wurde unter anderem Titelbild des TIME Magazine. Es zeigt meinen Cousin Fikret Alic, der ebenfalls mit uns im Camp war. Erst Jahre 19


später, wir waren bereits in der Schweiz, erkannte ihn mein Vater auf dem Foto. Wir trauten unseren Augen kaum. Es vergingen drei Monate. Und dann, eines Tages, wurden wir mit anderen Insassen aus dem Camp hinausgeführt. Vor uns sahen wir plötzlich Zugwaggons stehen. Die Gleise führten ins Nichts. Niemand von uns verstand, was passierte. Die Hitze im vollgestopften Zug war unerträglich. An den Innenwänden hatten sie ein Gemisch aus Kalk und Ammoniak angebracht, das die Luft austrocknete und die Haut angriff. Dann setzten sich die Waggons in Bewegung. Es gab keine Fenster, die Bedingungen waren katastrophal. Nach einer viertägigen Zugfahrt kamen wir in Doboj an. Wir wurden zu einer Brücke gebracht, die über einen Fluss ragte. Niemand sagte uns, was da gerade vor sich ging. Ich weiss noch genau, wie ich dicht neben meiner Mutter lief, mich an ihrem Kleid festklammerte. Wir mussten auf den Boden schauen. In all den Monaten im Camp wurde uns das so eingetrichtert. Den Soldaten durften wir nie in die Augen schauen. Plötzlich wurden Stimmen lauter und wir liefen geradewegs in die Arme serbischer Soldaten. «Runterschauen», wurde uns immer wieder gesagt. Ich riskierte dennoch einen Blick und sah zu meiner Verblüffung das Abzeichen des bosnischen Militärs. In dem Augenblick dachte ich, ich träume. «Mama!», sagte ich. «Das sind unsere Soldaten!» Sie schnauzte mich jedoch nur an und sagte, ich soll ruhig sein. Doch dann bemerkte auch sie, dass wir tatsächlich von bosnischen Soldaten umgeben waren. Dieser Moment war unbeschreiblich. Ein Gefühl von Sicherheit, fast schon eine innere Wärme, machte sich in mir breit. Beim Blick zurück sah ich eine Gruppe von Kriegsgefangenen, die mittlerweile bei den serbischen Soldaten angekommen war. Dieser Gefangenenaustausch auf der Brücke in Doboj war für mich wie ein symbolischer Übertritt von der Hölle in den Himmel. Natürlich, wir hatten immer noch grosse Sorge und die Zukunft war ungewiss – dennoch fühlten wir uns sicher. Wir wurden in eine Sporthalle in der benachbarten Stadt Zenica gebracht. Neun Monate verbrachten wir in diesem Flüchtlingslager.

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Der Text erschien im Magazin «Kein Müller», herausgegeben von Svenja Tschannen und Sébastien Ross: www.keinmüller.ch.

FOTO: SVENJA TSCHANNEN

Wie ein Ehrengast Die Bedingungen waren spartanisch, aber im Vergleich zu den Monaten zuvor waren es Welten. Das Rote Kreuz kam sogar mal vorbei und verteilte Geschenke und Essen. Einmal pro Tag heulten die Sirenen auf, dann mussten wir uns in den Bunker verkriechen. Es folgten die täglichen Bombardierungen der serbischen Luftwaffe. Doch der Alltag im Camp war den Umständen entsprechend gut. Nach neun Monaten schafften wir es mit Bussen, die regelmässig organisiert wurden, aus dem Camp heraus. Nach einigem Hin und Her kamen wir in Zagreb, Kroatien, an. In ganz Europa hatte es mittlerweile Bemühungen verschiedener Länder gegeben, Flüchtlinge aufzunehmen. Wir erfuhren von einer Liste, wo nach den Familienangehörigen vermisster Personen gesucht wurde. Meinen Vater hatte ich das letzte Mal gesehen, als er aus dem Bunker stieg und Richtung serbische Armee stürmte. Das war jetzt fast drei Jahre her. Und plötzlich stand da der Name «Alic». Wir trauten unseren Augen kaum. Wir mussten uns ausweisen, anschliessend nahmen wir Kontakt mit den Behörden auf. Mein Vater war schon seit einiger Zeit in der Schweiz. Die Schweiz genehmigte innert weniger Tage unser Gesuch um Asyl, und wir flogen mit dem Flugzeug nach Zürich.

In Chur erwartete uns mein Vater bereits auf dem Perron. Diesen Moment kann man nicht beschreiben, unmöglich. Über ein Jahr hatten wir nichts voneinander gehört. Ich trug während dieser ganzen Zeit immer ein Bild von ihm eng an meiner Seite. Meine Mutter versuchte stets mich zu beruhigen und sagte: «Es geht ihm gut, ganz bestimmt. Irgendwo wartet er auf uns.» Und dann stand er plötzlich vor mir. Irgendwo in der Schweiz, in einem beschaulichen Bahnhof in den Bergen, sah ich meinen Papa endlich wieder. Ich rannte ihm entgegen, nahm ihn in den Arm. Und dann schenkte er mir Schweizer Schokolade, daran kann ich mich noch genau erinnern. Ein unglaublich schöner Moment. Heute lebe ich seit 27 Jahren in der Schweiz. Ich bin in diesem Land angekommen, fühle mich sehr wohl hier. Auch was den Krieg und das Erlebte betrifft, habe ich viel gelernt. Zu Beginn verspürte ich einen unvorstellbaren Hass gegenüber Serben. Das war auch eine Folge der Kriegspropaganda. Tief in mir drin war diese blinde Ablehnung gegenüber Serben verwurzelt. Doch eine ganz spezielle Begegnung führte zu einem Umdenken. Ich war damals 17 Jahre alt und gerade mit meinen Freunden unterwegs. Ein Junge kam vorbei, er stellte sich als «Sascha» vor, anscheinend war er mit anderen aus der Gruppe befreundet. Er machte einen freundlichen Eindruck und machte die Runde. Als er mir seine Hand entgegenstreckte, fiel ihm eine Halskette mit dem serbischen Kreuz auf den Boden. In diesem Moment kam dieser Hass in mir auf. Ich sagte ihm, dass ich ihm nie die Hand geben werde und er verschwinden solle – unverzüglich. Ich dachte, ihn nie wiedersehen zu müssen. Kurze Zeit später habe ich angefangen, bei einem regionalen Klub Fussball zu spielen. Als ich beim ersten Training auf den Platz lief, sah ich diesen Typen wieder. So spielten wir zusammen, mehrmals pro Woche. Ich war Innenverteidiger, er spielte im Mittelfeld direkt vor mir. Schnell merkten wir: Das Zusammenspiel funktionierte kommentarlos. Wir verabredeten uns zum Fussballspielen in der Freizeit, wurden Freunde. Eines Tages lud er mich zum serbischen Weihnachtsfest bei seiner Familie ein. Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte, schliesslich war das ein wichtiger Tag für die Serb*innen. Mein Vater sagte mir aber, ich solle unbedingt gehen, solch eine Einladung sei eine grosse Ehre. Es spiele keine Rolle, woher man komme – wir seien nun in der Schweiz. Die Familie nahm mich wunderbar auf, ich wurde wie ein Ehrengast behandelt. Es folgte unser Bajram – das Fastenbrechen –, für uns ein äusserst wichtiges Fest mit grosser Bedeutung. Ich lud ihn zu unserem Familienfest ein. Endgültig war der Hass in mir verflogen. Ich besuchte ihn sogar schon in seiner alten Heimat in Serbien und er mich in Bosnien. Niemals hätte ich geglaubt, das jemals zu sagen, aber heute bin ich stolz darauf: Sascha ist Serbe – und Sascha ist mein bester Aufgezeichnet von SVENJA TSCHANNEN Freund.»

Elvis Alic, 37, floh mit seiner Frau Edith vor dem Krieg aus Bosnien in die Schweiz. Hier mussten sie sich gegen Vorurteile behaupten und lernen, was es heisst, eine Chance zu nutzen.

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Der Fotograf Thomas Kern, 57, preisgekrönter Schweizer Fotograf, war während des Krieges in Bosnien. «Ich wollte den Krieg näherbringen. Hier in der Schweiz meinte man, er sei weit weg, man verstand nicht, was auf dem Balkan passierte. Schon damals gab es viele Familien, die in der Schweiz und in Bosnien lebten. Leute, die Teil unseres Lebens waren.»

Golo Brdo, Sarajevo, Dezember 1992 / Zenica, Februar 1993: Spielende Kinde, tote Körper, fassungslose Blicke – der Krieg lässt ein Grauen zurück, welches das Leben in ein Vorher und ein Nachher teilt; dazwischen liegt das Unsagbare.

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«Ein gesamtbosnisches Bewusstsein wäre dringend nötig» Nach wie vor gibt es Trennlinien durch Bosnien, viele davon sind unsichtbar, sagt Balkan-Experte Cyrill Stieger. Hoffnung setzt er in die Zivilgesellschaft. INTERVIEW KLAUS PETRUS

Cyrill Stieger, wieder einmal ist in den Medien vom «Pulverfass Balkan» die Rede. Milorad Dodik, mächtigster Politiker im serbischen Teil Bosniens, der Republika Srpska, drohte jüngst mit der Abspaltung des serbischen Landesteils vom Gesamtstaat Bosnien-Herzegowina. Wie ernst ist die Lage? Cyrill Stieger: Sicher ist Dodik diesmal einen Schritt weitergegangen, immerhin will er die serbischen Abgeordneten vom gesamtbosnischen Parlament abziehen und redet von einer eigenen Armee für die Republika Srpska. Allerdings nutzt er schon seit Jahren jede Gelegenheit, um damit zu drohen, den serbischen Landesteil von Bosnien loszulösen und Serbien anzuschliessen. Ich denke nicht, dass es Krieg geben wird und die Grenzen neu gezogen werden. Das Beispiel Dodik zeigt aber auch, wie einfach es gerade in Bosnien offenbar immer noch ist, die Karte des Nationalismus auszuspielen. Warum ist dem so? Diese Frage stelle ich mir seit Jahrzehnten. Bei den ersten Wahlen unmittelbar nach dem Krieg in den 1990er-Jahren wurden mehrheitlich dieselben Politiker gewählt, die für den Zerfall von Jugoslawien mitverantwortlich waren. Noch heute besetzen einige von ihnen führende Positionen oder sind gar an der Macht. Was man aber nicht vergessen darf: Jüngst vor allem auf lokaler Ebene immer wieder Politiker*innen gewählt, die keinem der drei ethnischen Lager – kroatisch, serbisch, bosniakisch – angehören wollen, sondern sich ganz ausdrücklich als Bosnier*innen begreifen. Wie zum Beispiel die 2021 zur Bürgermeisterin von Sarajewo gewählte Benjamina Karić. Sie gehört einer gesamt-bosnisch orientierten Partei an, definiert sich im staatsbürgerlichen Sinn als Bosnierin und will sich gerade nicht in ein ethno-nationales Korsett pressen lassen. Allerdings konnten sich solche gesamt-bosnischen Kräfte bisher auf nationaler Ebene nicht durchsetzen. 22

Der Krieg hat zu Misstrauen und ­Schuldzuweisungen unter Kroat*innen, Serb*innen und Bosniak*innen geführt. Könnte das ein Grund sein, warum der Nationalismus nach wie vor so dominant ist? Was man gewiss sagen kann ist, dass eine Aufarbeitung der historischen Ereignisse ausgesprochen wichtig wäre, um sich ein­ ander anzunähern. Zum Beispiel hätte man viel aus dem Zweiten Weltkrieg lernen können. Damals tobte in der Region ein blutiger Bürgerkrieg zwischen der kroatischen Ustaša, den serbischen Četnik und Titos Partisanen. Nach dem Krieg wurden diese Gräueltaten einfach unter den Teppich gekehrt, es war nur noch von «Brüderlichkeit und Einheit» die Rede. Bis Ende der 1980er-Jahre all diese unverarbeiteten Traumata wieder an die Oberfläche kamen und von den Nationalisten politisch ins­ trumentalisiert wurden. Damals begangenes Unrecht diente jetzt als Rechtfertigung für einen neuen Krieg. Eine historische Aufarbeitung findet bis heute nicht statt? Die drei ethnischen Lager haben nach wie vor ihre eigene Geschichtsschreibung. Jede Seite sieht sich als Opfer. Zumindest auf staatlicher Ebene fehlt die Bereitschaft, diese Rolle abzulegen und an einer gemeinsamen Aufarbeitung der Geschichte teilzunehmen. Anders in der Zivilgesellschaft, dort wächst das Interesse an einer multiperspektivischen Betrachtungsweise der Geschichte. Allerdings ist es immer einfach, von aussen mit dem Finger auf den Balkan zu zeigen. Die Auseinandersetzung

mit der Vergangenheit eines Landes ist kompliziert und braucht viel Zeit. Man denke bloss an die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Sie haben von je eigenen Perspektiven auf die Geschichte geredet. Wie steht es eigentlich um die Geschichtsbücher an den Schulen? Das ist ein interessanter Punkt. In jenen Regionen Bosniens, die im Krieg nicht «gesäubert» wurden und wo also nach wie vor Menschen unterschiedlicher Ethnien leben, sind die Schulen bis auf wenige Ausnahmen ethnisch getrennt. In Travnik zum Beispiel, einer Stadt in Zentralbosnien, steht eines der ältesten Gymnasien des Landes. In der Mitte des grossen Gebäudes befindet sich eine Kirche, in der rechten Hälfte, renoviert und mit blauer Fassade, gehen die kroatischen Kinder und Jugendlichen zur Schule, in der linken, ockerfarbenen, heruntergekommenen Hälfte, die bosniakischen. Die beiden Schulen haben eigene Namen, Administrationen, Lehrer*innen, Putzpersonal – und eigene Schulbücher. Es handelt sich um zwei verschiedene Schulen, die sich aber unter dem gleichen Dach befinden. Nun macht das in Fächern wie Mathematik vielleicht keinen Unterschied, in Geschichte aber sehr wohl. Da finden sich dann entsprechend unterschiedliche «Wahrheiten» etwa über den Zerfall Jugoslawiens oder die Kriege der 1990er-Jahre. Fächer wie Geschichte sind für die jeweiligen Ethnien identitätsstiftend, was auch bedeutet, dass sie sich dadurch von den anderen abzugrenzen versuchen. Das gilt auch für die Sprache.

«Damals begangenes Unrecht diente plötzlich als Rechtfertigung für einen neuen Krieg.» CYRILL STIEGER

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So gesehen machen getrennte Schulen noch weniger Sinn. Das ist auch meine Meinung. Anders sehen das allerdings die Befürworter*innen der ethnischen Trennung in der Schule auf der Grundlage der Sprache. Mir haben kroatische Lehrpersonen und Eltern in Bosnien immer wieder gesagt: Wir sind eine eigene Ethnie, also haben unsere Kinder ein Anrecht darauf, in der eigenen Sprache unterrichtet zu werden. Nur so können wir unsere eigene sprachliche, kulturelle und nationale Identität bewahren. Dabei berufen sie sich auf die bosnische Verfassung, sie ist ein Annex des Dayton-Friedensabkommens von 1995 – und haben in gewisser Hinsicht recht damit. Wie meinen Sie das? Zwar steht in der bosnischen Verfassung nirgends, dass jeder und jede das Recht hat, in seiner oder ihrer Muttersprache unterrichtet zu werden. Festgeschrieben wird lediglich das Recht auf Bildung. In der Verfassung der Föderation ist zudem das Recht auf die eigene Identität und die eigene Sprache sowie auf die Pflege der eigenen Kultur und der eigenen Traditionen Surprise 519/22

«Bei sozialen Protesten spielt die ethnische Identität keine Rolle.» CYRILL STIEGER

verankert. Doch dominiert in der Verfassung das ethnisch-nationale Prinzip: Territoriale und politische Machtansprüche werden darin auf die drei Ethnien verteilt. So wurde die im Krieg der 1990er Jahre erzwungene ethnische Teilung des Landes durch Dayton faktisch legitimiert, wenn auch mit einigen wenigen Abstrichen.

und in jenen der bosnischen Serb*innen Kroatien beziehungsweise Serbien im Zentrum steht? Es ist diese unterschiedliche Sicht auf die eigene Vergangenheit, die Ethno-Nationalist*innen ausnutzen und die immer wieder zu Konflikten führt. Wie kann sich auf diese Weise ein gesamtbosnisches Bewusstsein über die ethnischen Trennlinien hinweg entwickeln? Das aber wäre dringend nötig.

Heisst das, dass die bosnische Jugend durch den Schulunterricht nach wie vor politisiert wird? Es ist kompliziert. Tatsächlich verfestigen sich bei der jungen Generation die ethnischen Trennlinien in gewisser Weise, und das, obschon sie den Krieg nicht am eigenen Leib erfahren haben und sich die meisten Jugendlichen kaum für den Zerfall Jugoslawiens und die Kriege der 1990er-Jahre interessieren. Doch sie alle haben ethnisch getrennte Schulen besucht, oft gehen sie auch in unterschiedliche Restaurants. Sie kennen nichts anderes als die ethnische Trennung in den Schulen. Sie ist für sie normal geworden. Viele haben auch kein Interesse daran, die ethnischen Trennlinien zu überwinden, wenn das nicht nötig ist. Das hat weniger mit nationalistischer Gesinnung oder gar Hass zu tun als vielmehr mit Desinteresse und Gleichgültigkeit. Das heisst allerdings keineswegs, dass die ethnischen Trennlinien im Alltag nicht überschritten werden. Manche pflegen auch engere Kontakte mit Angehörigen anderer ethnischer Gruppen oder arbeiten mit ihnen an gemeinsamen Projekten. Könnte eine solche Art der Normalisierung nicht auch Teil der Bewältigung sein? Das ist ein bedenkenswerter Aspekt. Man kann gut nachvollziehen, dass die junge Generation nicht immerzu auf den Krieg angesprochen werden will, mit dem sie nichts zu tun hat. Sie hat andere Interessen und Sorgen. Und doch: Ist es normal, wenn den Kindern in Bosnien drei historische «Wahrheiten» eingetrichtert werden, wenn in den Schulen der bosnischen Kroat*innen

Reist man durch Bosnien und redet mit Leuten, kriegt man unweigerlich den Eindruck, dass die Bevölkerung ganz andere Probleme hat als die Bewahrung der ethnischen Identität. Allerdings. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Korruption ist gross, viele verlassen das Land. Bei sozialen Protesten, von denen man in unseren Medien nur wenig mitbekommt, spielt die ethnische Zughörigkeit oft gar keine Rolle: Kroat*innen, Serb*innen und Bosniak*innen demonstrieren gemeinsam gegen die Schliessung von Fabriken oder polizeiliche Willkür. Dann geht es nicht um ethnische Identität, sondern um einen Protest gegen die politische Elite. Viele Menschen sehen heute kaum noch Perspektiven, und es ist schwer nachzuvollziehen, wieso viele Politiker gerade auf nationaler Ebene dies nicht einsehen wollen. Stattdessen treiben sie ihre Identitätspolitik weiter voran. Und ignorieren dabei, was Bosniens grösstes Problem ist: die Abwanderung.

FOTO: ZVG

Noch 1918, bei der Gründung von ­Jugoslawien, wurde die Sprache als verbindendes Element hervorgehoben. Tatsächlich bildete das sogenannte Serbokroatische damals eine wichtige gemeinsame Basis, und auch in Titos Jugoslawien dominierte diese Standardsprache. Sie galt als einheitliche Sprache mit zwei Varianten, der serbischen und der kroatischen. Allerdings gab es bereits ab den 1960er-Jahren von kroatischer Seite Bestrebungen, die Eigenständigkeit der kroatischen Sprache zu betonen. Man fand, das Kroatische komme im Serbokroatischen zu wenig zur Geltung. Verlangt wurde die Gleichberechtigung des Kroatischen. Viele Kroat*innen fühlten sich von den Serb*innen politisch dominiert. Eine Aufwertung der Sprache hiess also auch: eine Aufwertung der eigenen Nation, der eigenen nationalen Identität. Tatsächlich wurde nach der Unabhängigkeitserklärung 1991 das Kroatische möglichst von allen serbischen Elementen «gereinigt» – bosnisch-serbische Nationalist*innen machten das umgekehrt auch, allerdings ohne Erfolg. Dabei sind die Unterschiede zwischen diesen Spielarten des Südslawischen gering, Kroat*innen und Serb*innen können sich mühelos verstehen.

Cyrill Stieger, 72, war zwischen 1986 und 2015 Balkankorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung NZZ und ist Autor u.a. von «Wir wissen nicht mehr, wer wir sind» (Wien 2017) und «Die Macht des Ethnischen» (Zürich 2021).

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FOTO: ZVG

Auf romantisierter Selbstsuche Kino Laura fühlt sich verloren, nicht zugehörig und macht sich auf eine Reise nach Murmansk.

Was spannend beginnt, wird zum klischierten Spiel der Geschlechter. TEXT GIULIA BERNARDI

Ausgelassene Klänge füllen die Luft, während uns die Kamera zu den Freund*innen und Bekannten führt, die gesellig im Wohnzimmer zusammensitzen. Sie trinken Wein aus kleinen Gläsern, rauchen, lachen, sagen Zitate berühmter Persönlichkeiten auf, die alle zu kennen scheinen, nur nicht Laura. Sie blickt in die erwartungsvollen Gesichter, versucht mit angespanntem Lächeln zu kaschieren, wie fehl am Platz sie sich im Umfeld ihrer Freundin Irina fühlt. Sie bemüht sich mitzuhalten, lässt sich von Irina in einen Tanz verwickeln. Doch die Verlorenheit bleibt spürbar, nimmt die Zuschauer*innen ein, als Laura nachts im Bett liegt und nachdenklich an die Decke starrt. Laura wird zu Beginn des Films von Juho Kuosmanen mit einem akademischen Umfeld konfrontiert, mit Forschungsschwerpunkten und Wissen, die den Alltag mit 24

Sinn zu füllen scheinen. Was sie denn so mache, fragen die Menschen um sie herum und sie sich selbst gleichermassen. Sie braucht eine Antwort und entscheidet sich, die Petroglyphen in Murmansk zu besichtigen; jene Felsbilder prähistorischer Zeiten, die man – ähnlich wie die Zitate – vermutlich kennen sollte. Ihre Zuhörer*innen nicken zustimmend. «Kennt man seine Vergangenheit, versteht man seine Gegenwart.» Und auch Laura nickt. Wie sonst sollte sie auf diese Floskel reagieren, die wahr und bedeutungslos zugleich ist? Gemeinsam verloren So kommt es, dass sich Laura in der nächsten Szene im Zug in die russische Stadt befindet. Melancholisch blickt sie in die vorbeiziehende Landschaft, filmt sie für Irina, die nicht dabei ist. Mit jedem Kilometer scheint die Reise Surprise 519/22


«Alles in Ordnung? Ich habe gesehen, wie du ausgerutscht bist.»

«Quatsch, bin ich nicht.»

«Compartment No. 6», Regie: Juho Kuosmanen, FI/DE/EE/RU 2021, 108 Min. Läuft ab 3. März im Kino. Surprise 519/22

«Ein Mädchen fragt und sagt nichts» Kino Der Dokumentarfilm «Stand up my Beauty» handelt von äthiopischen Frauen, deren Leben von Unterdrückung und sexualisierter Gewalt geprägt ist. Wir hören das Knistern der Kaffeebohne, die melodische Stimme von Nardos. Geduldig schiebt sie die Bohnen in der Pfanne hin und her, schaut zu, wie sie langsam braun und schwarz werden. Sie ist die Hauptprotagonistin des Dokumentarfilmes «Stand up my Beauty», deren Begegnungen und Erzählungen die Zuschauer*innen folgen. Oft verschlägt es einem die Sprache. Nardos ist alleinerziehende Mutter von zwei Kindern. Wie viele andere Frauen arbeitet sie als Tagelöhnerin auf den Baustellen von Addis Abeba. Immer mehr auswärtige Bauunternehmen lassen sich in der äthiopischen Hauptstadt nieder, errichten hohe Bauten aus Stahl und Beton; neben ihnen scheinen soziale Realitäten keinen Platz mehr zu haben. Abends tritt Nardos als Sängerin gemeinsam mit ihrer Band in verschiedenen Lokalen der Stadt auf. Sie singt seit sie klein war, wie sie uns erzählt, manchmal direkt in die Kamera, manchmal erkling ihre Stimme aus dem Off. Allerdings widmete sie sich bisher immer Liedern, die andere geschrieben haben. Doch sie möchte eigene schreiben. «Stand up my Beauty» ist der Titel ihres ersten Liedes. Das Lied entstand im Rahmen von Begegnung mit verschiedenen Frauen. In den Gesprächen werden die Bürden spürbar, die sie tagtäglich tragen, tragen müssen. Nardos spricht mit ihrer Mutter, die sie in frühen Jahren weggeben musste; sie konnte ihre Kinder nicht ernähren und entschied sich dagegen, ihr damals siebenjähriges Kind zu zwangsverheiraten. Erzählungen von Diskriminierung und Unterdrückung, sexualisierter Gewalt und Schwangerschaften im Kindesalter reihen sich aneinander. Es sind individuelle Erfahrungen, die sich zu kollektiven verflechten. «Ein Mädchen fragt und sagt nichts», sagt eine der Frauen. Die Unterhaltungen sind durch Anteilnahme und wortloses Verständnis geprägt. Jede Begegnung hält Nardos in ihrem gelben Notizbuch fest, lässt sie in ihre Lieder einfliessen; es sind Erzählungen eines Lebens ohne Rechte.

GIULIA BERNARDI FOTO: ZVG

schwerer zu werden, von verletzten Gefühlen und einer gescheiterten Liebesbeziehung belastet. Auf ihrer Reise trifft Laura auf Ljoha. Ab diesem Punkt wird es immer schwieriger, sich als westlich geprägte*r Zuschauer*in mit den Figuren zu identifizieren. Wo das Gefühl von Verlorenheit und die Frage nach Zugehörigkeit eine*n anfänglich in den Film eintauchen liessen, bauen nun klischierte Vorstellungen von Geschlecht eine schwer zu überbrückende Distanz auf. So wird Ljoha als stereotyp männliche Figur dargestellt: als Mann, der zu viel trinkt, sich rücksichtslos, stark und unverwundbar zeigt. Das wird in jener Szene besonders deutlich, in der Ljoha rauchend auf dem Perron hin und her läuft, einen Schneeball in die Luft wirft, den er mit seiner Faust zu treffen versucht und dabei ausrutscht. Er steht auf, schaut sich verstohlen um, während er den Schnee von seiner Jacke klopft. «Alles in Ordnung? Ich habe gesehen, wie du ausgerutscht bist», sagt Laura, als er wieder in den Zug steigt. «Quatsch, bin ich nicht.» Im Verlauf der Geschichte muss sich Laura immer wieder gegenüber dem grenzüberschreitenden Verhalten von Ljoha positionieren; gegenüber seinen derben und vulgären Sprüchen und der Tatsache, dass er zu viel Raum im kleinen Abteil einnimmt. Obwohl ihr sein Verhalten lange unangenehm ist, beginnt sie irgendwann, sich um ihn zu sorgen und entdeckt, dass unter der harten Schale doch ein weicher Kern steckt. Ähnlich klischiert wie die hegemoniale Männlichkeit, die Ljoha aufscheinen lässt, sind auch die Charaktereigenschaften von Laura, die als typisch weiblich stereotypisiert werden: Sie nimmt die Rolle der empathischen und fürsorglichen Frau ein, die sich um den Mann kümmert, der seine Gefühle nicht zeigen kann. Und so wird aus einer unangenehmen Bekanntschaft sowas wie eine Liebesbeziehung. Denn so unterschiedlich Laura und Ljoha auch sind, fühlen sie sich doch in der Welt, die sie umgibt, gleichermassen verloren. Juho Kuosmanen thematisiert die romantisierte Selbstsuche, in deren Unerreichbarkeit ein poetisches Potenzial liegt, das sich durch die ruhigen Bilder und das sanfte Licht offenbart. Schade ist, dass dieses Potenzial von flach gezeichneten Charakteren überschattet wird.

«Stand up my Beauty», Regie: Heidi Specogna, ­Dokumentarfilm, CH/D 2021, 110 Min. Läuft ab 17. Feb. im Kino. 25


BILD(1): CATHERINE MEURISSE, «LA JEUNE FEMME ET LA MER», DARGAUD, 2021, BILD(2): ADRIAN ELSENER, BILD(3): HELMUT POGERTH, BILD(4): CHRISTIAN HELMLE

Veranstaltungen Basel «Wonder Women!», dialogische Führung, So, 27. Feb., 14 bis 15 Uhr, St. Alban-Vorstadt 28. cartoonmuseum.ch

Frauen waren in der Comic-Szene lange untervertreten. Anette Gehrig, Direktorin und Kuratorin des Cartoonmuseum Basel, öffnet deshalb in der dialogischen Führung «Wonder Women!» anlässlich der Ausstellung «Catherine Meurisse: L’Humour au sérieux» den Blick für die Werke von Pionierinnen. Zum Beispiel der britischen Cartoonistin Posy Simmonds oder der durch Underground Comics bekannt gewordenen Amerikanerin Aline Kominsky-Crumbs. Ein besonderes Augenmerk liegt auf Catherine Meurisse, die 2005 als erste weibliche Zeichnerin zum französischen Satiremagazin «Charlie Hebdo» stiess. Ihre Karikaturen zum Zeitgeschehen zeugen von der unverwechselbaren Haltung ihrer Schöpferin, die 2015 nur knapp dem Attentat auf die Redaktion entkam, bei dem elf ihrer Arbeitskollegen starben. 2020 wurde Meurisse als erste Comic-Künstlerin in die renommierte «Académie des Beaux-Arts» aufgenommen. MBE

Amriswil «Markus Schönholzer – Schönholzer & Schönholzer», Konzert und Comedy, Fr, 25. Feb., 20.15 Uhr, Kulturforum Amriswil, Bahnhofstrasse 22. kulturforum-amriswil.ch

Markus Schönholzer hat schon für Leute wie Charles Lewinsky, Sybille Berg und Ursus und Nadeschkin komponiert. Aber der 1962 geborene Songwriter, Sänger, Gitarrist und Komponist hat sich mittlerweile selbst auf den deutschsprachigen Kleinkunstbühnen etabliert. In seinem aktuellen Soloprogramm «Schönholzer & Schönholzer» denkt er über sich selber nach und entdeckt dabei zwei Stimmen in seiner Brust. Die eine ist höflich

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und angepasst, die andere draufgängerisch und ungeduldig. In Form von pointierten Songs entspinnt sich zwischen ihm und seinem zweiten Ich ein geistreicher Wettstreit um die moralische Überlegenheit. Es geht um menschliche Makel, die der ewigen Suche nach dem Glück oft in die Quere kommen. Seine Alltagsbeobachtungen stimmen nachdenklich und bringen gleichzeitig mit einer feinen Komik zum Lachen. Zum Beispiel, wenn man darin eigene Schwächen wiedererkennt. MBE

St. Gallen «Nachwehen» (Contractions) von Mike Bartlett, Theater, Do 3., Fr 4., Sa 5. März, 20 Uhr, Kellerbühne St. Gallen, St. Georgen-Strasse 3. kellerbuehne.ch Ein Personalgespräch zwischen der jungen Angestellten Emma und einer namenlosen Personalmanagerin bildet das immer wiederkehrende Setting des Theaterstücks «Nachwehen» aus der

Feder des britischen Dramatikers Mike B ­ artlett. Es beginnt ganz harmlos: Emma wird nach ihrem Stellenantritt mit dem Verhaltenskodex der Firma vertraut gemacht, später gefragt, wie es ihr hier gefällt. Aber als sie eine der Regeln bricht und sich in einen Kollegen verliebt, wird der Ton schärfer. Um einen Jobverlust abzuwenden, muss Emma Opfer bringen, damit sie als «Human Resource», als menschlicher Rohstoff, in der Geschäftswelt bestehen zu kann. Im Anschluss an die Vorstellungen am Donnerstag und Freitag finden Publikumsgespräche mit Prof. Dr. Michael Festl statt, der an der Universität St. Gallen Philosophie und Wirtschaftsethik lehrt. MBE

Aarau «Hôtel de Rive – Giacomettis horizontale Zeit», Figurentheater, Fr, 25. Feb. und Sa, 26. Feb., 20 Uhr, Bühne Aarau, Tuchlaube, Metzgergasse 18. buehne-aarau.ch

Thun «Christian Helmle. Stralau», Ausstellung, bis So, 1. Mai, Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Mi, 10 bis 19 Uhr, Kunstmuseum Thun, Hofstettenstrasse 14. kunstmuseumthun.ch

Sowohl die Reportage- als auch die Architekturfotografie sind prägend für das künstlerische Werk von Christian Helmle, der seit 1982 als freischaffender Fotograf arbeitet. Das Kunstmuseum Thun widmet ihm eine breit gefächerte Ausstellung, in der sein Interesse an Topografien und Strukturen sowie am Menschen und dessen Einfluss auf das Landschaftsbild zum Ausdruck kommt. Helmle (*1952) hat ein Faible für Langzeitprojekte. Dies macht in seinen Fotografien auch Prozesse sichtbar, die sich äusserst langsam vollziehen, wie etwa der Zerfall von ausgedienten Gebäuden in seiner Werkserie «Weisse Elefanten» (1999–2005). MBE

Luzern «Anna Margrit Annen – weit», Ausstellung, bis So, 20. März, Mi bis Sa, 14 bis 19 Uhr, So, 14 bis 17 Uhr, Kunsthalle Luzern, Löwenplatz 11. kunsthalle-luzern.ch Die skelettartigen Skulpturen von Alberto Giacometti sind weltbekannt, weniger dagegen seine surrealen Texte, zum Beispiel «Der Traum, die Sphinx und der Tod von T.» aus dem Jahr 1946. Der deutsche Figurenspieler Frank Soehnle liess sich neben der berühmten Bildhauerkunst auch von einigen dieser Schriften und Gedichte zu einer spartenübergreifenden Inszenierung inspirieren, die eine Annäherung an Giacomettis Gedankenwelt schafft. Sprache, Figuren, Musik und Video ver­dichten sich zu Erinnerungen, Traumbildern und Szenen, in denen Realität und Imagination ineinanderfliessen. Knochige Gestalten, Alp­ hörner oder eine Blüte im Weinglas einer Dame erzählen von der unerbittlich zerrinnenden. MBE

Wasser steht für Wachstum und ist das zentrale Thema der aktuellen Ausstellung «weit» von Anna Margrit Annen. So plätschert etwa eine Videoinstallation von einem Bach, an dem die heute 70-jährige Künstlerin gerne spazieren geht, quer durch den Raum. Das Wasser sucht sich seinen Weg und drängt in die Weite, ebenso wie die gezeigten Installationen und Malereien der gebürtigen Zugerin. Auch in diesen reflektiert Annen Wachstumsprozesse, indem sie mit Rastern, Mustern und netzartigen Strukturen die räumliche Wahrnehmung schärft. So beziehen sich etwa die gerasterten Bildplatten einer Installation direkt auf die Form und die Beschaffenheit des Ausstellungsraums, denken diesen weiter und eröffnen neue Perspektiven. MBE

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­ onzerten, eine Generation nach K der andern, egal mit welchem Buchstaben oder welchem griffigen Namen sie ­bezeichnet wird. Auch das hat etwas Beruhigendes: So verschieden sind wir gar nicht. Wem es hier ganz allgemein zu sonnig und warm ist, kann ins bitterkalte ­Parkhaus hinuntersteigen und sich eine kleine Ausstellung zum Thema ­Archäologie anschauen. Aufgrund von Funden während des Parkhausbaus konnte das Leben am Zürichsee in der Jungsteinzeit rekonstruiert werden. ­Jagen, Fischen, Essen und Trinken werden anhand von Artefakten erklärt. Nicht ­belegt, aber zu vermuten ist, dass schon damals Jugendliche auf dem Boden ­sassen. Vielleicht auch Erwachsene, weil der Stuhl noch seiner Erfindung harrte.

Tour de Suisse

Pörtner in Zürich Bellevue Surprise-Standorte: Apotheke Einwohner*innen: 428 737 Sozialhilfequote in Prozent: 4,8 Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 32,3 Anzahl Benutzer*innen der Tramstation Bellevue pro Tag: 250 000

Der Surprise-Verkäufer steht vor der ­Bellevue-Apotheke, die einst der einzige 24-Stunden-Shop der Stadt war. Die Schlange bildet sich aber nicht bei ihm, sondern nebenan, wo es Kaffee gibt. ­Kaffee gibt es hier zwar alle paar Meter, aber dieser scheint besonders beliebt, was auch dem Umstand geschuldet sein mag, dass das Heissgetränk mitge­ nommen und auf dem gegenüberliegenden Sechseläutenplatz konsumiert ­werden kann, auf den bereitgestellten, zu Paaren aneinander geketteten Metallstühlen. Die Januarsonne wärmt gerade genug. Ein Möwenschwarm umflattert das Publikum, durch die Hecke ist der See zu sehen, dahinter der Uetliberg, es weht ein Hauch von Kurortstimmung. Von Plakatwänden herunter wird um die Wette gegrinst, bald sind Stadtratswahlen, deren Ausgang schon mehr Surprise 519/22

oder weniger feststeht. Selbst die ­international beachtete Kunsthausblamage kann den Involvierten nichts ­anhaben. Auch das Opernhaus, das an der Stirnseite des Platzes thront und dessen Finanzierung einst zu Krawallen führte, ist längst wieder friedlich ins Stadtleben eingebettet. Es hat etwas Beruhigendes, dass im Zeitalter von ­durchgetunten Online- und Social-MediaKampagnen das gute alte Wahlplakat mit dem Kopf der Kandidat*innen immer noch eine Rolle spielt. Ein Kind übt auf einer Mundharmonika und wer weiss, vielleicht wird es einst in einer der zahlreichen Kulturstätten der Stadt auftreten. Jugendliche sitzen im Kreis auf dem kalten Valser Granit. Der Mensch im Alter zwischen ca. zwölf und zwanzig sitzt gerne auf dem Boden. Auf Plätzen, in Zügen, an

Eine Frau scheint ein Kind anzuschreien, aber sie telefoniert bloss. Hernach ­werden Tauben gefüttert, immer noch telefonierend. Das Füttern von Tauben, Möwen, Enten und Schwänen ist ­eigentlich verpönt und aus der Mode gekommen, weil es die Tiere fett, faul und krank macht. Den Kindern aber macht es Spass, die herbeigelockten Vögel ­wieder aufzuscheuchen, die Mütter halten das Spektakel für die Nachwelt fest. Auf dem Nebengleis steht das Impftram, hier fahren sonst Märli-, Krimi- und Fonduetrams. Gegenüber gibt es einen Take-away, dessen Pächter*innen immer wieder wechseln. Zurzeit versucht eine US-amerikanische Donut-Kette ihr Glück. Anders als in den USA haben sich deren Filialen noch nicht als Treffpunkte für Polizist*innen etabliert. Die Zivilbevölkerung bevorzugt ohnehin das Café gegenüber, die Schlange ist noch länger geworden.

STEPHAN PÖRTNER

Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist. 27


IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01

Ref. Kirche, Ittigen

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Farner’s Agrarhandel, Oberstammheim

03

BODYALARM – time for a massage

04

Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden

05

WBG Siedlung Baumgarten, Bern

06

unterwegs GmbH, Aarau

07

Hedi Hauswirth Privatpflege Oetwil a.S.

08

Fäh & Stalder GmbH, Muttenz

09

Praxis C. Widmer, Wettingen

10

EVA näht: www.naehgut.ch

11

Büro Dudler, Raum- und Verkehrsplanung, Biel

12

Evang. Frauenhilfe BL, frauenhilfe-bl.ch

13

Lebensraum Interlaken GmbH, Interlaken

14

Automation Partner AG, Rheinau

15

Infopower GmbH, Zürich

16

Arbeitssicherheit Zehnder, Zürich

17

Barth Real AG, Zürich

18

Be Shaping the Future AG

19

Maya-Recordings, Oberstammheim

20

doppelrahm GmbH, Zürich

21

InhouseControl AG, Ettingen

22

Studio1 Vivian Bauen, Niederdorf

23

.flowScope gmbh.

24

Zubi Carrosserie, Allschwil

25

iris schaad, zug & winti: shiatsu-schaad.ch

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Caroline Walpen Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 53 I marketing@surprise.ngo

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkäufer*innen fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkäufer*innen zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten Josiane Graner, Juristin, wurde in ihrem Leben von schweren Schicksalsschlägen getroffen. Sie kämpft und steht immer wieder auf. Ein Geschäftsprojekt, das sich zum Flop entwickelte, führte sie 2010 zu Surprise. Ihr Geschäftspartner hatte sich ins Ausland abgesetzt und sie mit dem Schuldenberg allein gelassen. Um ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu bestreiten, verkauft Josiane Graner in Basel das Strassenmagazin. Zudem ist sie für den Aboversand zuständig. Dank des SurPlus-Programms erhält sie ein ÖVAbonnement und Ferientaggeld. Diese Zusatzunterstützung verschafft der langjährigen Surprise-Verkäuferin etwas mehr Flexibilität im knappen Budget.

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Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 21 Verkäufer*innen des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlus-Programm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

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Wir alle sind Surprise

«Gemeinsam am Frühstückstisch»

#515: Wir müssen reden

Nichtleserbrief Sie haben mir für die Lektüre der 6-köpfigen Diskussionsrunde viel Vergnügen gewünscht. Dafür bedanke ich mich, auch wenn ich dabei eher Gefühle wie Unverständnis, Ärger, Ratlosigkeit usw. gespürt habe. Am besten hat mir noch dieser Markus gefallen. Er scheint mir der Einzige in der Runde, der weiss, wovon er spricht. Wie er selbst sagt, ist sein Job, den Grosskonzernen Steuervermeidung zu ermöglichen. Ihm nehme ich alles ab, was er sagt. Denn er redet wie ein Bourgeois, der – ganz paternalistisch – den 5 Kleinbürgern auf die Schulter klopft («Was wollt ihr, ist doch alles gut?»). Die Redaktorin Frau Winter Sayilir sagt, die Demokratie sei ein Privileg, das wir alle teilen. In Tat und Wahrheit teilen wir nur die Brosamen, die das Monopolkapital übrig lässt bei der Ausplünderung von Mensch und Erde. Wir teilen uns nicht eine Demokratie, sondern die Karikatur davon. Ich nenne das Demokratismus. So tun als ob. Es gibt Widersprüche im Volk, die man mit Diskussion und Überzeugung lösen kann. So wie Sie es in dieser Ausgabe versuchen. Und es gibt antagonis­ tische Widersprüche. Da braucht es schon etwas mehr, denn sie sind nur mit dem Untergang des einen Kontrahenten zu lösen. Der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit ist so einer. Da können Sie von «Demokratie» schwurbeln, so lange Sie wollen. Es führt zu nichts. Und so etwas verteidigen Sie als Privileg?

Ich bin Österreicherin und habe noch keinen Schweizer Pass. Schuld daran ist allerdings nicht die Schweiz, sondern Österreich, das keine Doppelstaatsbürgerschaft zulässt. Mein Mann «teilt» sein Stimmrecht mit mir und unseren minderjährigen Söhnen. Er öffnet das Abstimmungskuvert jeweils gemeinsam mit uns am Frühstückstisch an einem Wochenende und wir diskutieren über die Abstimmungen. Beim Lesen des Protokolls ist mir aufgefallen, dass Lucia kaum ihre eigene Meinung kundgetan hat, sie hat immer versucht zu vermitteln und trotz der unterschiedlichen Standpunkte doch noch einen Konsens herzustellen. Zum Glück hat Lavinia von ihren schmerzhaften Erlebnissen mit dem Drogenkonsum bei jungen Menschen berichtet. Das war mir ehrlich nicht bewusst, da werde ich in Zukunft besser hinschauen. R. HANSLMAYR, Zürich

«Soooo enttäuscht» Ich habe zum ersten Mal das Strassenmagazin gekauft (auch als Unterstützung für die Verkäufer), aber es war leider auch schon das letzte Mal, denn das ganze Magazin bestand nur aus dem für mich überhaupt nicht interessanten Gespräch der 6 Personen - ich war soooo enttäuscht und gleichzeitig überrascht, dass 31 Seiten zum gleichen Thema behandelt werden. Sorry, aber mein Fazit lautet: ausser Spesen nichts gewesen, ich hatte mehr Vielfalt erwartet. C. SCHÖNI, ohne Ort

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Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen (MBE), Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe James Brauns, Amy Hetherington, Thomas Kern, OPAK.CC, Svenja Tschannen, Nicole Vögeli Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh­ migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck AVD Goldach Papier Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach

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Internationales Verkäufer*innen-Porträt

«Die Schizophrenie schlich sich heran»

Die Idee, nach Perth auszuwandern, stammte von meinem Vater. Er war bereits als Soldat in Indonesien stationiert gewesen und besuchte damals oft Australien. So kannte er aus seiner Militärzeit noch Leute, die in Perth ­wohnten. Für meinen Vater begann die beste Zeit seines Lebens, er trieb sich mit seinen alten Freunden herum. Doch für meine Mutter war es sehr hart. Sie machte bei Nonnen eine Ausbildung zur Krankenschwester, be­ zahlte die Miete und brachte das Essen auf den Tisch. Meine Mutter sorgte für uns alle. Für mich war sie eine Heilige. Leider starb sie viel zu früh, das war im Jahr 1979. Nach meinem Abitur wollte ich von zuhause weg. Mit einem Freund ging ich nach Melbourne, dort begann ich eine Arbeit als Krankenpfleger. Ich hatte bereits Jahre zuvor einen Job als Krankenpfleger. Meine Mutter nahm mich damals in das Spital mit, in dem sie arbei­ tete, und so erhielt ich eine Anstellung. Dann kam die Schizophrenie. Nicht von heute auf mor­ gen, vielmehr schlich sie sich langsam an mich heran. Und wurde für mich mehr und mehr zu einem ernsthaf­ ten Problem. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Damals gab es noch keine Organisation, die sich um Menschen mit dieser Krankheit kümmerte. Das ging ein paar Jahre so und war nicht einfach. Dann kam ich endlich in psychiatrische Behandlung, ich erhielt Medikamente und es wurde für mich gesorgt. Inzwischen geht es mir besser. Bis heute gehe ich jede Woche zu einem ­Spezialisten, ich kriege wertvolle Ratschläge von ihm, das gibt mir Sicherheit. Inzwischen hatte ich eine Ausbildung zum Koch ab­ solviert und arbeitete in einem italienischen Restaurant. Wir hatten Pizza und Teigwaren auf der Karte. Meine ­Spezialität waren «Gnocchi Parisienne» mit einer be­ sondere Sauce. Die war so gut, dass man nicht genug davon bekommen konnte. Neben meiner Arbeit als 30

FOTO: JAMES BRAUND

«Ich wurde 1957 in Den Haag geboren. An meinem 11. Geburtstag kamen wir in Perth an, der Hauptstadt des australischen Bundesstaates Western Australia – meine Mutter, mein Vater und meine beiden jüngeren Brüder. Ich hatte meine gesamte Grundschulausbildung in ­Holland absolviert. In Australien musste ich allerdings zwei Klassen wiederholen, um die Sprache zu lernen. Zwar hatten wir in Holland neben Deutsch und Franzö­ sisch auch ein wenig Englisch gelernt, doch das reichte nicht. Obschon ich inzwischen schon viele Jahre in Australien lebe, rede ich noch immer Niederländisch.

Kelly kam aus den Niederlanden nach Australien, arbeitete als Krankenpfleger und Koch und verkauft heute The Big Issue Australia in Melbourne.

Koch hatte ich noch drei weitere Jobs: Ich war Kurier bei einem Pizza-Lieferanten, trug Zeitungen aus und arbeitete oft bis in die Nacht in Bars. Irgendwann wurde das alles zu viel für mich. Mein Arzt schrieb mich krank und sagte zu mir: «Nimm dir eine Auszeit.» Das war 2008. Einige Zeit später habe ich bei The Big ­Issue Australia angefangen und das Strassenmagazin verkauft. Der Betrieb startete damals eine grosse ­Werbekampagne. Sie fragten mich, ob ich mitmachen wollte, und plötzlich war ich im ganzen Land auf ­riesigen Plakatwänden zu sehen. Das war grossartiges Erlebnis. Überhaupt ist es für mich sehr wichtig, dass ich The Big Issue verkaufen kann. So kann ich mir gesundes Essen leisten, ab und zu kaufe ich mir sogar ein Buch im Secondhand-Laden. Die Liebe zu den ­Büchern habe ich von meiner Mutter geerbt. Daneben höre ich viel Musik, ich mag Karaoke. Ich habe einen Plattenspieler und ein paar Schallplatten, so kann ich das Singen üben. Auch das tut mir gut. Überhaupt geht es mir heute viel besser, ich achte auf meine Gesundheit und habe meine Krankheit einigermassen im Griff. Jetzt fehlt mir nur noch eine Freundin. Es wäre schön, nicht immer allein zu sein.

Aufgezeichnet von AMY HETHERINGTON Mit freundlicher Genehmigung von THE BIG ISSUE AUSTR ALIA

Surprise 519/22


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