WAR SCHÖN. KANN WEG … Alter(n) in der Darstellenden Kunst

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WAR SCHÖN. KANN WEG … Alter(n) in der Darstellenden Kunst Herausgegeben von Angie Hiesl + ­Roland Kaiser



WAR SCHÖN. KANN WEG … Alter(n) in der Darstellenden Kunst


Wir danken der Kunststiftung NRW und dem Kompetenzzentrum für Kulturelle Bildung im Alter und inklusive Kultur (kubia) für die freundliche Unterstützung dieser ­Publikation sowie dem Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen und dem Kulturamt der Stadt Köln für die langjährige Förderung der Angie Hiesl Produktion.

WAR SCHÖN. KANN WEG … Alter(n) in der Darstellenden Kunst Herausgegeben von Angie Hiesl + Roland Kaiser in Zusammenarbeit mit Almuth Fricke Recherchen 162 © Theater der Zeit 2022 Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.theaterderzeit.de Redaktion: Almuth Fricke, Dr. Miriam Haller Lektorat: Nicole Gronemeyer Gestaltung: Tabea Feuerstein Umschlagabbildung: Roland Kaiser, Bearbeitung: Steffen Missmahl Grafische Konzeption und Gestaltung der Buchreihe: Agnes Wartner, kepler studio Printed in Germany ISBN 978-3-95749-406-1 (Paperback) ISBN 978-3-95749-455-9 (ePDF) ISBN 978-3-95749-456-6 (EPUB)


Recherchen 162

WAR SCHÖN. KANN WEG … Alter(n) in der Darstellenden Kunst Herausgegeben von Angie Hiesl + ­Roland Kaiser in Zusammenarbeit mit Almuth Fricke



Inhalt

Angie Hiesl + Roland Kaiser Vorwort 7 Die Un/Sichtbarkeit von Alter in der Kunst

Alexandra Kolb Alternative(s) Sichten Ambiguitäten des Alter(n)s am Beispiel von x-mal Mensch Stuhl Miriam Haller und Susanne Martin Ageing trouble tanzen! Theoretische und tänzerische Erkundungen zur Performativität des Alter(n)s Madeline Ritter Wings of change Alter ist kein Handicap – auch nicht im Tanz »Was man im Alter so erlebt, kenne ich seit meiner Kindheit« Ein Interview mit Gerda König

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Im Spannungsfeld von Innovation und Kontinuität

Franziska Werner Forever Young oder Stages of Ageing? Das Thema Altern in der Freien Szene – eine Kurationsaufgabe

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Kathrin Tiedemann Wie kommt das Neue ins Theater? Ein autofiktionales Gespräch

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»Manchmal habe ich das Gefühl, Kunst von älteren ­Menschen ist unsichtbar« Ein Interview mit Constantin Hochkeppel

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Von wegen sicher: Sozioökonomische Realitäten

Cilgia Gadola Systemcheck 97 Lebens- und Arbeitsrealitäten in den Darstellenden Künsten

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Inhalt

Michael Freundt Haltung, Erfahrung, Persönlichkeit Alter(n) und zeitgemäße Förderstrukturen in den Darstellenden ­Künsten »Solange es geht, will ich arbeiten« Ein Interview mit Katharine Sehnert

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Alter und Geschlecht

»Egal was kommt, wir bringen es auf die Bühne« Ein Interview mit Fanni Halmburger und Lisa Lucassen Dorothea Marcus Neue Schönheit braucht das Land Über alternde Frauen(bilder) auf und vor deutschen Bühnen Hannah Zufall und Ariane Koch Ich bin sicher, ich war schon einmal älter

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Handschrift, Werk, Archiv

Helena Waldmann Von einer, die auszog, sich neu zu erfinden »Ein Gnadenbrot fände ich bitter« Ein Interview mit Frank Heuel Barbara Büscher Archivprozesse Über Logiken des Sammelns von Artefakten aus, über, von ­Performances Herausgeber*innen und Autor*innen

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Vorwort WAR SCHÖN. KANN WEG … ist in der modernen Konsumgesellschaft eine treibende Maxime. Auch in der performativen Kunst, die ohnehin Flüchtiges und Vergängliches produziert, ist diese Haltung sehr gegenwärtig. Doch dem Hunger nach immer Neuem, Innovativem und Jungem steht die Unausweichlichkeit des Alterns gegenüber. ­Altwerden in den (Freien) Darstellenden Künsten war bis vor einigen Jahren noch keine Option. Das 25-jährige Jubiläum unseres Projekts x-mal Mensch Stuhl im Jahr 2020, das sich erfolgreich dem Trend des ständig Neuen widersetzt, bewegte uns dazu, das Alter(n) in der ­Darstellenden Kunst einmal genauer zu betrachten. Der ältere Mensch in unserer Gesellschaft – im Spannungsfeld von Architektur und urbanem Alltag – steht im Fokus von x-mal Mensch Stuhl. Orte der Inszenierung sind Häuserfassaden im urbanen Raum. In einer Höhe zwischen vier und sieben Metern sind weiße Stahlstühle montiert. Auf ihnen sitzen, hoch über den Köpfen der Passant*­innen, Menschen im Alter zwischen sechzig und achtzig Jahren. Sie führen auf zurückhaltende Weise inszenierte, ganz alltägliche Handlungen aus: das Lesen einer Zeitung, das Schneiden von Gemüse, das Hören des Radios – Tätigkeiten, die mit ihrem persönlichen Leben in Verbindung stehen. x-mal Mensch Stuhl wurde bisher in 38 Städten in 17 Ländern Europas sowie Nord- und Südamerikas gezeigt. Die thematische Ebene des Projekts sowie seine Nachhaltigkeit – 25 Jahre lang präsentiert und immer noch aktuell und gefragt – waren für uns Impulsgeber, den Bereich der Darstellenden Künste auf den Umgang mit dem Faktor Alter(n) zu untersuchen und in einem größeren Rahmen in Form eines Symposiums zu diskutieren. Ziel dieser Publikation ist es, einerseits die zentralen Ergebnisse und Positionen der Gespräche und des Symposiums zu dokumentieren, andererseits den Diskurs über Kunst und Alter(n) noch weiter anzuregen. Diese Motivation teilen wir mit kubia, dem Kompetenzzentrum für Kulturelle Bildung im Alter und inklusive Kultur, das uns auf diesem Weg begleitet und unterstützt hat. Startpunkt unserer Recherche war die Einladung von PACT ­Zollverein, die uns – gefördert durch den Fonds Darstellende Künste – im Herbst 2020 die Möglichkeit bot, uns dem Thema zunächst einmal aus eigener Perspektive und aus Sicht von Kolleg*innen anzunähern. In sechs Video-Interviews befragten wir im Zuge unserer Recherche Vertreter*innen der Freien Szene aus den Bereichen Theater, Tanz und Performance. Im Februar 2021 veranstalteten wir dann ein

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Angie Hiesl + Roland Kaiser

Online-Symposium unter dem Titel WAR SCHÖN. KANN WEG … Alter(n) in der Darstellenden Kunst, das auf sehr positive Resonanz bei Künstler*­ innen, aber auch Vertreter*innen von Fachverbänden, Förde­rinstitutionen sowie Kulturpolitik und Verwaltung im gesamten deutschsprachigen Raum stieß.1 Vor welchen Herausforderungen stehen Künstler*innen, egal ob sie am Anfang einer Karriere stehen oder etabliert sind? Wie wirkt sich das Alter eines Künstlers, einer Künstlerin bzw. eines Werks auf die Akzeptanz am Kunstmarkt aus? Wie steht es um die sozio­ökonomische Realität und Alterssicherung? Welche struk­turellen Hindernisse und Diskriminierungen gilt es zu über­winden und wie sehen generationensowie gendergerechte Lösungen und Förder­konzepte aus? Mit unserem aktuellen Lebensalter von 63 bzw. 67 Jahren ist für uns das Thema Alter präsenter geworden. Lange Zeit stand das kreative Arbeiten so im Mittelpunkt, dass der Blick auf die eigene Endlichkeit weitgehend im Hintergrund stand. Mit zunehmendem Alter ­verändert sich die Perspektive auf das eigene Schaffen und Leben. Neue Fragen treten an die Oberfläche. Wie gestalte ich das letzte Drittel oder Viertel meiner Arbeits-/Lebenszeit? Wie gehe ich mit meinem Werk, meinem Archiv um? Wie lange kann bzw. darf ich noch arbeiten – gibt es überhaupt ein Ende des künstlerischen Schaffens vor dem Tod? Wie entwickelt sich die eigene sozioökonomische Situation? Es wird immer deutlicher, in welch prekärer Lage sich viele Künstler*­innen, besonders im Alter, befinden. Nicht nur in der Kunst, sondern auch in anderen Arbeitsbereichen zeichnet sich zunehmende Altersarmut ab – ein Problem, das gesamtgesellschaftlich gelöst werden muss. Der mit den Interviews und im Symposium begonnene Diskurs wird in dieser Publikation festgehalten und durch weitere Fach­ beiträge fortgeführt, die das wichtige Thema aus künstlerischer, wissenschaftlicher, kuratorischer und kulturpolitischer Perspektive beleuchten. Im Kapitel Die Un/Sichtbarkeit von Alter in der Kunst führt Alexandra Kolb in ihrem Beitrag über »Alternative(s) Sichten. Ambiguitäten des Alter(n)s am Beispiel von x-mal Mensch Stuhl« in die Problematik der strukturellen sozialen Nichtsichtbarkeit des Alters ein und zeigt auf, welche Sichten auf den alternden Körper die Performance-Kunst ermöglicht. Es folgen mit »Ageing trouble tanzen!« theoretische und tänzerische Erkundungen zur Performativität des Alter(n)s und Möglichkeiten widerständiger Neu-Inszenierungen und Neu-Einschreibungen

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Vorwort

des Alter(n)s in den Künsten, die die Tanzwissenschaftlerin und ­Tänzerin Susanne Martin und die Kulturgerontologin und Bildungswissenschaftlerin Miriam Haller gemeinsam unternommen haben. Im Tanz ist in der Regel mit vierzig Jahren Schluss. Mit ihrer ­Initiative zur Gründung des Dance On Ensembles für ältere Tänzer*­ innen ist es der Kulturmanagerin Madeline Ritter gelungen, sichtbar zu machen, was die Tanzkunst – und die Gesellschaft – durch Ausstrahlung, Souveränität und eindrückliche Darstellungskraft gewinnt, die sich aus gelebter Erfahrung speist. In ihrem Beitrag »Wings of change« plädiert sie für neue Alter(n)sbilder auf unseren Bühnen und in unseren Köpfen. Das Kapitel schließt mit Auszügen aus unserem Interview mit Gerda König, der Choreografin, Tänzerin und Gründerin sowie ­Leiterin der DIN A 13 tanzcompany, die weltweit zu den führenden mixed-abled-Tanzensembles zählt. In ihrer künstlerischen Auseinandersetzung geht es um die differenzierte und diverse Bewegungsäußerung unterschiedlicher Körper – Alter ist davon nur eine Facette. Das zweite Kapitel fragt nach dem Spannungsfeld von Innovation und Kontinuität in der Freien Szene. Aus Sicht von Franziska Werner, künstlerische Leiterin der Sophiensæle Berlin, bedarf es einer neuen Generationensolidarität: Traditionell richtet die Freie Szene ihren Fokus auf Newcomer und Innovation. Aber was passiert, wenn die Jungen älter werden, wie kann ein sinnvolles Miteinander, eine­ ­Programm-Mischung zwischen den Älteren und Jüngeren aussehen und was bedeutet dies für die Kuration? Kathrin Tiedemann, künstlerische Leiterin und Geschäftsführerin des FFT Düsseldorf, ergründet das Generationenverhältnis in Form eines autofiktionalen Gesprächs. Für sie geht es nicht so sehr um einen Generationswechsel, als vielmehr um die Frage, wie sich das Theater den Dynamiken und Konflikten stellt, entlang derer heute die Neuverteilung der Macht verhandelt wird. Auch Constantin Hochkeppel, Physical-Theatre-Performer, The­ ater­­macher und Choreograf und mit Anfang dreißig unser jüngster Gesprächspartner, wünscht sich eine Gesellschaft, in der das Klima so ist, dass ein konstruktiver Austausch stattfindet und Jung und Alt gemeinsam zu neuen Einsichten gelangen. Er plädiert für Begegnungsplattformen sowie generationengerechte Förderung. Für seine Alterssicherung betreibt er schon in jungen Jahren Vorsorge. Dass dies angesichts der prekären Situation vieler Künstler*­innen dringend nötig ist, thematisiert das Kapitel Von wegen sicher: Sozioökonomische Realitäten.

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Angie Hiesl + Roland Kaiser

Cilgia Gadola, Leiterin des Forschungsprojekts Systemcheck vom Bundesverband Freie Darstellende Künste, beschäftigt sich mit der sozialen Situation Solo-Selbstständiger und Hybridbeschäftiger in der Freien Szene. Nicht zuletzt ausgelöst durch die Erfahrungen der Coronapandemie sucht Systemcheck nach Wegen, um die soziale Ab­sicherung für Künstler*innen zukunftsfester und fairer zu gestalten. Michael Freundt, Geschäftsführer des Dachverbands Tanz, fordert dazu auf, die Kunstlandschaft als Mehrgenerationenhaus zu begreifen, und macht Vorschläge, wie Kunst- und Kulturförder­ systeme für alle Altersgruppen gerechter werden könnten. Die Tänzerin und Choreografin Katharine Sehnert konnte nie durchgehend in die Rentenkasse einzahlen. Mit 85 Jahren muss und will sie weiterhin für ihren Lebensunterhalt arbeiten, denn sie möchte ihre Erfahrungen weitergeben – solange es geht. Das Kapitel Alter und Geschlecht eröffnen Fanni Halmburger und Lisa Lucassen, Mitglieder des Performance-Kollektivs She She Pop. Sie reflektieren im Interview ihren künstlerischen Umgang mit biografischen Erfahrungen wie der des Alter(n)s als Frau: »Egal was kommt, wir bringen es auf die Bühne« – das Einbeziehen der eigenen Biografie ist bei She She Pop Methode. Als Theaterkritikerin und Mitglied diverser Theaterjurys fordert Dorothea Marcus Neue Schönheit braucht das Land und kritisiert das veraltete Bild der älteren Frau auf und vor deutschen Bühnen. Der Vorhang dieses Kapitels fällt mit dem Dramolett »Ich bin sicher, ich war schon einmal älter« der Theaterautorinnen Hannah Zufall und Ariane Koch, die kürzlich mit The Golden Age eine Initiative für mehr ältere Frauen* auf deutschen Bühnen begründet haben. Im letzten Kapitel Handschrift, Werk, Archiv geht es um das, was bleibt. Für die Choreografin Helena Waldmann, deren Produktionen und Tourneen sie um die Welt geführt haben, ist ihr Archiv im Gedächtnis ihres Publikums in Europa, Asien, Afrika, Nord- und ­Südamerika verteilt. Dieses mobile und ganz persönliche Erinnerungsarchiv gibt ihr den Spielraum, sich immer wieder neu zu ­erfinden. Frank Heuel, künstlerischer Leiter des fringe ensemble, verortet seine künstlerische Handschrift zwischen den Polen, sich selbst treu zu bleiben und dennoch immer w ­ ieder Neues zu entdecken. Zu vererben wären für ihn Werte wie Loyalität, Achtsamkeit und Kontinuität, die er als Geist seines Ensembles weitergetragen wissen möchte – Werte der Beständigkeit, die vor einigen Jahren niemand mit der Freien Szene assoziiert hätte.

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Vorwort

Aus wissenschaftlicher und forschender Perspektive beschäftigt Barbara Büscher, Professorin für Medientheorie/-geschichte und Intermedialität an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig, die Frage, welche Prozesse zu Archivbildung in den Performance-­basedArts führen, wenn es dafür keinen stabilen Ort mit den herkömmlichen Ordnungen des Sammelns, Dokumentierens und Archivierens gibt. Sie erforscht, ob und wie ephemere oder performative Kunst­ formen archivarisch repräsentiert werden können. Unser herzlicher Dank gilt unseren Förderern: der Kunststiftung NRW, dem Ministerium für Kultur und Wissenschaft NRW, dem Förderfonds Kultur & Alter des Landes NRW sowie dem Kulturamt der Stadt Köln. Dem Kompetenzzentrum für Kulturelle Bildung im Alter und inklusive Kultur (kubia) danken wir für die umfangreiche Unterstützung in Form von Rat und Tat, mit der es sowohl das Symposium als auch diese Publikation begleitet hat. Besonders danken wir Almuth Fricke, der Leiterin von kubia, die maßgeblich bei der Herausgabe dieses Buches mitgewirkt hat. Ebenso danken wir dem Verlag Theater der Zeit für die Realisierung dieses Buchprojekts. Unser herzlicher Dank gilt darüber hinaus allen an der vorliegenden Publikation und dem Symposium beteiligten Personen. Wir danken den Referent*innen des Symposiums, den Interviewpartner*­­ innen und Autor*innen dieses Buchs, die durch ihren sehr persönlichen Blick das Thema greifbarer gemacht haben. Silvia Werner danken wir für die umsichtige Projektleitung sowie Dr. Barbara Kruse und Andreas Giesen für die fachkundige Prozessbegleitung und Moderation des Symposiums. Dr. Miriam Haller, Ruth Suermann und Pascale Rudolph haben zum Entstehen dieser Publikation redaktionell und organisatorisch mit großer Sorgfalt beigetragen. Ausblick: Das Thema Alter(n) in all seinen Facetten ist in vielen Köpfen und Institutionen angekommen und wird bereits lebhaft diskutiert. Wir hoffen, mit dieser Publikation die Diskussion weiter zu befeuern. Ein großer Schritt in Sachen Systemwandel wäre die zeitnahe Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens in angemessener Höhe, das die sozioökonomische Lage vieler Künstler*­­ innen, ob jung oder alt, bedeutend verbessern würde. Wir hoffen diesbezüglich auf ein baldiges Handeln seitens der Politik. ANGIE HIESL + ROLAND KAISER, Mai 2022 1 Eine ausführliche Dokumentation zum Symposium findet sich unter www.angiehiesl-rolandkaiser.de.

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Alternative(s) Sichten

x-mal Mensch Stuhl, Bordeaux 2004, Akteurin: Edith Höltenschmidt, © Roland Kaiser

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Alexandra Kolb

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Alternative(s) Sichten

Die Un/Sicht­ barkeit von Alter in der Kunst

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Alternative(s) Sichten

Alexandra Kolb

Alternative(s) Sichten Ambiguitäten des Alter(n)s am Beispiel von x-mal Mensch Stuhl Dieses Buch beginnt mit dem Kapitel Die Un/Sichtbarkeit von Alter in der Kunst. Wie also wird der alternde Körper diskutiert, dargestellt und choreografiert? Was ist sichtbar und was fehlt in der Darstellung des Alters in der Darstellenden Kunst? In diesem einleitenden Kapitel geht es um die Verortung und Sichtung alternder Körper. Obwohl der Schwerpunkt auf der Performance liegt, insbesondere auf Angie Hiesls Performance-Installation x-mal Mensch Stuhl, ist es wichtig, das umfassendere soziale Phänomen zu betrachten, bei dem der Prozess des Alterns zu einer Unsichtbarmachung älterer Menschen führt. Wie Menezes et al., neben anderen Autoren, schreiben: »Many older adults reported that becoming older had rendered them invisible to other community members, adopting separate, parallel lives with little dayto-day recognition when moving around public spaces.«1 Dieser ­Mangel an Anerkennung spiegelt sich auch in ihrer Abwesenheit in der kulturellen Bildsprache wider. Fragen der Ausgrenzung sind eng mit der Körperlichkeit verbunden, denn wie der Gesundheitswissenschaftler Christopher Faircloth in seinem Buch Aging Bodies: Images and Everyday Experience feststellt, ist es der physische Körper, der «visibly marks us as ageing«.2 Doch wie Miriam Haller und Susanne Martin im nächsten Artikel treffend feststellen, werden die körperlichen Realitäten des Alters oft hinter Statistiken und Zahlen versteckt. Während sich in letzter Zeit eine ganze Reihe akademischer und journalistischer Texte Fragen des Alterns gewidmet haben, etwa den Barrieren, denen sich ältere Menschen im öffentlichen Raum gegenübersehen, oder finanziellen Herausforderungen wie der Rente, steht dies in deutlichem Kontrast zur relativen Unsichtbarkeit des älteren Körpers in Kunst und Kultur. Und selbst in der Sozialtheorie ist die fleischliche Materialität der alternden Physis trotz der Fülle theoretischer Diskussionen über Körperlichkeit oft ein merkwürdiges Versäumnis.3 Um diese Lücke zu schließen, weist Faircloth auf die Notwendigkeit hin, sich auf den gelebten Körper in seinem alltäglichen Umfeld zu konzentrieren und das Bewusstsein für die persönlichen und sozialen Auswirkungen der in kulturellen Kontexten dargestellten Bilder

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des Alterns zu schärfen. Denn, wie er argumentiert, haben kulturelle Darstellungen erheblichen »impact on self-conceptualization both in the present and in the future«4 und können somit entscheidend bestimmen, wie ältere Menschen sich selbst sehen und identifizieren. (Natürlich ist es ebenso aufschlussreich, was ihre Auslassung über das Altern bedeutet und aussagt). Verkörperte Kunstformen wie das Theater und insbesondere der Tanz haben angesichts der zentralen Bedeutung, die sie dem Körper beimessen, potenziell viel über das Altern zu sagen. Ihre Werke tragen durch die Art und Weise, wie das Alter visuell dargestellt wird, zu Diskursen über das Alter bei, und in den letzten zehn Jahren haben sich eine Reihe von Texten, insbesondere über Tanz5, mit diesem Thema befasst. Viele dieser Texte betonen, wie wichtig es ist, zu untersuchen, wie Inhalt und Besetzung künstlerischer Werke die Erfahrung und Körperlichkeit älterer Menschen zum Ausdruck bringen können, während andere insbesondere das Alter(n) unter einem geschlechtsspezifischen Gesichtspunkt untersuchen – ein Thema, das in einem späteren Abschnitt dieses Buches ausführlicher behandelt wird. Ältere Menschen bleiben im traditionellen westlichen Tanz­ theater weitgehend unsichtbar, abgesehen von einigen Charakter­ rollen, die oft eher unheimlich sind (wie Hexen, Coppelius usw.). Der Bühnentanz ist eng mit einem kulturell verstandenen »idealen« Tanzkörper verbunden: jung, stark und schlank.6 In dem Bestreben, die altersfeindliche Denkweise innerhalb des Berufsstandes zu bekämpfen, und im Zuge der sich erweiternden Auftrittsmöglichkeiten für ältere Tänzer*innen im postmodernen Tanz wurden in jüngster Zeit Fragen des Alters stärker in den Blick genommen. Dazu gehörten in den letzten Jahrzehnten die Gründung von Kompanien, die auch ältere Tänzerinnen und Tänzer einbeziehen,7 Choreograf*­innen, die sich mit Fragen des Alters, des Alterns oder der Altersdiskriminierung auseinandergesetzt haben, und die Schaffung von (oft interdisziplinären) Werken, die weniger auf technischem Können und Ausdauer beruhen, sondern alternative Körperdarstellungen bieten und auf unterschiedliche Körperlichkeiten eingehen. x-mal Mensch Stuhl von Angie Hiesl ist ein interdisziplinäres Kunstwerk, das die Grenzen zwischen Tanz (im weitesten Sinne) und bildender Kunst überschreitet, um komplexe und vielschichtige Bilder des alternden Körpers zu vermitteln, die nicht offensichtlich theoretische Positionen widerspiegeln oder abgrenzen, sondern vielmehr eine nuancierte Reflexion hervorrufen. Zur Veranschaulichung meiner Argumentation werde ich mich auf die 2017 gefilmte Wiedergabe

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Alternative(s) Sichten

(Kamera: Roland Kaiser)8 dieser einstündigen Performance-­ Installation konzentrieren, die 2020 ihr 25-jähriges Jubiläum feierte. Sie wurde im Zentrum von Graz in Österreich gezeigt – einer Stadt mit fast 300000 Einwohner*innen, die für ihre Mischung aus Gebäuden im Stil des Barocks und der Renaissance sowie der Moderne bekannt ist. Das Ensemble besteht aus elf älteren Amateurdarsteller*innen aus Deutschland und Österreich, die einzeln und ausgesetzt auf minimalistischen weißen Stühlen sitzen, die hoch über dem Boden an verschiedenen Hausfassaden befestigt sind. Interessanterweise verlangt die Produktion vom Publikum, diese älteren Körper buchstäblich zu orten: Selbst den »offiziellen« Zuschauer*innen wird der genaue ­Standort der Performance-Installationen nicht mitgeteilt, so dass sie gezwungen sind, sich in der Gegend umzusehen und ständig den Blick vom Boden zu heben, um herauszufinden, wo sich die einzelnen Darsteller*­ innen befinden. Die Darsteller*innen sind zwar beiden Geschlechts, aber ich habe diese spezielle Grazer Version ausgewählt, weil sie auf stereotype Bilder von Weiblichkeit anspielt, auf die ich ­später zurückkommen werde. Das Stück bietet Momentaufnahmen alltäglicher Tätigkeiten aus dem Leben der Darsteller*innen, die wir bei der Ausführung einfacher, alltäglicher Handlungen sehen, die durch ihre Lebensgeschichte und -umstände inspiriert sind. Wir beobachten zum Beispiel ältere Menschen beim Schminken, Lesen, Würfeln, Waschen und Schnitzen von Gemüse. Hiesl erzählte mir, dass die Inspiration für diese Handlungen aus den eigenen Geschichten der Darsteller*innen stammt. Für das erste Casting sollten die potenziellen Teilnehmenden »etwas aus ihrem Leben«9 mitbringen, etwa einen vertrauten Gegenstand, und während der Proben wurden sie ausführlicher über ihr Leben und ihre Interessen befragt. Die einzelnen Vignetten sind also locker autobiografisch. Ich argumentiere, dass die besondere Bedeutung von Hiesls Arbeit darin liegt, dass sie die Komplexität des Alterns überzeugend erfasst, indem sie sich sowohl den Stereotypen (wie sie häufig in kulturellen Darstellungen und Bildern, einschließlich Tanzwerken, vermittelt werden) als auch den typischerweise binären Theorien in der Gerontologie und verwandten (z. B. medizinischen und soziologischen) Disziplinen entzieht. Die in den 1960er Jahren entwickelte ­Disengagement-Theorie besagt, dass das Altern unweigerlich zu einer Verringerung der Interaktionen zwischen dem Einzelnen und seinen persönlichen Beziehungen und sozialen Systemen und zu einem Rückzug führt. Die im selben Jahrzehnt entwickelte, aber diesem Modell

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entgegengesetzte Aktivitäts-Theorie besagt, dass ein optimales Altern eintritt, wenn die Menschen sozial engagiert und aktiv bleiben, was zu einer größeren Lebenszufriedenheit führt. Auch die Debatte zwischen biologischen und kulturellen Theorien des Alterns beruht auf zwei gegensätzlichen Sichtweisen: Die eine betrachtet das Altern als natürliche oder biologische Tatsache und betont die körperlichen Veränderungen, die mit diesem Prozess einhergehen (z. B. Falten, graues Haar); die andere sieht das Altern als sozial konstruiert an. In der letztgenannten Perspektive werden zwar die biologischen Gegebenheiten nicht unbedingt geleugnet, aber das chronologische Alter einer Person wird durch soziale Normen bestimmt, die mit Altersgruppen ver­ bunden sind, was dazu führt, dass die Menschen bewusst oder unbewusst eine Performance des Alter(n)s entwickeln, um den Erwartungen altersgerecht zu entsprechen.10 Die Maske-des-Alterns-Theorie schließlich besagt, dass eine Diskrepanz zwischen dem äußeren Erscheinungsbild und dem eigenen Selbstbild bestehen kann. So kann man sich beispielsweise viel jünger fühlen, als man aussieht11, was ein jüngeres, jugendliches Selbst voraussetzt, das in einem älteren Körper gefangen ist. Dies kann als diametral entgegengesetzt zu einer Vorstellung vom Altern im Sinne einer kontinuierlichen Lebensgeschichte gesehen werden, die nicht auf eine vergangene, verschüttete Identität zurückgreift, sondern vielmehr die Kontinuität einer Person betont. Die Besonderheit von x-mal Mensch Stuhl besteht meiner Meinung nach darin, dass es sich einer eindeutigen Kategorisierung älterer Menschen in einem dieser theoretischen Modelle verweigert und sich somit den gängigen Diskursen und etablierten Theorien des Alterns entzieht. Trotz der scheinbaren Einfachheit des Werks bleibt seine Darstellung des Alterns mehrdeutig und fließend und vermeidet die Falle, ältere Darsteller*innen zur reinen Markierung theoretischer oder ideologischer Positionen zu benutzen, statt sie mit ihrer eigenen Stimme sprechen zu lassen. Nehmen wir zum Beispiel die Bedeutung der Stühle. Im eigentlichen Sinne könnten sie den oft sitzenden Lebensstil älterer Menschen symbolisieren: Schließlich ist das Sitzen auf Stühlen, wie Hiesl betont, das, was viele (nicht nur) alte Menschen tatsächlich tun.12 In dieser Hinsicht repräsentieren die Performer*­ innen ihr eigenes häusliches Leben. Allerdings werden ihre privaten Wohnräume hinter den Fassaden um 180 Grad nach außen in den Stadtraum gedreht. Durch die öffentliche Inszenierung weicht die Produktion von der üblichen Beschränkung der alten Menschen auf die private Wohnung (oder das Pflegeheim im Falle der Hochbetagten) ab, indem sie sie zum Teil des städtischen Lebens macht.

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Aber auch die einzelnen Stühle, die in beträchtlichen Abständen an Hausfassaden bis zu sieben Meter über dem Straßenniveau angeschraubt sind, könnten auf die physische Isolierung der älteren ­Menschen vom Rest der Gesellschaft hinweisen: Dies entspräche der ­Disengagement-Theorie des Rückzugs. Man könnte dies sogar religiös deuten als Beginn des Abschieds von der irdischen Existenz und des Aufstiegs zum Himmel. (Tatsächlich wurde bei einer früheren Aufführung der Tod selbst mit dem Stück verwoben, als einer der Teilnehmer vor der Aufführung verstarb: Sein Stuhl wurde umgekippt und leer gelassen, aber als Zeichen des Gedenkens ausgestellt.) Die Position der Stühle könnte auch als Fixierung der älteren Menschen auf einen bestimmten Ort gesehen werden, was Faircloths Einsicht widerspiegelt, dass »in our society, we place the aged in a single place; ignoring the various places of life they might actually place themselves«.13 ­Faircloth bezieht sich hier auf eine verbreitete einseitige Sichtweise, bei der ältere Menschen allein auf ihr Alter reduziert werden, als ob sie alle eine gemeinsame Identität hätten, anstatt ihre unterschiedlichen Charaktere, Aktivitäten und Einstellungen anzuerkennen. Wie er ­ ­weiter ausführt: »They are not just old; they are many things.«14 Wie können wir also alternde Körper besser würdigen, wenn ihnen so oft wenig kulturelle Bedeutung beigemessen wird? Selbst jetzt, fast zwanzig Jahre nach Faircloths Veröffentlichung, bleibt diese Frage relevant. x-mal Mensch Stuhl versucht eine Antwort darauf zu geben; es zeigt »the actual practices, structures of thoughts and habits that we came to know as old age«15, die aber oft nicht anerkannt bzw. die übersehen werden. Es präsentiert somit eine alternative Konzeption des gelebten älteren Körpers in einer alltäglichen Umgebung. Indem wir den Darsteller*innen bei konkreten Freizeitbeschäftigungen oder Aktivitäten zusehen und Ausschnitte aus ihrem Leben für ein breiteres Publikum sichtbar werden, erfahren wir etwas über die sozialen Kontexte, in die ältere Körper eingebettet sind, jenseits von Narrativen über den körperlichen Verfall, medizinische Behandlungen oder politische Anstrengungen, die ihre Mobilität erleichtern sollen. So sitzen sie nicht »nur« auf Stühlen, um sich scheinbar aus der aktiven Gesellschaft zurückzuziehen, sondern sind intensiv mit einer Vielzahl von Aufgaben beschäftigt. Ein männlicher Darsteller (Walter Cadek) repariert ein Transistorradio, da er gerne Dinge repariert und dies sein Lieblingsgerät ist. Eine Frau (Birgitta Altermann) spielt eine winzige Konzertina – sie ist Musikerin und Kabarettistin und spielt das Instrument immer noch auf der Bühne – und ein anderer Mann (Josef Geiser) besaitet einen Badmintonschläger und verweist damit auf seine

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­ reizeitbeschäftigung, das Ausüben dieser Sportart. Diese Praktiken F beziehen sich auf das gegenwärtige Leben der Teilnehmenden und implizieren, dass sie auch im Alter aktiv bleiben (eine Anspielung auf die so genannte Aktivitäts-Theorie des Alterns). In einigen früheren Versionen beinhalten die Handlungen der Darsteller*innen jedoch auch Erinnerungen an die Vergangenheit und beziehen sich auf die Erinnerungskultur. In jedem Fall steht das, was sie tun, in direktem Zusammenhang mit ihnen als Individuen. Es handelt sich eindeutig um eine Performance, aber die Teilnehmenden scheinen nicht aufzutreten – wir haben vielmehr den Eindruck, sie (halb Rolle, halb sich selbst verkörpernd) in ihrer häuslichen Umgebung zu beobachten, als säßen sie in einer Vitrine. Das Fehlen einer Interaktion zwischen den älteren Performer*innen und den Zuschauer*innen verleiht der Produktion einen entschieden ausstellungsähnlichen Charakter, der das Visuell-künstlerische unterstreicht und betont, dass wir in erster Linie zur Beobachtung der »Besitzer*­ innen« der Stühle eingeladen sind und nicht zum direkten Austausch mit ihnen. Die Performer*innen sind zwar in die Unwägbarkeiten des städtischen Geschehens eingebunden, die eine wichtige Rolle bei der Rezeption des Stücks spielen, doch sind sie vollkommen in ihre Aktivitäten vertieft und ausdrücklich angewiesen, nicht auf die Ansprache der Zuschauer*innen zu reagieren. Die wiederholte Frage eines zufälligen Passanten: »Was machen Sie da oben?«, bleibt unbeantwortet. Indem Hiesl die »corporeality of mundane practice [which] has been ignored for all too long«16 hervorhebt und den Alltag älterer Menschen inmitten des Trubels des städtischen Geschehens platziert, entzieht sich ihre Arbeit dem konventionellen, idealisierten Format vieler Bühnen­stücke und verzichtet auf szenische Elemente wie Bühnenbeleuchtung, Kostüme und Musik. In vielen kulturellen Kontexten oder kritischen Diskursen würden solche Akteure und Handlungen als zu unbedeutend oder unwichtig angesehen, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Hier werden sie zur Kunst gemacht und ziehen die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich. Gleichzeitig scheint die erhöhte Position der Performer*innen den alltäglichen Beschränkungen zu trotzen, nicht ganz unähnlich dem Schweben im Ballett oder der Verwendung von Seilzügen, die es Bühnenkünstler*innen ermöglichen zu »fliegen«. Die beträchtliche Höhe der Stühle hat in x-mal Mensch Stuhl aber einen besonderen Effekt, da älteren Leuten die physische Leistung, dort hinaufzukommen und gar so exponiert zu sitzen, meist nicht zugetraut wird.

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Da sie in ihrer Position ihre Beine und ihren Unterkörper kaum benutzen können, ist der Bewegungsradius der Darsteller*innen auf ihre Arme und Hände beschränkt. Auch dies ist interpretativ mehrdeutig und lässt somit alternative Sichtweisen zu. Einerseits können wir darin die Hauptaktivitäten älterer Menschen sehen, die nicht mehr so gut gehen können – die Einschränkung der körperlichen Fähigkeiten entspricht also einer Sichtweise des Alterns als Prozess des unvermeidlichen körperlichen Verfalls. Es sind jedoch auch andere Lesarten möglich. Wie Mark Franko mit Blick auf ältere professionelle Tänzer*­ innen – konkret eine Performance von Ruth St. Denis aus dem Jahr 1963, als sie 85 Jahre alt war – aufschlussreich argumentiert, »age was not necessarily the death of dance, but possibly the moment of its greatest gestures«.17 Die Hände sind oft der letzte Teil des Körpers, der die technischen und motorischen Fähigkeiten beibehält und als solcher für die Erfahrung der Körperlichkeit des (älteren) Menschen stehen kann: »The hands maintain a total mobility as if they were, in ­themselves, the body.«18 Ihre potenzielle Bedeutung ist also vielfältig. Erstens sind sie in der Lage, Erinnerungen einzukapseln, die in den Händen konzentriert sind und die Besonderheit der Bewegung eines Körpers verraten. Zweitens verlagern sie die Frage, wer tanzen (oder sich auf assoziierte künstlerische Weise ausdrücken) kann, jenseits von Parametern der Virtuosität und Athletik des gesamten Körpers. Und drittens weisen sie (im wörtlichen wie im übertragenen Sinne) darauf hin, wie der ältere tanzende Körper »concepts of labour and productivity« entkommen kann,19 was uns dazu veranlasst, über Vorstellungen von Nützlichkeit und Produktivität sowohl in Bezug auf das Alter als auch auf den künstlerischen Bereich nachzudenken. In der Tat könnte man sagen, dass alle Performer*innen von Hiesl produktiv sind, wenn auch nicht im Sinne einer wirtschaftlichen Leistung, ­sondern eher in der Ausführung nützlicher (Reparaturen, Gemüseschneiden, Stricken) oder künstlerisch orientierter Tätigkeiten (Lesen oder Instrumentalspiel). Schließlich lohnt es sich, die Praktiken der Performer*innen mit der städtischen Umgebung, in die sie eingebettet sind, in Beziehung zu setzen. Die Wechselbeziehung zwischen ihren Handlungen und den Details der Stadtlandschaft dient meiner Meinung nach dazu, die Doppelmoral des Alterns hervorzuheben, der zufolge die Attraktivität von Frauen mit zunehmendem Alter schneller abnimmt als die von Männern. Diese Idee wurde erstmals von Susan Sontag vorgebracht20 und gab den Anstoß zu einer intersektionalen Analyse kultureller Normen, die sich auf Merkmale wie Alter, Geschlecht und Klasse beziehen.

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Alexandra Kolb

Auch wenn x-mal Mensch Stuhl geschlechtsspezifische Altersnormen und damit zusammenhängende Formen der Ungleichheit oder des Machtungleichgewichts nicht direkt thematisiert, spielt die Performance durch ihre kulturelle Bildsprache indirekt auf sie an. Um zu verdeutlichen, was ich meine, betrachte ich zwei Vignetten, die im Film in unmittelbarer Nähe zueinander gezeigt werden und die den alternden weiblichen Körper in der Ausführung einfacher Alltagshandlungen mit stereotypen Bildern von Weiblichkeit kontrastieren. Im ersten Beispiel strickt eine weißhaarige Dame (Elfi Schalk) mit Hut, Brille und scheinbar österreichischer Tracht einen orange-roten Pullover auf ihrem Stuhl. Wenn die Kamera auf das Nachbargebäude schwenkt, liest man auf einem gelben Schild in fetten blauen Buchstaben »St. Pauli Laufhaus«, eine Art Bordell. Das blau-gelbe Farbmuster ähnelt dem des Rocks, den Frau Schalk trägt. In der zweiten Szene hält eine elegant fast ganz in Weiß gekleidete Dame mit langen weißen Haaren (in langer Hose und Oberteil, weißen Ballerinas und mit einem hellen Hut) ein rot besticktes Kissen auf dem Schoß und nimmt einen Schluck aus einer goldenen Tasse, die sie anschließend wieder auf die Untertasse stellt. Die Darstellerin (Hedwig Marie Ahn) trinkt gerne Tee und wählt ihre Kleidung und Accessoires mit Sorgfalt aus.21 Ihr Stuhl steht neben einer Statue, die an der Fassade des Hauses angebracht ist und die Jungfrau Maria darstellt, die das Jesuskind in ihren Armen hält. Ahns Kleidung hat eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit der ­Statue, sowohl was die Farbe als auch die Falten der jeweiligen Kleidungsstücke betrifft. Beide Szenen beziehen sich auf seit Langem etablierte und weit verbreitete Stereotypen der Frau: auf der einen Seite die Prostituierte (eine Art »femme fatale«), auf der anderen das idealisierte Bild der jungfräulichen Mutter (nach christlichem Glauben vom Heiligen Geist geschwängert). Obwohl diese Bilder in vielerlei Hinsicht diametral entgegengesetzt sind – die Heilige und die Sünderin – haben sie Gemeinsamkeiten. Beide sind Teil einer reichen Genealogie von Weiblichkeitsklischees, die in der westlichen Kultur propagiert werden und herrschende Ideologien oder unerreichbare Ideale widerspiegeln: Beide besitzen »Schönheit« (ob rein körperlich oder ethisch) und stellen Projektionsflächen männlicher Fantasien dar; und vor allem werden beide mit Jugend und einer außergewöhnlichen Vorstellung von Weiblichkeit assoziiert. Durch die Gegenüberstellung realer (älterer) Frauen mit diesen Merkmalen der städtischen Infrastruktur und die Herstellung von Assoziationen zwischen ihnen kontrastiert x-mal Mensch Stuhl auf witzige Weise die jugendlichen Stereotypen der

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Alternative(s) Sichten

­ euschen Magd Gottes und der hypersexuellen Kurtisane mit dem tatk sächlichen Erscheinungsbild und den Alltagspraktiken von Frauen im Alterungsprozess. Auf diese Weise wird die Aufmerksamkeit auf Formen und Aspekte der Weiblichkeit gelenkt, die in der Regel im kulturellen Rahmen unsichtbar sind. Im Fazit zeigt x-mal Mensch Stuhl, dass es durchaus möglich ist, ältere Körper zu finden: Wir müssen nur unseren Blick neu ausrichten. 1 Menezes, Deborah, Woolrych, Ryan, & Sixsmith, Judith: »›You really do become invisible‹: examining older adults’ right to the city in the United Kingdom«, in ­Ageing and Society (2021), S. 1 – 20. 2 Faircloth, Christopher: »Introduction: Different Bodies and the paradox of aging: Locating aging bodies in images and everyday experience«, in Faircloth, Christopher (ed.): Aging Bodies: Images and Everyday Experience, Walnut Creek, Cal. 2003, S. 1 – 26. Zitat auf S. 16. 3 Ebd., S. 14. 4 Ebd., S. 16. 5 Siehe zum Beispiel Schwaiger, Elisabeth: Ageing, Gender, Embodiment and Dance. Finding a Balance, Houndsmill, Basingstoke 2012; Martin, Susanne, Dancing Age(ing): Rethinking Age(ing) in and through Improvisation Practice and Performance, Bielefeld 2017; Nakajima, Nanako/Brandstetter, Gabriele (eds.): The Aging Body in Dance: A Cross-Cultural Perspective, London, New York 2017. 6 Siehe Schwaiger: Ageing, Gender, S. 30 – 31. 7 Siehe z. B. Jiri Kylians NDT3-Kompanie für Tänzer über vierzig (1991 – 2006), die Company of Elders, die aus Tänzern ab sechzig besteht, und das Dance on Ensemble für die Altersgruppe vierzig+. Der Aufsatz von Madeline Ritter in diesem Band befasst sich mit der letztgenannten Gruppe. 8 Hiesl, Angie: x-mal Mensch Stuhl. Performance-Installation von Angie Hiesl. Graz, Österreich 2017, im Rahmen des Festivals La Strada Graz. Künstlerische Leitung: Angie Hiesl + Roland Kaiser. Kamera und Autorschaft: Roland Kaiser. Online verfügbar unter https://angiehiesl-rolandkaiser.com/projects/x-times-people-chair/, letzter Zugriff am 16. August 2022. 9 Hiesl, Angie. Von der Autorin telefonisch interviewt. 20. März 2017. 10 Siehe die folgenden Texte: Der Aufsatz von Haller und Martin in diesem Band; Haller, Miriam: »Undoing age: Die Performativität des alternden Körpers im autobiografischen Text«, in: Kulturelle Bildung online (2020/2010), https://www. kubi-online.de/artikel/undoing-age-performativitaet-des-alternden-koerpers-autobiographischen-text (Zugriff am 14.09.2021); und Thomas, Helen: »Older bodies: performing age, ageing and invisibility«, in: Thomas, Helen: The Body and Everyday Life, London, New York 2013, S. 107 – 137, Zitat auf S. 108. 11 Featherstone, Mike & Hepworth, Mike, »Ageing and old age: Reflections on the post-modern life course«, in Bytheway, Bill (ed.): Becoming and Being Old: Sociological Approaches to Later Life, London 1989, S. 143 – 157. 12 Hiesl, Angie. Interview mit der Autorin in Hiesls Atelier, Köln. 2. Januar 2016. 13 Faircloth: Einleitung, S. 17. 14 Ebd. 15 Tulle-Winton, Emmanuelle, »Old bodies«, in: Hancock, Philip et al. (eds.), The Body, Culture and Society, Buckingham 2000, S. 64 – 83. Zitat auf S. 68. 16 Faircloth: Introduction, p. 14. 17 Franko, Mark: »Why are hands the last resort of the aging body in dance? Notes on the modernist gesture and the sublime«, in: Nakajima, Nanako/Brandstetter, Gabriele (eds.): The Aging Body in Dance: A Cross-Cultural Perspective, London, New York 2017, S. 151 – 161. Zitat auf S. 151. 18 Ebd., S. 155. 19 Ebd., S. 154. 20 Sontag, Susan: »The double standard of aging«, in: Saturday Review of Literature 39 (1972), S. 29 – 38. Zitat auf S. 10. 21 Vgl. E-Mail-Kommunikation mit Angie Hiesl, 2. August 2022.

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Ältere Menschen sollten aufhören, Alexandra Kolb

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Auto zu fahren. Aber nicht, Kunst zu machen Alternative(s) Sichten

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Ageing trouble tanzen!

Miriam Haller und Susanne Martin

Ageing trouble tanzen! Theoretische und tänzerische Erkundungen zur Performativität des Alter(n)s Hypothese: Wissenschaf(f)tTanzSchafftWissen. Schafft Wissen Tanz? Welche Art Alter(n)swissen produziert der Tanz? Lassen sich Age(ing) Studies tanzen? Und was könnte Aufschlussreiches passieren, wenn man die alter(n)skritischen Strategien im zeitgenössischen Tanz mit denen einer anderen Kunstform wie der Literatur vergleicht? Mit ­solchen Fragen begegnen sich die beiden Autorinnen in diesem Text. Susanne Martin ist eine Tänzerin, die choreografiert, und eine Choreografin, die improvisiert, und eine Künstlerin, die zu Tanz und Alter(n) forscht. Methodisch arbeitet sie mit einem Practice-as-­ Research-Ansatz – in Deutschland meist künstlerische Forschung genannt.1 Das bedeutet in ihrem Fall, dass in ihrem Werk Dancing Age(ing)2 wissenschaftliche Texte und Bühnenstücke gleichwertig nebeneinanderstehen und dass sich manchmal Theorie und Praxis zu Lecture-Performances oder »getanzten Vorträgen«3 zusammenfügen. Susanne Martin erkundet, wie Tanz in unsere Alter(n)skultur inter­ venieren kann. Theoretisch bezieht sie sich auf die kulturwissenschaftliche Alternsforschung. Darum waren die theoretischen Texte von Miriam Haller für ihre Dissertation Dancing Age(ing) eine zentrale Quelle. Miriam Haller schaut als kulturwissenschaftliche Alterns- und Bildungswissenschaftlerin auf die Performativität des Alters und Alterns in Kunst, Kultur und Kultureller Bildung. Am Beispiel literarischer Texte hat sie Formen von Ageing trouble als Unbehagen gegenüber restriktiven Zuschreibungen und Normierungen der Alters untersucht und nach performativen Strategien gesucht, mit denen Altersstereotype in der Geschichte des Altersdiskurses neu eingeschrieben wurden.4 Die Auseinandersetzung mit dem Alter(n) im zeitgenössischen Tanz und tänzerischer Forschung fasziniert sie als staunende Zuschauerin. Sie tanzt leidenschaftlich gern – auf Partys, in Kneipen und in ihrer Küche. In diesem Text bitten wir einander zum Tanz: Wir versuchen, aus unseren unterschiedlichen Blickwinkeln die für die jeweilige Kunstformen spezifischen künstlerischen Mittel zur Infragestellung von restriktiven Altersnormen und stereotypen Altersbildern zu beschreiben

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Miriam Haller und Susanne Martin

und zu vergleichen. Wir begreifen diese Form der kollaborativen Textproduktion als einen Tanz, bei dem beide abwechselnd mal führen, mal folgen. Beide geben Impulse. Es geht bei diesem Tanz darum, sich gegenseitig zu beeinflussen und zu inspirieren. Wir suchen nach unseren gemeinsamen Kontaktpunkten. 1. Ageing trouble – Warm-up aus tänzerischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive Wir beginnen das Experiment, indem wir erneut und um ein paar Jahre gealtert auf unsere wissenschaftlichen Texte über das Alter(n) und auf einige von Susanne Martins Bühnenstücke und Lecture-Performances zu Tanz und Alter(n) schauen, um uns einander anzunähern, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu erkennen. 1.1 Den Körper ins Zentrum rücken Wenn Susanne Martin Lecture-Performances zu Tanz und Alter(n) zeigt, dann beginnt sie meist mit einem Warm-up. Sie erkundet als Einstieg improvisierend ihren Tanzkörper, den Raum, die aktuelle Situation. Dabei spricht sie mit dem Publikum. Ziel ist es, die Zuschauenden zu unterstützen, einen anderen Hör-, Seh- und Aufnahmemodus zu finden und sich auf zeitgenössischen Tanz einzulassen. Das Warm-up dient also dazu, das Publikum einzustimmen und mitzunehmen in die ›andere‹ Welt des zeitgenössischen Tanzes mit ihren so eigenen Formen des Wissens. Susanne Martin holt ihre eigene Leiblichkeit, das Erleben ihres alternden Körpers, in den Vordergrund als eines der Objekte und Subjekte des zu erarbeitenden Wissens und ­Verstehens. Das ist ein sehr anderer Zugang als in den akademisch geprägten Alter(n)swissenschaften üblich, wo der Körper meist komplett hinter den Text zurücktritt und die leibliche Erfahrung des Alter(n)s ebenso wie die Materialität des Körpers allzu oft hinter Statistiken, Zahlen und Skalen verschwindet. Phänomenologisch ausgerichtete Erziehungswissenschaftler wie Malte Brinkmann problematisieren die Leibvergessenheit der Gerontologie und erinnern an die geragogische Relevanz von Helmuth Plessners Unterscheidung von »Körper-Haben« und »Leib-Sein«5: »Vergessen, Schlafen, unter Schmerzen leiden, Lachen und Weinen und eben auch Altern zeugen vom Leib-Sein. Ich bin also immer schon leiblich existierend, bevor ich den Körper optimieren, disziplinieren oder regulieren kann. Körper und Leib verschränken sich ebenso wie Innen und Außen, Bewusstes und Vorbewusstes, Selbstbezug und Selbstentzug.«6 Hier bietet die künstlerische Tanz­

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forschung eine Möglichkeit, eine gerontologische Forschungslücke zu schließen und die Erfahrung des lebenslang alternden Leibes in Verschränkung mit den Disziplinierungen des Körpers in den Mittelpunkt zu stellen. Die Präsentation ihres eigenen ›mittelalten‹ Tanz-Körpers erlaubt Susanne Martin dann auch ein Befragen der Erwartungen an Repräsentationen von Tanz und von alternden Körpern: Sieht das Publikum in dieser Vortragenden in ihren Fünfzigern eine ›alte‹ oder ›alternde‹ Forscherin oder ist sie ›noch‹ alterslos/unmarkiert? 1.2 Begriffs-Stretching Im Sinne des gemeinsamen Tanzes führt jetzt Miriam Haller die nächsten Schritte ein. Im Begriffs-Stretching sollen zentrale Begriffe geklärt, gedehnt und gestärkt werden, mit denen in der kulturwissenschaftlichen Alter(n)sforschung gearbeitet wird. Begriffe bilden in der Wissenschaft so etwas wie den Fokus, der eine Bewegung in eine bestimmte Richtung leitet. Alter(n) Die Alternswissenschaften definieren den Forschungsgegenstand ›Alter‹ disziplinär unterschiedlich: Differenziert werden das kalendarische Alter, das biologische oder physische Alter, das soziale und das psychische Alter. Das biologische, physische Alter bezieht sich auf die Materialität des Körpers und auch auf den körperlichen Gesundheitszustand. Das soziale Alter wird durch gesellschaftliche Normen und Regulierungen bestimmt, wie zum Beispiel das Renteneintrittsalter. Das psychische Alter hingegen bezieht sich auf das gefühlte Alter und auf die subjektive Altersidentität. Das psychische Alter kann stark vom kalendarischen oder biologischen Alter abweichen. Genau genommen gibt es kein statisches Alter, sondern immer nur ein Altern im Prozess, in Bewegung. Das wird aber allzu oft vergessen. Durch die Schreibweise »Alter(n)« mit dem eingeklammerten »n« möchten wir deshalb dem Lesefluss einen Stolperstein in den Weg legen, der immer wieder an die Prozesshaftigkeit des Alterns erinnert. Kulturwissenschaftliche Alter(n)sstudien – auch Cultural Age(ing) Studies oder Kulturgerontologie genannt – bereichern die Alter(n)sforschung um Analysen der symbolischen Ordnung des Alter(n)s, der kulturellen Einschreibungen von Altersidentitäten und alternden Körpern. Sie nehmen die Macht der Altersnormen im Hinblick auf Identitätsregulationen und Körpernormierungen in den Blick.7 Sie untersuchen nicht nur, wie unser Alter(n) durch die Künste, durch die Medien, durch Architektur und Städtebau und last but not

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least durch (kulturelle) Bildungsangebote gebildet und geformt wird, sondern auch die Performanzen und Praxen von alternden Menschen in den Künsten, in den Medien, in der (Kulturellen) Bildung. Performanz und Performativität des Alter(n)s In der theoretischen Diskussion eröffnet sich eine schillernde Bandbreite unterschiedlicher Positionen, die versuchen, die vom ­ ­En­glischen to perform = aufführen, ausführen abgeleiteten Begriffe »Performanz« und »Performativität« zu besetzen. Die Theaterwissenschaft, Anthropologie und Ethnologie machen in ihrem Begriffsverständnis von Performanz den semantischen Aspekt der Aufführung stark. Den Aspekt der Ausführung betont hingegen der Begriff der Performativität in John Langshaw Austins Sprachphilosophie. Als performativ werden von Austin in seinen Vorlesungen Zur Theorie der Sprechakte8 Sprechsituationen beschrieben, in denen das Gesagte gleichzeitig vollzogen und ausgeführt wird. Der performative Satz führt aus, was er sagt: Er vollzieht eine Handlung durch seine eigene Äußerung. Das Ja-Wort im Kontext einer Trauung ist zum Beispiel so ein performativer Sprechakt, der etwas vollzieht. Diese Wirkungsmacht des Performativen greift Judith Butler in ihrer Performativitätstheorie auf. Sie verknüpft den Aspekt der Ausführung mit dem der Aufführung, wenn sie eine performative Handlung als »eine solche« charakterisiert, »die das, was sie benennt, hervorruft oder in Szene setzt«9. Durch derartige performative Handlungen sieht Judith Butler sowohl die Geschlechtsidentität als auch den Körper konstituiert. Sie definiert Performativität als »die ständig wiederholende und zitierende Praxis, durch die der Diskurs die Wirkungen erzeugt, die er benennt«10. In Übersetzung der Gendertheorie Judith Butlers auf die Kategorie des Alters lässt sich die These aufstellen: Die (Sprech-)Akte, Gesten und Inszenierungen des Alters »erweisen sich insofern als performativ, als das Wesen oder die Identität, die sie angeblich zum Ausdruck bringen, vielmehr durch leibliche Zeichen oder andere diskursive Mittel hergestellte und aufrechterhaltene Fabrikationen/Erfindungen sind«11. Das Wesen oder die Identität des Alters gibt es nicht: Wir stellen sie in jedem Sprechakt, in jeder Performance, in jeder alltäglichen Aufführung unseres Alter(n)s immer wieder aufs Neue her. Darin liegt dann aber auch die Möglichkeit widerständiger Neu-Inszenierungen und Neu-Einschreibungen des Alter(n)s: In abweichenden Re-Iterationen kultureller Einschreibungen können körperbezogene Altersnormierungen als ­ historisch variabel gezeigt und damit in ihrem allgemeinen Geltungsanspruch eingeklammert werden. Wenn auch solche subversiven For-

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men von Performativität – nach Butlers Verständnis – nicht willentlich gesteuert werden können, sieht sie doch eine Art von Handlungsfähigkeit im Versuch der resignifizierenden Neueinschreibung von Bedeutungen im Rahmen von Performances. Diese Performances können ebenso auf der Bühne, im Text, im Bild oder Film als auch im öffentlichen Raum und im alltäglichen Leben stattfinden. Ageing trouble Unter »Ageing trouble«12 versteht Haller Ambivalenzen gegenüber dem Alter(n), die sich sowohl in einem Unbehagen, einer Verstörung und Beunruhigung als auch in kreativer Rebellion oder Unruhestiftung gegenüber restriktiven normativen Alters- und Generationenidentitätszuschreibungen äußern. Lassen sich in Analogie zu Judith Butlers Verständnis von »Gender trouble«13 auch im Hinblick auf die Subversion von Altersidentitätszuschreibungen im Etikettieren und Labeln des Alters (die in der Gerontologie allzu oft mit dem verharmlosenden Begriff »Altersbilder« bezeichnet werden) Praxen von »Ageing trouble« erkennen? In welchen performativen Praxen kommt ein solches Unbehagen und Aufbegehren gegenüber restriktiven Altersnormierungen zum Ausdruck? Um diese Praxen zu analysieren, lässt sich auf die kulturgerontologischen Konzepte von »Doing age«, »Undoing age« und »Undoing age appropriateness« zurückgreifen.14 Un/doing age Um die unterschiedlichen performativen Konstruktionen, aber auch die Dekonstruktionen von Alter analysieren und begrifflich fassen zu können, lässt sich das praxeologische Konzept von »Doing age«15 zur Beschreibung von affirmativen performativen Konstruktionen von Alter und Altersunterschieden nutzen. Davon unterscheidet Haller mit dem Konzept »Undoing age«16 diejenigen performativen Strategien, mit denen Altersdifferenzen und mitlaufende Alterszuschreibungen negiert, demontiert, neu eingeschrieben und somit dekonstruiert werden. Susanne Martin spezifiziert im Rahmen dieser Theoriedebatte ein Konzept von »Undoing age appropriateness«17, worunter sie Praxen der Dekonstruktion von normierten und restriktiven altersangemessenen Verhaltenserwartungen versteht. 2. Age(ing) trouble-Strategien im Tanz und in der Literatur Welches Potenzial haben nun Tanz und Performance, sich im Sinne von Age(ing) trouble kritisch zu Alter(n)s-Stereotypen und Alter(n)s-­

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Anforderungen zu positionieren? Wir alle sind diesen Stereotypen ausgesetzt; wir internalisieren und habitualisieren sie. Als Gesellschaft formen und verfestigen wir sie gemeinsam – sogar wenn sie selbst-­ stereotypisierend sind.18 Daran ist der Tanz alles andere als unbeteiligt: Tanz hat eine lange Tradition, junge Körper und Jugendlichkeit zu feiern. Speziell zeitgenössischer Tanz versteht sich aber auch als Plattform, um nicht-normative Körper und Körpererfahrungen in Bewegung und auf die Bühne zu bringen und damit unsere stereotypen ­Körper- und Alter(n)sbilder auseinanderzunehmen. In Dancing Age(ing)19 unterscheidet Susanne Martin vier Bühnenstrategien im zeitgenössischen Tanz, die es einem Publikum erlauben, sich mit Bildern, Imaginationen und kritischen Repräsentationen von Alter(n) auseinanderzusetzen: – Sich den Jugendlichkeitserwartungen im Tanz widersetzen – Versöhnungen mit Alter und Tod thematisieren – Unterhaltsam mit Alter(n)snormen und -anforderungen ­kollidieren – Alter(n) vervieldeutigen Miriam Haller unterscheidet in ihren Analysen der Altersdiskurs­ geschichte im Anschluss an Gert Göckenjan die Diskursstrategien Altersspott, Altersklage, Altersschelte und Alterslob, mit denen die Alterstopik in der Literatur- und Diskursgeschichte seit der Antike immer wieder neu eingeschrieben wird.20 In welcher Relation stehen diese Diskursstrategien zu den Tanzstrategien, die Susanne Martin in ihrer Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Tanz gefunden hat? Um diese Fragen an konkreten Beispielen zu erläutern und miteinander in Verbindung zu setzen, greifen wir zunächst auf künstlerische Arbeiten aus dem Feld des zeitgenössischen Tanzes seit den neunziger Jahren zurück sowie auf Performances, die Susanne Martin selbst entwickelt und getanzt hat. Diese tänzerischen Strategien lesen wir dann quer zu den rhetorischen Strategien aus der Geschichte des Altersdiskurses. 2.1 Sich den Jugendlichkeitserwartungen widersetzen – Von der Altersklage zum Alterslob I Mit der Strategie, sich den Jugendlichkeitserwartungen im Tanz zu widersetzen, bezieht sich Susanne Martin auf Bühnenstücke, die bewusst und offensichtlich eine (tanz)kulturelle Jugendorientierung adressieren und die ebenso offensichtlich Passing-Strategien verwei-

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gern, die die Alternswissenschaftlerin Kathleen Woodward auch »­ masquerade of youth«21 nennt. Die Ehrlichkeit, nicht als jünger ›durchzugehen‹ (im Sinne einer Passing-Strategie), geht dabei besonders für weibliche Tanzschaffende Hand in Hand mit größerer Verletzlichkeit und der Gefahr, als Tänzerin und als Frau abgelehnt zu werden. Gleichzeitig ermöglicht diese Strategie dem Publikum aber auch eine kritische Befragung und Erweiterung ihrer kulturellen Bilder und Imaginationen zu alternden und alten Tänzerinnen. Beispielhaft für diese Strategie sind z. B. die Arbeiten der beiden britischen Choreografinnen Liz Aggiss22 und Wendy Houstoun23. Beide arbeiten multimedial mit Tanz, Text und Film auf der Bühne. Auf ihre je eigene Art fordern sie von ihrem Publikum explizit, sie als nicht mehr jung, als Tänzerinnen und als Künstlerinnen anzuerkennen. Aggiss z. B. tritt in The English ­Channel (2013) vor das Publikum und sagt: »Fuck it. I’m sixty. I’m gonna do what I damn well please« und ihr Tanz zitiert Punk,­ Vaudeville und Slapstick. Houstoun in 50 Acts (2011) wettert gegen die Tyrannei von Botox und Beige und ist eine der wenigen Performerinnen, die neben geistreich-skurrilem Humor auch unverhohlenen Ärger zu ihren Ausdrucksmitteln zählt. In der Literatur- und Philosophiegeschichte lassen sich vergleichbare Strategien entdecken – und das sogar schon in der Antike. So werden zum Beispiel in Platons oder Ciceros Auseinandersetzungen mit dem Alter(n) zunächst Topoi der Altersklage aufgerufen, die dann aber im weiteren Verlauf der Argumentation jeweils in ein Alterslob umgedeutet und damit umgewertet werden.24 In Texten der Moderne wird später diese Diskursstrategie aufgegriffen, um moralisch dazu aufzufordern, von der Klage über den Verlust jugendlicher Schönheit abzusehen und zum eigenen Alter zu stehen. Im Sinne einer solchen affirmativen Doing age-Praxis ruft zum Beispiel die Schriftstellerin Susan Sontag 1977 in ihrem Essay über den »double standard of aging«25 Frauen zu einem Alters-Outing auf und dazu, sich den Passing-Strategien zu widersetzen, jünger aussehen zu wollen und den Verlust jugendlicher Schönheit zu beklagen. Sontag beschreibt das Frau-Sein als einen theatralen Akt: »To be a woman is to be an actress. Being feminine is a kind of theater, with its appropriate costumes, décor, lighting, and stylized gestures.«26 Das Gesicht der älteren Frau sei eine Leinwand, auf die sie ein korrigiertes Porträt ihrer selbst als junge Frau zeichne.27 Sontags Argumentationsfigur ist nicht neu. Sie lässt sich als Intertext zu Oscar Wildes Roman Das Bildnis des Dorian Gray (1890) lesen. Die Figur des Dorian Gray klagt darin über die Vergänglichkeit jugendlicher Schönheit:

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ie traurig es ist! Ich werde alt werden, hässlich, widerlich. Aber W dies Bild wird immer jung bleiben. Es wird nie über diesen Junitag hinaus altern … Wenn es nur umgekehrt sein könnte! Wenn ich es wäre, der ewig jung bliebe, und das Bild altern könnte! Dafür – dafür – gäbe ich alles. Ja, nichts in der Welt wäre mir dafür zu viel. Ich gäbe meine Seele als Preis dahin.28 Beide Texte stellen eine Altersklage über die Vergänglichkeit jugendlicher Schönheit und eine am Ideal jugendlicher Schönheit orientierte Altersperformanz jedoch letztlich moralisch infrage und loben es, sich zum Alter zu bekennen. So ruft Sontag eindringlich dazu auf: »Woman should tell the truth.«29 2.2 Versöhnungen mit Alter und Tod thematisieren – Von der ­Altersklage zum Alterslob II Als zweite Strategie im Tanzfeld benennt Martin das versöhnliche Thematisieren von Alter und Tod. Als erfrischend interessiert-­ ­ versöhnlich erlebt Martin den australischen Improvisationsperformer Andrew Morrish30 während des Festivals ImprovisationXchange Berlin 2013. In seinem Solo probt er den eigenen Tod als ästhetische ­Erkundung von Stille und Loslassen, von Horizontalebene und dem Nichts. Eher auf konzeptioneller Ebene denn das jeweilige Bewegungsmaterial beschreibend spricht die US-amerikanische Choreografin Deborah Hay in ihrem Buch Lamb on the Altar über ihre künstlerische Praxis als Explorationen des Sterbens. Oder in ihren eigenen Worten: I am making an effort to come to terms with dying as an experiential process of which I possess negotiable comprehension. I want to include the perception of dying in my performance practice because it invigorates my living each moment.31 Beide richten sich damit gegen eine etablierte Auffassung von Tanz als Ausdruck von jugendlich übersprudelnder Energie und als einer der Schwerkraft trotzenden Vertikalität. Ähnlich wie viele Butohtänzer*­ innen verweisen sie (je sehr unterschiedlich) auf ein Potenzial von Tanz, eine Bereitschaft in uns zu erzeugen, uns mit dem Tod auseinanderzusetzen, unsere Sterblichkeit anzuerkennen und uns sogar auf das Sterben vorzubereiten. Auch diese Tanzstrategie kann in der Diskursgeschichte des Alter(n)s auf eine lange Tradition zurückschauen. Als Beispiel lässt sich die wohl berühmteste Dichterin des Altertums heranziehen.

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­ appho, die um 600 v. Chr. lebte, bezieht sich in einem Gedicht über S das Alter(n) sogar direkt auf den Tanz: »Die Knie tragen nicht, die doch einst leicht waren zum Tanzen, jungen Rehen gleich. Ich seufze darüber oft. Aber was kann ich tun? Alterslos kann man, wenn man ein Mensch ist, nicht werden.«32 Damit betont sie, dass – im Gegensatz zu den unsterblichen und ewig jungen Göttern – das Altern das Wesen des Menschen ausmacht. Der Bezug zum Tanz rückt Sapphos Gedicht beinahe schon in die Tradition des Memento-mori-Topos vom Totentanz. Dieser zieht sich ebenfalls seit der Antike in seinen jeweiligen historischen Variationen durch die Künste aller Epochen und kommt bis heute jedes Jahr in den wechselnden Inszenierungen von Hugo von Hofmannsthals Jedermann33 bei den Salzburger Festspielen zur Aufführung. 2.3 Unterhaltsam mit Alter(n)snormen und -anforderungen kollidieren – Von der Altersschelte zum Altersspott Mit dieser Strategie beschreibt Martin Stücke, die mit humorvoller Selbstentblößung arbeiten. Komödiantisch und selbst-parodistisch betonen sie die Unmöglichkeit, die Diskrepanz zwischen dem eigenen, allzu oft versagenden und stetig alternden Körper und den normativen Werten und Bildern in der Tanz- und Popkultur zu überwinden. Während z. B. der in Frankreich lebende Amerikaner Mark Tompkins in Song and Dance (2003) eine Art trauriger, alternder Narr ist, der immer noch gern ein Rockstar wäre, entlarven die in Deutschland arbeitenden Choreograf*innen Yoshiko Waki und Thomas Lankau in Forever Young (2004/2011) ebenso rührend und unterhaltsam ihre Tänzer*­ innen-Identitätskrise.34 Sie thematisieren körperliches Versagen, ­Narzissmus und Nostalgie. Sie fantasieren ihre Zukunft als Bühnenzombies, die in Endlosschleife ihre letzte Vorstellung ankündigen. Denn einerseits haben sie Angst, den Moment des würdevollen Bühnenabschieds schon längst verpasst zu haben, andererseits ahnen sie, dass da sowieso etwas nicht recht stimmt mit dem Prinzip ›Aufhören, wenn es/man am schönsten ist‹. Diese Tanzstrategie korrespondiert mit der Diskursstrategie der gesellschaftlichen Altersschelte, die sich – immer den Normen der jeweiligen Epoche angepasst – ebenfalls seit der Antike durch die Diskursgeschichte zieht. Erinnert sei hier zum Beispiel an die Topoi der Altersschelte in Aristophanes’ Komödie Die Wespen, in der sich eine Schelte von Lastern, Anmaßungen und sinnlichen Ausschweifungen im Alter findet, zu denen auch das Tanzen zählt: »War nicht der Alte toll und teufelswild, / Von allen Gästen der Besoffenste! / […] / Kaum

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hat er sich mit Leckereien vollgestopft, / Da springt er, tanzt und farzt und lacht dazu / Ganz wie ein Esel, den der Hafer sticht.«35 In der (Post-)Moderne werden die Topoi der Altersschelte und des Altersspotts diskursstrategisch mit rhetorischen Mitteln der (Selbst)-Ironie aufgegriffen und damit hyperaffirmativ umgewertet und neu eingeschrieben.36 Auserzählt mit Bezug zum Tanz wird diese Strategie in den Filmfiguren des zunächst gescholtenen und verspotteten, dann aber sich (selbst)ironisch ermächtigenden Tanzpaares »Ginger und Fred« in Federico Fellinis unvergesslichen gleichnamigen Film von 1985.37 2.4 Alter(n) vervieldeutigen – Alter(n) anders erzählen In der Auseinandersetzung mit dieser Strategie verortet Susanne ­Martin ihre eigenen Arbeiten. Sie macht seit 2003 Stücke zur Alter(n)s­thematik. 2003 bis 2009 hat sie zwei große, mehrteilige Serien erarbeitet, in denen sie eher theatral vorgegangen ist (JULIO38 2003 – 2006, Rosi tanzt Rosi39 2007 – 2009). Stand bei JULIO die Intersektionalität von Alters- und Geschlechtsperformativität40 und noch eher die Strategie »Unterhaltsam mit Alter(n)snormen und -anforderungen kollidieren« im Vordergrund, so entwickelte sich ihre tänzerische Auseinander­ setzung mit dem Alter(n) ab der Performanceserie Rosi tanzt Rosi immer stärker in Richtung Ambiguating age(ing), auf Deutsch: Alter(n) vervieldeutigen. Das Publikum begegnet Rosi zwischen 2007 und 2009 in den verschiedensten Lebensphasen und es begegnet auch ihrer Tochter, ihren Tänzerinnen und Schülerinnen – manchmal im selben Stück und meist alle von Susanne Martin dargestellt. In dem Stück The Fountain of Youth41 (2013) arbeitet sie dann nicht mehr mit Charakteren und damit auch weniger mit den bekannten Alter(n)sklischees. Ihre neue Frage ist stattdessen: Wie kann ich meinen eigenen, vage mittelalten Körper nutzen, um unterschiedliche Entwürfe, offene Fragen und mehrdimensionale Phänomene des Alter(n)s auf die Bühne zu bringen? Sie beschäftigt sich mit den Praxen des Jungbleibens, die natürlich vor allem von unserem Verhältnis zum Älterwerden erzählen. Auf der epischen Reise zum berühmten Jungbrunnen findet sie Rezepte und Übungen, aber auch Musik über das Jungbleiben und das Altwerden, Stimmungen und Emotionen wie Nostalgie und Melancholie, außerdem Ökonomien, Hoffnungen, Glauben und Strategien des Erinnerns und des Vergessens. Und sie findet Methoden, die vergehende Zeit zu arrangieren, zu komponieren, zu choreografieren. Sie lädt das Publikum auf die Bühne ein, um einige Jungbrunnenübungen auszuprobieren, und versteht das als gemeinsame Erfahrung, ein »gelehriger Körper«42 zu sein. Dabei interessieren

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sie die Fragen, Hoffnungen, Zweifel, die in ihr und vielleicht auch beim Publikum aufkommen, wenn sie angewiesen wird, etwas zu tun, das gut für sie sein soll, wenn ihr in Aussicht gestellt wird, jung zu bleiben. In dem Solo The Fountain of Age43 (2015) geht es dagegen um die Vieldeutigkeit von (Lebens)Zeit auf der Bühne, in der Musik und im Körper. Was macht es mit unserem Verständnis von Alter(n), wenn wir aufmerksam werden auf all die nicht-linearen Zeiterfahrungen, die die performativen Künste uns erlauben? Sie fragt sich und ihr Publikum: Wie alt sind meine Bewegungen? Was passiert, wenn wir gemeinsam durch Zeit und Zeitlichkeit schlingern, wenn mein Körper im Barockkleid Bewegungsrepertoires aus diversen Phasen der Tanzgeschichte moduliert, zum Beispiel aus dem klassischen Ballett, dem Ausdruckstanz und dem Tanztheater? Was passiert mit unserem Gefühl zum Alter(n), wenn ich fünfzehn Jahre nach der Premiere Ausschnitte aus meinen ersten Alter(n)sstücken zeige und mich inzwischen dem dargestellten Alter angenähert habe? Was, wenn ich selbst älter sein werde als diese Bühnenfiguren? Was passiert mit unserem Verständnis von Hier und Jetzt, wenn der immergleiche Song (Les feuilles m ­ ortes) uns in verschiedensten Versionen (mal bewusster, mal beiläufiger) immer wieder andere musikalische Epochen und (Lebens)Gefühle nahelegt? Martin schlägt vor, dass ein solches Schlingern durch die Zeit ein kohärentes Alter(n)snarrativ auflöst. Es ermöglicht, dass komplexere Interpretationen von Alter(n) an Sichtbarkeit gewinnen. »Alter(n) vervieldeutigen« ist daher eine alter(n)skritische Strategie, eine Undoing age-Praxis, die sich des Prinzips der Dekonstruktion bedient. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf das, was innerhalb dualistischer Vorstellungen von Vergangenheit und Zukunft, Alter und Jugend übersehen oder bagatellisiert wird. Die Strategie, Alter(n) choreografisch zu vervieldeutigen, bricht mit der angenommenen Selbstverständlichkeit eines gleichmäßigen und chronologischen Zeitlaufs und Lebensverlaufs mit vorhersehbareren Phasen von Entwicklung, Höhepunkt und Verfall. Diese tänzerischen Strategien der Ambiguitätsproduktion korrespondieren in der Literaturgeschichte mit Irritationen literarischer Erzählstrategien, wie sie konventionell in der Gattung des »Reifungsromans« vorkommen.44 In der Handlung zeitgenössischer Reifungsromane dominieren zu Beginn der Erzählung häufig Topoi der Altersklage wie die Klage über körperliche Einschränkungen, den Verlust sexueller Attraktivität und/oder gesellschaftlicher Wertschätzung sowie die Klage über Vergänglichkeit. Es folgen in der weiteren ­Entwicklung des Romanplots dann Topoi des Altersspotts wie ein

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s­ exuelles Verhältnis mit Jüngeren, eine waghalsige Reise oder andere, von den anderen Romanfiguren als altersunangemessen eingeschätzte Verhaltensweisen. Am Ende eines Reifungsromans finden sich häufig Topoi des Alterslobs wie Persönlichkeitswachstum, ›­ Carpe diem‹-­ Topoi angesichts des ›Memento mori‹, Neuanfang, Vergangenheitsbewältigung, soziales oder intellektuelles Engagement, Erhabenheit über bzw. Kompensation der körperlichen Einschränkungen durch Einstellungsänderung, Triebsublimierung, Selbstregierung.45 Schaut man jedoch genauer auf die Schreibweisen von Reifungsromanen wie zum Beispiel Monika Marons Endmoränen46 oder John M. Coetzees Zeitlupe47, so werden diese konventionellen Topoi zwar in ihnen aufgerufen, aber durch Ironie und andere rhetorische Topoi, die ­Ambiguität erzeugen, verunsichert.48 Das kann bis zur Auflösung der Zeitstruktur und einer Verweigerung kohärenten Erzählens gehen, wie in Friederike Mayröckers grandioser Erzählung Reise durch die Nacht: Auch wenn (oder gerade weil) die Ich-Erzählerin in diesem Text manchmal nicht weiß, »was für ein Tag ist«, ist sie fähig, »die Zeit vorwärts und rückwärts laufen« lassen.49 3. Undoing age appropriateness Selbst ein so kurzgehaltener Vergleich der alter(n)skritischen ­Strategien im zeitgenössischen Tanz mit den Diskursstrategien in ­Literatur- und Philosophiegeschichte, wie er im Rahmen eines Artikels möglich ist, zeigt auf, dass sie in einem die Kunstsparten übergreifenden Alter(n)s-Dispositiv verwoben zu sein scheinen. Hier braucht es detailliertere, interdisziplinäre Studien. Es sollte aber hinreichend deutlich geworden sein, dass in künstlerischen Arbeiten ebenso interessante wie herausfordernde Wege entwickelt werden, um mit den herkömmlichen Engführungen eines altersangemessenen Verhaltens umzugehen. Es bleibt jedoch die Frage, was der Kunst- und Kulturbetrieb und die darstellenden Künstler*innen selbst daraus für ihre eigenen ­Praxen innerhalb der Strukturen des Performance-, Tanz- und Theaterbetriebs lernen und umsetzen können. Wie lassen sich in den eigenen Produktions- und Arbeitsbezügen normierte und restriktive altersangemessene Verhaltenserwartungen dekonstruieren? Was passiert, wenn Künstler*innen Formen von Undoing age appropriateness nicht nur auf der Bühne, sondern in der Auseinandersetzung mit den ­Produktionsstrukturen probieren, kreativ widerspenstig den Jugendlichkeitserwartungen im Kulturbetrieb widerstehen und strukturelle Altersdiskriminierung in Kunst- und Kultureinrichtungen anpran-

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gern? Wenn sie, gemeinsam mit dem alternden Publikum Barrierefreiheit einfordern? Solche Praxen von Ageing trouble auch jenseits der Bühnen mit Leben zu erfüllen, ist eine Aufgabe für Kunst- und Kulturschaffende ebenso wie für die Kulturpolitik.

1 Vgl. Nelson, Robin (Hrsg.): Practice as Research in the Arts. Principles, Protocols, ­Pedagogies, Resistances, New York 2013. 2 Vgl. Martin, Susanne: Dancing Age(ing). Rethinking Age(ing) in and through Improvisation Practice and Performance, Bielefeld 2017; vgl. auch Martin, Susanne: »Ageing and Dance«, in: Gu, Danan/Dupre, Matthew E. (Hrsg.): Encyclopedia of Gerontology and Population Aging, Cham 2019, https://doi. org/10.1007/978-3-319-69892-2_257-1. 3 Martin, Susanne: »Dancing age(ing). 3000 Bewegungen und 1000 Worte, an deren Ende wir alle 40 Minuten älter sein werden«, in: Stronegger, Willibald/Attems, Kristin (Hrsg.): Altersbilder und Sorgestrukturen. 3. Goldegger Dialogforum Mensch und Endlichkeit. Baden Baden 2020, S. 63 – 80, S. 63.; vgl. auch Martin, Susanne:

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»Performing Age(ing). A Lecture Performance«, in: Hülsen-Esch, Andrea (Hrsg.): Cultural Perspectives on Aging: A Different Approach to Old Age and Aging, Berlin, ­B­­oston, S. 149 – 162, https://doi.org/10.1515/9783110683042-010. 4 Vgl. Haller, Miriam: »Ageing trouble. Literarische Stereotype des Alter(n)s und Strategien ihrer performativen Neueinschreibung«, in: InitiativForum Generationenvertrag (Hrsg.): Altern ist anders, Münster 2004, S. 170 – 188, https://www. kubi-online.de/artikel/literarische-stereotype-des-alterns-strategien-ihrer-performativen-neueinschreibung; vgl. Haller, Miriam: »Unwürdige Greisinnen. ›Ageing trouble‹ im literarischen Text«, in: Hartung, Heike (Hrsg.), Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s, Bielefeld 2005, S. 45 – 63, https://www.kubi-online.de/artikel/unwuerdige-greisinnenageing-trouble-­literarischen-text; vgl. auch Haller, Miriam: »Die ›Neuen Alten‹? Performative Resignifikation der Alterstopik im zeitgenössischen Reifungsroman«, in: ­Thorsten Fitzon u. a. (Hrsg.): Alterstopoi. Das Wissen von den Lebensaltern in Literatur, Kunst und Theologie, Berlin, New York 2009, S. 229 – 247; vgl. Haller, Miriam: »Undoing Age. Die Performativität des alternden Körpers im autobiographischen Text«, in: Mehlmann, Sabine/Ruby, Sigrid (Hrsg.): Für Dein Alter siehst Du gut aus! Von der Unsichtbarkeit des alternden Körpers im Horizont des demographischen Wandels, Bielefeld 2010, S. 215 – 233, https://www.kubi-online.de/artikel/ undoing-age-performativitaet-des-alternden-koerpers-autobiographischen-text. 5 Vgl. Plessner, Helmuth: »Der Aussagewert einer philosophischen Anthropologie«, in: Ders.: Mit anderen Augen. Aspekte einer philosophischen Anthropologie, Stuttgart 1982, S. 124 – 145. 6 Brinkmann, Malte: »Leiblichkeit und Passivität – Überlegungen zur Negativität von Bildung im Alter«, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 82 (2006), H. 3, S. 288 – 304, S. 295. 7 Vgl. Haller, Miriam/Küpper, Thomas: »Kulturwissenschaftliche Alternsstudien«, in: Aner, Kirsten/Karl, Ute (Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit und Alter, Wiesbaden 2020, S. 595 – 602. 8 Austin, John Langshaw: Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1972. 9 Butler, Judith: »Für ein sorgfältiges Lesen«, in: Benhabib, Seyla/Butler, Judith/ Cornell, Drucilla/Fraser, Nancy: Der Streit um die Differenz. Feminismus und ­Postmoderne in der Gegenwart, Frankfurt am Main 1993, S. 122 – 132, S. 124. 10 Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Aus d. Amerikanischen v. Karin Wördemann, Frankfurt am Main 1995, S. 22. 11 Haller: Unwürdige Greisinnen, S. 61, zitiert Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Aus d. Amerikanischen v. Kathrina Menke, Frankfurt am Main 1991, S. 200 (Titel der Originalausgabe: Gender Trouble, New York 1990). 12 Vgl. Haller: Ageing trouble; vgl. auch Haller: Unwürdige Greisinnen. 13 Ebd. 14 Vgl. Höppner, Grit/Wanka, Anna: »un/doing age. Multiperspektivität als Potential einer intersektionalen Betrachtung von Differenz- und Ungleichheitsverhältnissen«, in: Zeitschrift für Soziologie 50 (2021), H. 1, S. 42 – 57. 15 Schroeter, Klaus R.: »Doing Age. Korporales Kapital und Erfolgreiches Altern«, in: SPIEL 24 (2005), S. 147 – 162. 16 Haller: Undoing Age. 17 Martin: Dancing Age(ing), S. 153ff. 18 Vgl. Levy, Becca R./Banaji, Mahzarin R.: »Implicit Ageism«, In: Nelson, Todd D. (Hrsg.): Ageism. Stereotyping and Prejudice against Older Persons, Cambridge 2002, S. 49 – 75, S. 62. 19 Martin: Dancing Age(ing). 20 Vgl. Göckenjan, Gert: Das Alter würdigen. Altersbilder und Bedeutungswandel des Alters, Frankfurt am Main 2000. Vgl. Haller: Ageing trouble; Unwürdige Greisinnen; Die ›Neuen Alten‹?; Undoing Age. 21 Woodward, Kathleen: »Performing Age, Performing Gender«, in: Feminist ­Formations 18 (2006), H. 1, S. 162 – 189, S. 167. 22 Siehe: http://www.lizaggiss.com/; https://www.youtube.com/watch?v=8u8NFQbNXs. Hier sei angemerkt, dass wir im Rahmen dieses Artikels nicht näher auf die Arbeiten der genannten Künstler*innen eingehen können. Darum sind die in den Fußnoten versammelten Links zu den entsprechenden Webseiten mit der herzlichen Einladung verbunden, sich ein wenig Zeit für dieses digitale Material zu

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nehmen. Während die Performances der hier vorgestellten Künstler*innen natürlich idealerweise für die Liverezeption gedacht sind, so lassen sich durch die im Netz versammelten Fotos, Videoausschnitte und Texte doch oft die hier beschriebenen alter(n)skritischen Performancestrategien nachvollziehen. 23 Siehe: https://www.wendyhoustoun.com/; https://www.youtube.com/watch?v= uEURnGk40wc. 24 Vgl. Haller: Ageing trouble. 25 Sontag, Susan: »The double standard of aging«, in: Allmann, Lawrence R. (Hrsg.): Readings in adult psychology, New York 1977, S. 285 – 294. 26 Ebd., S. 289. 27 Ebd., S. 290: »A woman’s face is the canvas upon which she paints a revised, ­corrected portrait of herself.« 28 Wilde, Oscar: Das Bildnis des Dorian Gray, Zürich 1986, S. 36. 29 Sontag: »The double standard of aging«, S. 294. 30 Siehe auch: https://www.andrewmorrish.com. 31 Hay, Deborah: Lamb at the Altar. The Story of a Dance, Durham 1994, S. xi. Siehe auch: http://www.deborahhay.com; vgl. auch Satin, Leslie: »Autobiography in the Present Tense. Deborah Hay, Living and Dying At Once«, in: Women & Performance 10 (1999), H. 1 – 2, S. 181 – 210, https://art1lib.org/book/32668930/384288 32 Kölner Papyri: Ein Gedicht der Sappho, P. Köln inv. 21351+21376, https://papyri. uni-koeln.de/features/sappho. 33 Hofmannsthal, Hugo von: [Jedermann. Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes], in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, Bd. IX, hrsg. v. Heinz Rölleke, Frankfurt am Main 1990, S. 31 – 95. 34 Siehe auch: http://www.idamarktompkins.com/?q=en ; http://www.bodytalkonline. de/; https://www.tanzforumberlin.de/produktion/forever-young-die-zwei-von-dertanzstelle/. 35 Aristophanes: [Die Wespen] (422 v.Chr. uraufgeführt), in: ders.: Komödien in zwei Bänden, Bd. 1. Hrsg. v. Jürgen Werner, Walter Hofmann, Weimar 1963, S. 239. 36 Vgl. ausführlicher zu dieser Diskursstrategie Haller: Ageing trouble; Unwürdige Greisinnen; Undoing Age. 37 Vgl. Gerlach, Inga/Maubach, Barbara/Haller, Miriam: »›Wir sind Gespenster‹. Widerspenstige Alte und Medienkritik in Fellinis ›Ginger und Fred‹«, in: Kampmann, Sabine/Haller, Miriam/Küpper, Thomas/Petri, Jörg (Hrsg.): Altern. Themenheft der Zeitschrift ›Querformat. Zeitschrift für Zeitgenössisches, Kunst, Populärkultur‹, Bielefeld 2014, S. 85 – 90. 38 Vgl. Martin, Susanne: JULIO, Performance 2006, https://vimeo.com/158234066; vgl. auch Martin: http://www.susannemartin.de/julio/ 39 Vgl. Martin, Susanne: Rosi at Tanznacht Berlin, Performance 2008, https:// vimeo.com/153260641; vgl. auch Martin: http://www.susannemartin.de/ rosi-tanzt-rosi-the-conference/ 40 Vgl. Woodward, Kathleen: »Performing Age, Performing Gender«, in: Feminist ­Formations 18 (2006), H. 1, S. 162 – 189. 41 Vgl. Martin, Susanne: The Fountain of Youth, Performance 2015, https://vimeo. com/showcase/3608339/video/142264906; vgl. auch Martin: http://www.susannemartin.de/fountain-of-youth/ 42 Foucault, Michel: Überwachen und Strafen, Frankfurt am Main 1976, S. 177. 43 Vgl. Martin, Susanne: The Fountain of Age, Performance 2015, https:// vimeo.com/142264906; vgl. auch Martin: http://www.susannemartin.de/ the-fountain-of-age/ 44 Vgl. Rosario Arias Doblas: »Moments of Ageing. The Reifungsroman in Contemporary Fiction«, in: Worsfold, Brian J. (Hrsg.): Women Ageing through Literature and Experience, Lleida 2005, S. 3 – 12; vgl. auch Haller: Die ›Neuen Alten‹? Performative Resignifikation der Alterstopik im zeitgenössischen Reifungsroman. 45 Vgl. ebd. 46 Monika Maron: Endmoränen, Frankfurt am Main 2002. 47 John M. Coetzee: Zeitlupe. Roman. Aus dem Engl. v. Reinhild Böhnke, Frankfurt am Main 2007, [Titel der Originalausgabe Slow Man, London 2005]. 48 Vgl. Haller: Die ›Neuen Alten‹? Performative Resignifikation der Alterstopik im ­zeitgenössischen Reifungsroman. 49 Friederike Mayröcker: Reise durch die Nacht. Erzählung (1984), Berlin 1986, S. 30.

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Wings of change Alter ist kein Handicap – auch nicht im Tanz »Das Ende des Alterns ist näher, als wir es uns vorstellen wollen.«1

Laura Deming weiß, wovon sie spricht. Sie begann sich im Alter von sechs Jahren für den biologischen Prozess des Alterns zu interessieren, mit zwölf forschte sie an der Lebensverlängerung von Würmern und mit 25 sammelte sie mit ihrem Longevity Fund fast dreißig Millionen Dollar ein, um gegen das Diktat des chronologischen Alterns die Verheißung der biologischen Unsterblichkeit zu setzen. Ich glaube nicht, dass wir, die Babyboomer, noch davon profitieren werden. Ich wappne mich lieber gegen das Unvermeidliche, das vor mir liegt. Ich habe die absurde Vorstellung, wenn ich mich vorauseilend mit zukünftigem Unheil beschäftige, trifft es mich später nicht so hart. Ich habe mich vorbereitet, vor zehn Jahren bereits ein Sterbeseminar belegt. Ich will wissen, wie es geht. Spiegelblind Mit vierzig habe ich das Büchlein Älter werden, den Klassiker von Silvia Bovenschen, verschlungen. Nun, zwanzig Jahre später, beim Wiederlesen, bin ich mittendrin im Altsein. Beim Älterwerden haben wir es vor allem mit dem Nocebo-Effekt zu tun, also dem schädlichen Effekt von negativen Bildern. Messerscharf beschreibt Bovenschen die Konfrontation mit dem Bild des alternden Ichs. Sie nennt es spiegelblind: ine Technik, die ich erst älter geworden beherrschte: in den E Spiegel zu schauen (es funktioniert nur bei bestimmten Verrichtungen, wie zum Beispiel beim Kämmen oder Zähneputzen), ohne mich darin wirklich zu sehen. Der Spiegel zeigt ein altersloses Bild – zwar nicht beschönigt, aber auch ohne Grausamkeiten. Irgendwie neutral, als wäre es nicht das eigene. Ein technisches Sehen. Ich habe das nicht geübt. Plötzlich stellte ich fest, dass es so ist. Das erklärt den Schreck, wenn ich mich überraschend und unvorbereitet in einem Spiegel sehen muss (im Kaufhaus kann das leicht passieren, allzumal, wenn man in einem Rollstuhl geschoben wird): O Gott, die alte Frau bin ja ich!2

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Aber alt mit vierzig? Ja. Tänzer*innen gelten mit vierzig Jahren als alt. Ich habe – vielleicht nicht ganz zufällig und sicherlich auch um die eigenen Dämonen des Altseins in Schach zu halten – 2014 mit meiner gemeinnützigen Unternehmergesellschaft eine Initiative gegen Altersdiskriminierung im Tanz gestartet: Dance On. Das Herz des Projekts ist das Dance On Ensemble mit Tänzern und Tänzerinnen im Alter von vierzig bis siebzig Jahren. Wir wollten und wollen sichtbar machen, was die Tanzkunst – und die Gesellschaft – durch Ausstrahlung, ­Souveränität und eindrückliche Darstellungskraft gewinnt, die sich aus gelebter Erfahrung speist. Schauspieler*innen dürfen auf der Theaterbühne sterben. Tänzer*­innen hingegen müssen spätestens mit Anfang vierzig von den Ballettbühnen der Welt abtreten. Im zeitgenössischen Tanz verschiebt sich das Verfallsdatum um einige Jahre. Allein es bleibt eine Kunst, die die Grenzen des Körpers zu überwinden trachtet. Im Ballett schweben ephemere, vorgeblich alterslose Wesen über die Bühne. Diese Bilder sitzen fest in unseren Köpfen. Deshalb finden wir es völlig in Ordnung, dass eine Kompanie mit jungen Tänzer*innen Bundesjugendballett heißt, aber wir haben uns davor gescheut, unser Ensemble 40+ Bundesaltenballett zu nennen. Alle dazu bei der Namensfindung Befragten fanden das abtörnend und, ja, degradierend. Diskriminierung unseres zukünftigen Selbst Bereits am Anfang unserer Initiative wurden wir mit der Frage konfrontiert, warum es immer noch in Ordnung ist, altersdiskriminierend zu denken und zu agieren. Die Journalistin Lucy Kellaway konstatiert dazu im Januar 2022 in der Financial Times: »Unsere Blindheit gegenüber Altersdiskriminierung ist besonders rätselhaft, da es sich um ein Vorurteil nicht gegen Menschen handelt, die anders sind als wir (andere Rassen, Geschlechter usw.), sondern gegen unser zukünftiges Selbst.« Sie beobachtet: »Das Alter ist nicht nur das Stiefkind der Diversity-Politik, sondern es ist unter Beachtung kultivierter Umgangsformen immer noch völlig akzeptabel, sich eklatant altersdiskriminierend zu verhalten.«3 In Bewerbungsverfahren erhalten über Fünfzigjährige dutzendweise Absagen mit der Begründung, sie seien überqualifiziert. Eine höflich gemeinte Ausrede. Ein fünfzigjähriger Tänzer geht erst gar nicht zu einer Audition, weil er um seine Chancenlosigkeit weiß, es sei denn, es wird per Typecasting ein alter Tänzer gesucht – dann aber bitte sichtbar für alle richtig alt! 1996 berichtete die damals sechzigjährige amerikanische

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­ änzerin und Choreografin Trisha Brown in einem Interview, dass sie, T wenn sie die Straße entlanglaufe, gemeinsam mit allen anderen älteren Frauen in eine Schublade gesteckt werde. Manchmal sei ihr regelrecht danach, den Menschen, die da an ihr vorbeigingen, zu sagen: »Ihr Narren. Ich bin intelligent und leidenschaftlich. Wie könnt ihr bloß annehmen, dass ich das alles plötzlich nicht mehr bin?«4 Der Professor für Tanzgeschichte Ramsay Burt stellt dazu fest: »Gesellschaftlicher Druck zwingt einen dazu, sich selbst dem eigenen Alter angemessen wahrzunehmen. Dabei bedeuten eingebildete ­Zeichen des Verlustes und des Verfalls als Folge des Älterwerdens Frauen in der Regel mehr als Männern, weil Weiblichkeit so stark mit dem äußerlichen Erscheinungsbild assoziiert wird.«5 Der Tanz, eine als prädominant weiblich wahrgenommene Kunstform, hat damit ein doppeltes Handicap. In der Berliner Tanzszene stieß die Dance On Initiative zunächst auf Misstrauen und Unverständnis. In einer Szene, in der jeder Performer sein eigener Autor, jede Tänzerin auch zugleich ihre eigene ­Choreografin ist, herrscht die Vorstellung der ungebrochenen lebenslangen Kreativität. Sechs Jahre später ist das Thema auch hier angekommen – zu erfahren in einer »Intergenerativen Peer-to-Peer Academy über das Alter(n)« in den Berliner Sophiensælen oder nachzulesen im Abschlussbericht Runder Tisch Tanz, in dem auch die Diskriminierung durch Ageism im Rahmen einer zukünftigen »Impact-Förderung für Ganzhabe« gelistet wird.6 Veränderung üben Es sind wir, die älteren Menschen, die oft am altersfeindlichsten von allen sind, weil wir ein Leben lang negative Botschaften über das Alter und das Altern unhinterfragt akzeptiert haben. Zum Beispiel, dass ältere Menschen nicht mehr genügend Energie haben. Sie nicht gut darin sind, neue Ideen zu entwickeln. »Wenn man nicht aufhört, diese Botschaften zu hinterfragen, werden sie Teil der eigenen Identität.«7 Im Bewusstsein, dass sich aufgrund des demografischen Wandels etwas ändern muss, haben die Vereinten Nationen 2021 das Jahrzehnt des gesunden Alterns ausgerufen.8 Es zielt darauf ab, das Leben älterer Menschen, ihrer Familien und Gemeinschaften durch kollektives Handeln zu verbessern. An erster Stelle des Aktionsplans steht die Änderung der Art und Weise, wie wir über das Alter und Altersdiskriminierung denken, wie wir fühlen und schließlich handeln. Aber wie bewirkt man diese Veränderung? Die Antwort scheint einfach: üben, üben, üben!

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Best Practice Ein zwölfköpfiges Tanzensemble für Tänzer*innen 40+ ist von außen betrachtet eine bescheidene Übungsplattform, aber sie zeigt, wohin die Reise gehen sollte. Seit dem Bestehen des Dance On Ensembles wissen wir, wie wichtig es ist, die Bühnenlaufbahn von Tänzer*innen zu verlängern. Und wir haben auf eindrucksvolle Weise erlebt, wie positiv sich dies auf die Kunstform als Ganzes auswirkt. Durch die Verneinung einer Altersgrenze hat das Dance On Ensemble eine künstlerische Erfolgsgeschichte vorgelegt und sich in die Herzen des Publikums getanzt. Gleichzeitig hat es gezeigt, was passieren muss, um Altersdiskriminierung im Tanz (und in der Gesellschaft) zu überwinden. Die Reaktionen der Zuschauer*innen haben uns sehr inspiriert. Viele von ihnen sagen, dass der Anblick dieser exzellenten Tänzer*innen ihnen Kraft und Mut gibt, auch in ihrem Leben etwas Neues zu versuchen und sich in einer Welt zu behaupten, in der sie womöglich als zu alt für Veränderung gelten. Die Frage, ob man durch Quoten gesellschaftliche Veränderung bewirken kann, wird entlang harter Fronten diskutiert. Das Ziel einer jeden Quote, sei es der Frauenanteil in Aufsichtsräten oder der Diversitätsfaktor in Besetzungskommissionen, ist die Beseitigung von ungerechtfertigten Benachteiligungen und Ungleichbehandlungen. Wir haben die Frage nach der Notwendigkeit einer Quote für uns mit Ja beantwortet. Wie soll es sonst gehen? Beim Dance On Ensemble ist die Einstellungsvoraussetzung 40+, also eine Quote von hundert Prozent für ältere Tänzer*innen. In Zukunft konsequent intergenerativ In der Zukunft liegt für uns ein Versprechen. Tanzkompanien bieten Tänzer*innen den Raum, um sich zu entfalten und künstlerisch weiterzuentwickeln – sowohl am Anfang wie auch im Verlauf der Karriere. Ensemblemitglieder bilden ganz ohne Altersbeschränkungen eine Gemeinschaft, in der Tänzer*innen, ob am Anfang oder in der Mitte ihrer beruflichen Laufbahn, mit erfahrenen älteren Kolleg*innen zusammenarbeiten und sich gegenseitig inspirieren. Das Klischee von der ›Weisheit des Alters und der Energie der Jugend‹ wird neu formuliert: Die Virtuosität des Alters verbindet sich mit dem Charisma der Jugend. Solche Tanzensembles beschäftigen sich mit den bekannten Stereotypen, um sie dann hinter sich zu lassen. Sie zeigen, dass Ausdauer, Risikobereitschaft und Hingabe keine Fragen des Alters sind. Um generationenübergreifende Kompanien zu realisieren, müssen sich Strukturen und Einstellungen in der Tanzwelt ändern. Wir

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brauchen einen Transformationsprozess, der hierarchische Strukturen in kollaborative, unterstützende Beziehungsgefüge umwandelt und Tänzer*innen als Träger*innen, Bewahrer*innen und Repräsentant*innen der Kunstform erkennt und vor allen Dingen anerkennt. Ein Wandel der (Kultur)politik: Wings of change Dieser Transformationsprozess bezieht sich nicht nur auf die Institutionen des Tanzes (Ausbildung, Kompanien, Theater etc.), sondern auch auf die bestehenden Mechanismen öffentlicher Förderpraxis. Mit dem Ziel der strukturellen Stärkung der gesamten Tanzszene habe ich mit meinen Mitarbeiter*innen wegweisende Förderinstrumente wie Tanzplan Deutschland, Tanzfonds Erbe und Tanzpakt Stadt-LandBund (dies gemeinsam mit dem Dachverband Tanz Deutschland) initiiert. Zahlreiche Evaluierungen belegen, dass diese entscheidend zu einer kulturpolitischen Aufwertung der Kunstform Tanz beigetragen haben. Aber hat dadurch auch die Wertigkeit der einzelnen ausführenden Künstler*innen gewonnen? In der Pandemie wurde sichtbar, dass das schwächste Glied in der ›Verwertung‹ der künstlerischen Leistung für die Gesellschaft der einzelne Tänzer, die Schauspielerin oder der Musiker ist. Wenn sie existenziell gefährdet sind, hört das Herz der Kultur auf zu schlagen. Überall, auf der ganzen Welt. In vielen europäischen Staaten und auch in Deutschland entstanden in kürzester Zeit neue Stipendienprogramme, die bisher vor allem für junge Menschen gedacht waren, um sie auf ihrem Weg zu fördern. Dieser Weg endet aber nicht mit dreißig Jahren! Und er wird nicht allein von den Kulturschaffenden beschritten. Nach Joseph Beuys ist das Kapital einer Gesellschaft nicht das Geld, sondern die Kreativität eines jeden Menschen. Für ihn ist jeder Mensch ein Sonnenkönig und der Palast, den wir zuerst erobern und dann würdig zu bewohnen haben, ist der Kopf des Menschen, unser Kopf.9 Welche neuen Bilder von dem, was uns das Alter bietet, können in unseren Köpfen entstehen? Produktiv sein ist ein menschliches Grundbedürfnis, das nicht in einem bestimmten Lebensalter erlischt. Keine Gesellschaft kann auf die Expertise von lebens- und berufs­ erfahrenen Menschen verzichten. Das gilt auch für Künstler*innen. Artikel 3 unseres Grundgesetzes schützt vor Diskriminierung und Benachteiligung aufgrund einer Reihe von Merkmalen wie Geschlecht, Herkunft, politischer Anschauung oder Behinderung. Das Lebensalter findet man hier nicht. Nicht nur die Bilder in unseren Köpfen müssen also geändert werden, sondern auch das Grundgesetz! Dies wäre ein starkes politisches Signal, um in allen Bereichen der Gesellschaft

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dafür zu sorgen, dass Altersgrenzen sich öffnen und nur dort eingesetzt werden, wo sie in der Sache auch begründet sind. Wenn es im Tanz, einem Berufsfeld mit einer der härtesten Altersgrenzen, möglich ist, diese zu verändern, wieso dann nicht auch in allen anderen Bereichen unserer Gesellschaft? Was ist also Alter(n) und wie soll eine Gesellschaft des längeren Lebens gestaltet sein? Aus Sicht der Persönlichkeitspsychologie ist Altern Wachstum, Stabilität und Verlust zugleich. Laura Demings Vision der Unsterblichkeit nimmt den Verlust aus dieser Gleichung und damit das, was uns menschlich macht. Ich möchte glauben, dass Älterwerden eine jedem Menschen zuteilwerdende, stete Weiterentwicklung und Wandlung ist, ein Immer-in-Bewegung-Sein. Im gemeinsamen Raum der Verantwortung geben wir der Veränderung Flügel. Worauf warten wir?!

1 Deming, Laura: The longevity fund. www.longevity.vc, 9. Februar 2022. 2 Bovenschen, Silvia: Älter werden, Frankfurt am Main 2006, S.89. 3 Kellaway, Lucy: »Why is it still considered OK to be ageist?«, in: The Financial Times, 14. Januar 2022. 4 Zitiert nach Burt, Ramsay: »Älterwerden und Tanzen«, in: Dance On 1. Edition, hrsg. von Madeline Ritter und Christof Roman, Berlin 2018, S.18. https://dance-on.net/ en/wp-content/uploads/sites/3/2021/03/DO-Publ-final.pdf, 09.02.2022. 5 Ebd. 6 Kirchhoff, Karin und Nehring, Elisabeth: Abschlussbericht Runder Tisch Tanz ­Berlin, Berlin 2019, S. 60, https://www.tanzraumberlin.de/fileadmin/user_upload/02_ Kulturpolitik/RTT/rtt_2019_abschlussbericht.pdf, 09.02.2022. 7 Kellaway: »Why is it still considered OK to be ageist?« 8 https://www.unbonn.org/index.php/de/news/das-jahrzehnt-des-gesunden-­ alterns-2021-2030, 9. Februar 2022. 9 Beuys, Joseph in seinem letzten Interview mit dem Journalisten Michele Bonuomo im Dezember 1985 anlässlich der Präsentation seines Werks Palazzo Regale im Museo di Capadimonte in Neapel, zitiert nach Blume, Eugen und Nichols, ­Catherine: Beuys. Die Revolution sind wir, Göttingen 2008, S. 22.

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In Rente zu gehen, wäre

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nicht mein Ding

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»Was man im Alter so erlebt, kenne ich seit ­meiner Kindheit« Ein Interview mit Gerda König Ich bin Gerda König, geboren 1966. Ich arbeite seit 25 Jahren als künstlerische Leiterin der DIN A 13 tanzcompany in Köln. Das ist ein mixed-abled-Ensemble. Wir arbeiten mit Tänzer*innen mit und ohne körperliche Besonderheiten und sind international in Kooperation mit den Goethe-Instituten in vielen Ländern der Welt tätig, um weitere mixed-abled-Kompanien zu initiieren. Was bedeutet das Thema Alter im Augenblick für dich persönlich? Das Thema Alter spielt in meinem Zusammenhang weniger eine Rolle. Was man im Alter so erlebt – dass man mehr Hilfe braucht, dass man nicht mehr so viel kann, dass man erschöpfter ist oder mehr auf die Hilfe von anderen Menschen angewiesen ist –, kenne ich seit meiner Kindheit. Durch meine Behinderung erlebe ich diesbezüglich keine Veränderung, weil all das für mich schon immer Alltag war. Was bedeutet das Thema Alter bezogen auf deine künstlerische Arbeit? Im mixed-abled-Tanz arbeiten wir immer mit sehr diversen Körpern, die sehr diverse Arten haben, sich zu bewegen und sich auszudrücken. Sie haben ein ganz anderes Bewegungspotenzial, sodass es keine Rolle spielt, ob jemand alt oder jünger ist. Es ist einfach anders. In unserer künstlerischen Auseinandersetzung geht es genau um diese differenzierte und diverse Bewegungsäußerung, die die unterschiedlichen Tänzer*innen haben, und gar nicht so sehr um das Alter. Wie erlebst du das Älterwerden als Frau in unserer Gesellschaft? Mit diesem Thema war ich schon als junger Mensch konfrontiert, denn als Frau mit Behinderung ist man einfach eine Frau dritter Klasse. Insofern ist das heute für mich kein Thema. Gleichzeitig glaube ich, dass ich mit meinen 54 Jahren recht jung geblieben bin, weil ich immer in Kontakt mit vielen jungen Leuten bin. Im Verhältnis zu anderen Menschen in meinem Alter, die ich kenne, bin ich, glaube ich, nicht so alt geworden. Wie stellst du dir dein Altsein vor? Ich glaube, dass ich auch im Alter, also in zehn oder zwanzig Jahren, immer noch künstlerisch tätig sein werde. Das ist einfach Teil meines

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Ein Interview mit Gerda König

Lebens. Ich kann mir mein Leben gar nicht vorstellen, ohne kreativ zu sein, Dinge umzusetzen, Ideen zu haben und diese in die Gesellschaft zu tragen. Insofern glaube ich nicht, dass ich mit dem künstlerischen Prozess jemals aufhören werde. Vielleicht wird er sich verändern. Vielleicht werden die vielen Reisen, die wir gemacht haben, nicht mehr in dem Maße stattfinden können, weil ich einfach mehr auf mich aufpassen muss. Aber ich glaube, in Rente zu gehen, wäre nicht mein Ding. Selbst wenn ich gar nichts mehr könnte, also wirklich nur noch im Bett liegen und noch nicht einmal mehr aufstehen könnte, hätte ich doch immer noch Ideen. Und dann würde ich die immer noch umsetzen, wenn auch vielleicht im kleineren Rahmen. Ich glaube, ich würde immer einen Weg finden, um irgendeine künstlerisch-kreative Idee umzusetzen. Sollte sich in Bezug auf die ältere Generation gesellschaftspolitisch etwas ändern? Ich denke, es wäre sinnvoll, alte Menschen stärker in soziale Kontexte zu integrieren und Menschen nicht ins Altersheim abzuschieben. Ich denke auch, dass die jüngere Generation im Dialog mit älteren Menschen viel lernen kann. Man muss einfach lernen, in anderen Zusammenhängen, in anderen Strukturen zu denken. Wenn das Thema Diversität ist, betrifft das auch das Alter, bei dem man umdenken muss und sollte. Welche Rolle spielt beim Thema Altwerden dein soziales Umfeld? Ich habe eine sehr feste Struktur von Freund*innen, die schon über Jahrzehnte mit mir zusammen sind, genauso wie Kolleg*innen, mit denen ich künstlerisch arbeite. Dazu kommt eine jüngere Generation von Tänzer*innen und Kolleg*innen, die mit mir arbeiten, sowie meine Assistent*innen, die für mich mitarbeiten. Sie alle sind jünger. Insofern habe ich einen sehr ausgewogenen Umgang mit Menschen, die in meinem Alter sind und Menschen, die noch viel jünger sind als ich. Das macht es sehr lebendig und ist erfrischend. Es kommen immer wieder neue Impulse von außen, sodass man auch weiterhin am Puls der Zeit ist. Siehst du in der Kunst einen zunehmenden Generationenkonflikt? Wenn ich die jüngeren Leute sehe, mit denen ich zu tun habe, dann bewegen sie sich teilweise in Welten, die ich nicht hatte. Sie arbeiten auf einem Bauwagenplatz oder setzen sich sehr mit der Gender-­ Thematik auseinander, die wir damals in dem Alter noch nicht als so

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zentrales Thema hatten. Es konfrontiert mich mit vielen neuen ­Impulsen und unterschiedlichen Lebensrealitäten. Gleichzeitig konfrontiert mich die Arbeit in anderen kulturellen Kontexten im Ausland mit interkulturellen Differenzen. Generell finde ich es spannend, diese Differenzen durch meine Arbeit immer wieder zu thematisieren und somit immer in einem neuen Erfahrungsaustausch mit jungen Menschen zu sein und zu erfahren, wie sie sich mit Themen auseinandersetzen. Als ich mich zum Beispiel mit dem Thema »Technolimits« beschäftigt habe und wir uns sehr kritisch mit künstlicher Intelligenz und Human Enhancement auseinandergesetzt haben, haben viele junge Menschen das erst mal nicht verstanden. Sie haben nach dem Grund für die Kritik gefragt, weil das doch eigentlich alles fantastisch sei. Ihren Standpunkt zu betrachten und auch die Faszination zu verstehen, war in dem Moment wichtig. Es gibt in jeder Kunstsparte die sogenannten alten Hasen, die immer da sind und die immer dableiben werden. Solche Ikonen sind auch wichtig. Und es gibt die Youngsters, die einfach nachkommen mit neuen Ideen, mit Neuentwicklungen, mit Dingen, die dagegensprechen, im Kontrast stehen. Ich glaube, oft haben es die jüngeren Generationen schwerer, auf ein Niveau zu kommen, auf dem sie innerhalb der Kunstszene akzeptiert werden. Es dauert lange, sich zu etablieren. Das haben wir alle mal durchgemacht. Die Anfänge sind einfach schwer. Aber ich glaube, das ist kein Generationenkonflikt, sondern abhängig davon, wie bedeutend ein*e Künstler*in ist oder war. Sollten Künstler*innen irgendwann von sich aus zurücktreten, um jüngeren Künstler*innen Platz zu machen? Wenn ich meine Anfangsaussage betrachte, dass ich nicht aufhören werde, Kunst zu machen, bis ich alt bin oder gar nicht mehr kann, und mir das wichtig ist, ist es natürlich schwer, davon zu reden, zurückzutreten. Ich glaube, das kann man auch nicht so erwarten. Künstlerin zu sein, ist etwas anderes, als innerhalb einer Firma eine bestimmte Position innezuhaben. Das ist ja nicht irgendein Job, sondern Teil von uns als Persönlichkeiten. Insofern finde ich es schwierig, von einem Zurücktreten zu reden. Ich kann mir aber sehr gut vorstellen, dass man auch diesbezüglich die Generationen in Austausch bringt. Wenn ich als ältere Choreografin für jüngere, neue Tanzschaffende da sein kann, um sie zu coachen oder aus generationell unterschiedlichen ­Perspektiven einen künstlerischen Prozess anzuschauen, kann das total spannend sein. Ich fände es sehr spannend, an einem künstlerischen ­Prozess von einem ganz jungen Choreografen beteiligt zu sein.

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Ein Interview mit Gerda König

Wie erstellen Jüngere ihre Konzepte? Was für Fragen haben sie? Wie gehen sie an ihre Arbeitsprozesse? Ich fände es spannend, künstlerische Entwicklungsprozesse von deren Seite zu sehen und daraus Erfahrung zu sammeln. Siehst du in der Kunstförderung einen Bedarf speziell für ältere Künstler*­innen? Es ist sehr notwendig, diese Frage in die Förderkonzepte einzubeziehen, aber nicht, indem ein separates Antragsverfahren für ältere Kunstschaffende aufgelegt wird. Vielmehr muss berücksichtigt werden, dass natürlich Mehrkosten für ein mixed-abled-Ensemble entstehen. Ich brauche Assistent*innen. Ich brauche Rampen. Ich brauche Barrierefreiheit. Ich brauche für ein Stück vielleicht eine*n ­Dolmetscher*­in. Das muss in den Förderkonzepten nachjustiert werden. Wenn dafür ein zusätzlicher Topf bereitgestellt wird, zeigt man, dass es vonseiten der Fördereinrichtungen als wünschenswert angesehen wird, Leute zu ermutigen, eben genau in dem Kontext zu denken und verschiedene Menschen unterschiedlicher Kulturen, Altersgruppen und Diversitäten mit einzubeziehen. Gibt es spezielle Ziele, die du noch erreichen möchtest? Was ich mir sehr wünschen würde und wo wir dran arbeiten, ist, dass sich Tanzhochschulen für mixed-abled-Arbeit öffnen: dass Menschen mit einer körperlichen Besonderheit an den Hochschulen für Tanz in Deutschland zugelassen werden und die Chance haben, eine Ausbildung zu machen. Gleichzeitig profitieren davon dann die anderen Tänzer*­innen an den Hochschulen, die keine körperliche Einschränkung haben – in ihrer künstlerischen Arbeit, in ihrem Denken, in ihrem Ausdruck und ihrem körperlichen Bewusstsein. Was soll von deiner Arbeit später bleiben? Ich finde es toll, wenn Stücke von herausragenden Choreograf*innen wie zum Beispiel Pina Bausch weiter gezeigt werden. Ich finde es toll, dass man die Stücke sehen kann, obwohl jemand gestorben ist. Das würde ich in meinem Fall auch begrüßen. Irgendwann ist das natürlich vorbei, aber die Möglichkeit, dass auch in zehn, zwanzig Jahren jemand Stücke sehen kann, sei es digitalisiert oder live performt, sehe ich als Bereicherung für die Nachwelt. Ein altes Bauwerk guckt man sich ja auch gerne an und erfreut sich an der alten Baukunst.

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Welche Bedeutung hat das Archivieren für dein Werk? Wir haben alle Stücke von damals bis heute archiviert. Es ist schön, den Prozess zu sehen: Wo man vor 25 Jahren war und wo man heute steht und wie die Entwicklung war. Ist das Label DIN A 13 nach deiner aktiven Zeit beendet? Nein, auf keinen Fall. Also, das will ich nicht hoffen. Ich möchte DIN A 13 gar nicht so sehr mit meinen Namen verknüpft haben, der natürlich damit verbunden ist, aber DIN A 13 ist DIN A 13. Wir haben das Team, und es sind so viele Dinge, die darin inbegriffen sind, die Workshop-­Arbeit, die Schularbeit, die künstlerische Arbeit, jetzt unser mixed-abled-Netzwerk, das Education-Programm M.A.D.E. Und deswegen – nein, auf keinen Fall. Das ist eine kleine Institution, die muss bestehen.

Gekürzte Fassung des Interviews, geführt von Angle Hiesl + Roland Kaiser am 01. Dezember 2020 im Rahmen der Recherche zum Thema Kunst und Alter.

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Im Spannungs­ feld von ­Innovation und ­Kontinuität

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Forever Young oder Stages of Ageing? Das Thema Altern in der Freien Szene – eine ­Kurationsaufgabe »Alt sind immer die anderen!«, lautet ein geläufiger Ausspruch über das Alter. In ihrem Impulsvortrag1 im Online-Gespräch »Stages of Ageing II: Altern in der Freien Szene, das überregionale Panel«2 vom 26. Oktober 2021 im Rahmen des Festivals Coming of Age der Sophiensæle Berlin wurde dieser Satz von der Soziologin Silke van Dyk eingebracht. Sie wollte damit erläutern, wie die Differenzkategorie Alter wirkt und welche Parallelitäten sich zu anderen Marginalisierungsmarkern ziehen lassen oder auch nicht. Sie diagnostizierte, dass die Diversitätskategorie Alter am wenigsten diskutiert wird. Dass selbst bei intersektionalen Diskussionen Altersdiskriminierung als randständig gilt, als langweilig und wenig hip. Bei Feminismus, Queerness, Postkolonialismus oder Anti-Rassismus, Ableismuskritik und seit kurzer Zeit auch bei dem Thema Klasse gibt es zum Glück inzwischen einiges Interesse. Da kommen alle. Beim Thema Ageismus kommt niemand. Es gilt als total uncool. Dieses Resümee, das van Dyk aus ihrer sozialwissenschaftlichen Perspektive zieht, gilt leider auch für das Feld der Performing Arts. Wann und wo findet sich dieses Thema in den Spielplänen, ­Programmen und Produktionen der Freien Darstellenden Künste? Das lässt sich tatsächlich an einer Hand abzählen. Das Alter erscheint als etwas anderes, was nirgendwo dazugehört. Umso wichtiger ist es, die Auseinandersetzung mit dem Alter(n) auf die Bühne zu bringen und als Kurationsaufgabe wahrzunehmen, als etwas, das – im buchstäblichen Sinn des Begriffs ›Kuratieren‹ – gepflegt werden sollte. Das Festival Coming of Age Im Herbst 2021 widmeten die Sophiensæle Berlin den verschiedenen Facetten des Alterns einen dreimonatigen Programmfokus mit dem Titel Coming of Age3. In Neuproduktionen, Gastspielen und Diskussionen thematisierten wir die Unsichtbarkeit des Alterns in theatralen, sozialen und politischen Zusammenhängen und blickten künstlerisch auf ein Phänomen, das uns alle betrifft. Ein Haus der Freien Szene und das Thema Altern – wie geht das

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zusammen? »Forever young« – ist das nicht die Botschaft der Freien Szene mit ihrem Fokus auf Newcomer und Innovation? Die Idee für ein solches Festival ergab sich aus dem Nachdenken über das Alter und Altern in verschiedenen Kontexten. Die Sophiensæle feierten im Herbst 2021 ihr 25. Gründungsjubiläum. Damit stand das Thema des Älterwerdens im Raum. Auch wenn 25 Jahre für eine Institution noch nicht sehr alt ist, ist es dennoch ein Jubiläum, welches längst über die Volljährigkeit hinausreicht und mit dem der Weg einer Institutionswerdung verbunden ist. Einst von jungen Künstler*innen und künstlerischen Kollektiven als Alternative zu den sehr hierarchisch agierenden Kunstinstitutionen gegründet, wurde mit den Sophiensælen Berlin über die Zeit eine Spielstätte als stetige Begleiterin der Freien Tanz- und Performance-Szene etabliert. Und das in einer Stadt, die sozusagen selbst nach der neuen Pubertät der 1990er Jahre inzwischen das Erwachsenenalter erreicht hat. Eine Stadt, die ebenso wie die in diesen Jahren mitgewachsene Freie Szene mit allen Stärken und Schwächen in die Jahre gekommen ist: Sozusagen eine Entwicklung vom freien wilden Spirit der Nachwendejahre hin zu einem durchgestylten, geordneten, etablierten und seriösen Best-Ager oder Yuppie. Die sogenannte Freie Szene, in den späten 1960er und -70er ­Jahren entstanden, ist ein noch recht junges Phänomen. Sie hat durch die Ausbildungsstätten in Gießen und Hildesheim einen großen Schub bekommen und speziell in Berlin seit den Nachwendejahren einen weiteren Entwicklungsschritt genommen. Inzwischen gibt es eine nennenswerte Zahl an Akteur*innen, die sich immer noch Fragen von Leben und Arbeiten vor dem Hintergrund eines prinzipiell prekären Status aufgrund der Verkettung von Einzelprojektförderungen stellen müssen. Sie sehen sich mit zunehmendem Alter mit weiteren Fragen konfrontiert, etwa Versorgungsfragen bei Familiengründungen, zu leistender Care-Arbeit, Fragen zu finanzieller und sozialer Absicherung oder Altersvorsorge. Die Freie Szene umschwirrt von jeher der Ruf der jungen Wilden, des Neuen und Innovativen. Auch in den Sophiensælen liegt seit ihrer Gründung traditionell ein Schwerpunkt auf einer jungen Generation. Aber was passiert, wenn die Jungen älter werden, wie kann ein sinnvolles Miteinander, eine Programm-Mischung zwischen den Älteren und Jüngeren aussehen? Viele Künstler*innen und Kollektive sind ihren Weg mit dem Haus gegangen, die Newcomer von damals sind nun mid-career, established, old … Oder wie kann eine künstlerische Entwicklung mit all ihren Höhen und Tiefen überhaupt sinnvoll beschrieben werden?

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Ein weiterer Fokus dieses Festivals galt dem Thema der Generationensolidarität, das durch die Pandemie seit Frühjahr 2020 eine Renaissance erlebte. Während in der Klima- und Fridays-for-Future-­ Bewegung der Appell der Jungen an die Älteren ging, ihre Zukunft nicht zu verspielen, drehte sich der Ruf nun um: Die von der Krankheit weniger stark betroffenen Jüngeren sollten die Älteren und vulnerablen Gruppen schützen. Welche Generationen tragen welche Verantwortung und welche Lasten? Wer soll für wen zurückstecken? Wer setzt sich für welche Gegenwart und Zukunft ein? Wie lässt sich in der Freien Szene statt ständiger Konkurrenz um Ressourcen wie Räume, Fördergelder, Programmslots und Aufmerksamkeit ein solidarisches Miteinander gestalten? Und nicht zuletzt fragten wir uns: Welche älteren Künstler*innen kennen wir auf unseren Bühnen der Freien Szene? Wollen wir Stücke von, mit oder über die sogenannten Alten machen, und ab wann beginnt eigentlich dieses Altsein? Mit dem Titel Coming of Age versuchten wir, unsere programmatischen Überlegungen über das Altern als andauernden Transformationsprozess widerzuspiegeln. Denn im Erleben der eigenen Biografie ist das Alter ein langsamer und kontinuierlicher Prozess. Ein Weg, der erst mit dem Tod abgeschlossen ist. Die künstlerische Volljährigkeit kann mit 25, 46, 68 Jahren oder nie erreicht sein. Dieses künstlerische Unterwegssein in verschiedenen Altersstufen wollten wir bereits im Titel abbilden. Wir führten Themen und Ideen zusammen, welche die Künstler*innen rund um das Thema des Alterns bewegten. Dabei sollten die üblichen Binaritäten Alt und Jung, wir und die Alten, die Alten und die Jungen möglichst vermieden werden. Neben den bereits genannten strukturellen und sozioökonomischen Fragen kristallisierten sich drei Themenlinien heraus: erstens der intergenerationale Austausch, zweitens die Zustände von Abschiednehmen, Sterben und Tod und drittens das Thema der Körperlichkeit und die Leerstelle von alternden Körpern auf unseren Bühnen. In vielen Arbeiten standen persönliche Geschichten im Vordergrund, wie der Austausch mit der Elterngeneration, Fragen nach dem Generationenwechsel, dem Loslösen von der Elterngeneration sowie zur eigenen Elternschaft. Wie kann ein fruchtbarer Austausch zwischen den Generationen gelingen und wann ist Abgrenzung wichtig? Generationen Das Festivalprogramm zeigte eine große künstlerische Bandbreite der Themen und Inhalte: Zum Thema Generationen stand Ursula ­Martinez in A Family Outing – 20 Years On mit ihrer Mutter Milagros Lea auf der

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Bühne und verhandelte mit dem Reenactment einer früheren gemeinsamen Performanceproduktion den Umgang mit Demenz und Verantwortung füreinander. In ihrer Arbeit Like Daughter, like Mother reflektierte Olivia H ­ yunsin Kim ihre eigene neue Mutterrolle in Deutschland und ordnete sie vor dem Hintergrund ihres familiären südkoreanischen Kontexts in die Themen Patriarchat, Kolonialismus, Migration und Rassismus ein. Im Gastspiel des Stücks von Jaha Koo The History of Korean ­Western Theatre ging es ebenfalls um das Thema Kolonialismus. Gezeigt wurde seine aktuelle Auseinandersetzung als junger Vater in Europa mit den Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend bei seiner inzwischen dement werdenden Großmutter in Südkorea. Diese familiäre Ebene verknüpfte er thematisch mit der Kolonialisierung der koreanischen Theatertraditionen durch Japan und Großbritannien und seinem eigenen Schaffen als Performancekünstler. Marjani Forté-Saunders performte in Memoirs of A … Unicorn gemeinsam mit ihrem Vater Richard Forté auf der Bühne und beschäftigte sich mit Schwarzer Männlichkeit und Vaterschaft vor dem Hintergrund der rassistischen Gewalt in den USA und der aktuellen Black Lives Matter-Proteste. Um den Austausch zwischen den Generationen ging es auch in der Arbeit DAWN von Sheena McGrandles, die mit ihrem Team ein autofiktionales Musical über queere Elternschaft, Familienmodelle und Reproduktion feierte. Samara Hersch schaltet in ihrem Gastspiel Body of Knowledge die Zuschauer*innen telefonisch mit Teenager*innen in Australien zusammen, um sie miteinander in komplexe Gespräche über Intimität, das Heranwachsen, Musik, Sexualität und das Altern zu führen. Und auch Golschan Ahmad Haschemi und Banafshe Hourmazdi vom Performance-Duo AHH widmeten sich in dem Pop-Musical OK, Boomer! mit Glamour und Rock Fragen nach dem feministischen Erbe und der POC-Sisterhood einer jüngeren Generation und der sich ­daraus ergebenden Verantwortung. In den Performances wurde deutlich, dass es wichtig ist, zwischen dem Alter als Differenzkategorie und der Abgrenzung unterschiedlicher Generationen zu unterscheiden. Die Bedeutung der ­Differenzierung zwischen den Kategorien Alter und Generation wurde auch von der Soziologin Silke van Dyk hervorgehoben. In dieser Themenlinie des Festivals wurde weniger das Alter als vielmehr Fragen der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Generationen reflektiert. Die Bedeutsamkeit der Unterscheidung, wann wir über Alter und wann wir

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über Generationen sprechen, wurde uns erst im Laufe des Festivals durch all diese künstlerischen Positionen so richtig deutlich. Ebenso wie die Erkenntnis, dass es gar nicht so einfach ist, ein Festival über, von und mit ›Alten‹ zu machen, weil am Ende bei den Künstler*innen ein großes künstlerisches Interesse an einem Generationenaustausch besteht und scheinbar weniger an den Themen Alter und Altern. Die von Silke van Dyk formulierten Hinweise, genauer zu schauen, wo wir es mit Generationendifferenzen zu tun haben und nicht mit Altersspezifika, ebenso wie die Erkenntnis, dass bestimmte Prägungen nicht zu bestimmten Altersphasen gehören, sondern zu bestimmten Generationen und dass bestimmte Positionierungen durch alle Altersstufen durchgehen – über all das konnte man in diesen ›Generationen-­ Arbeiten‹ sehr gut reflektieren. Abschied In der zweiten Themenlinie des Festivals wurden Rituale des Loslassens und des Abschiednehmens sowie das Sterben und der Tod bearbeitet. Liz Rosenfeld und Rodrigo Garcia Alves beschäftigten sich in ihrer Arbeit Thank you for your effort, even if these requests cannot be ­fulfilled mit möglichen queeren Praxen der Sterbebegleitung, der gegenseitigen Fürsorge, Freundschaft, Liebe und Pflege in wahlfamiliären Verbindungen. Die Gruppe Interrobang ließ uns in ihrer Audioinstallation Deep Godot auf einen Pflegeroboter treffen, eine Künstliche Intelligenz, mit der wir bereits in jüngeren Jahren unsere zukünftigen Wünsche für die Alters- und Pflegebegleitung besprechen konnten. Die Choreografin Doris Uhlich nahm uns in ihrer Arbeit Tank mit auf einen Science-Fiction-Körpertrip zwischen Isolation und Konservierung. Siegmar Zacharias und Steve Heather führten uns durch eine Online-Klangmeditation, in der die transformative Kraft der kollektiven Trauer, des kollektiven Hörens auf die Stimmen der Vorfahren, der Geborenen und Ungeborenen erlebbar wurden. Cora Rudy van Dongen Frost und Franz Reimer hielten die Erinnerungs-Séance Sogar dein Tod war ein Geschenk über eine große Freundschaft, den Abschied von und das künstlerische Erbe des Schauspielers und Freundes Walter Ladengast. Die Regisseurin und Performerin Corinne Maier verhandelte in ihrem Stück Die Zufügung den Tod von und die Trauer um die Theaterautorin Gerlind Reinshagen, die während der Proben zu einem gemeinsamen Stück 2019 verstarb.

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In seiner Arbeit Alter Hase feierte Lajos Talamonti mit ehemaligen Weggefährt*innen sein 38-jähriges Bühnenjubiläum in der Freien Szene und befragte sie und sich selbst nach ihren Wendepunkten im Leben nach ihrer gemeinsamen Tanzausbildung und den darauf­ folgenden unterschiedlichen Karriere- und Lebensstationen und den jeweiligen Abschieden von der Bühne. Die Beschäftigung mit diesen Themen war für die Künstler*­ innen mit sehr persönlichen Erlebnissen, Reflexionen und schmerzhaften Erfahrungen verbunden. Trauerprozesse, die eigene Vergänglichkeit, der Abschied von geliebten Menschen, das Schwinden der eigenen Kräfte und die veränderte Körperlichkeit – all das zu veröffentlichen, war für viele ein Novum. Der etwas altmodische Begriff der Katharsis schien hier auf die eine oder andere Weise für Performer*innen und Publikum seine willkommene Wirkung zu entfalten. Hier wie gesamtgesellschaftlich finden Prozesse von Abschiednehmen, Trauer, Loslassen und Sterben eher hinter verschlossenen Türen statt und damit häufig als unsichtbarer oder gar nicht vorhandener Teil des Lebens. Öffentliche Reflexion und Austausch können auch hier viel zur Enttabuisierung und zu heilsamer Erfahrung in Gemeinschaft beitragen. Erfahrungsaustausch und eigene Beispiele sind hilfreich, um diese Lebensbereiche nicht allein bewältigen zu müssen und vielleicht auch alternative Umgangspraxen zu entwickeln. Insofern können die Performing Arts wichtige Impulse geben und neue Formen der gemeinsamen Erfahrung und Reflexion ermöglichen. Körper Auffällig war sogar in diesem spezifischen Festival die Abwesenheit von alternden Körpern – ein Phänomen, das wir trotz intensiver Bemühungen nicht wirklich zu ändern vermochten. Durch die Pandemie wurde dieses Manko einmal mehr verstärkt. Die Videoarbeit der Künstlerin Vanessa Stern Gebeine. Die Frieda, die ich meine war eigentlich als eine Live-Arbeit mit einer motivierten Gruppe älterer Damen geplant, die sich in einigen Workshops unter Anleitung von Vanessa Stern mit der Figur der Komischen Alten beschäftigt hatten. Die Videoarbeit ist nun etwas anderes geworden, aber durchaus auch sehr lohnend anzuschauen mit spannenden ­Ebenen zum Thema Erinnern und Alter.4 Auch die Arbeit von Isabel Schwenk und Markus Schmans Im Wald mit … eine generationenübergreifende Wanderung durch ­Berlin war als Live-Show mit Großeltern und ihren Enkelkindern auf der Bühne geplant, in der sie ihre gemeinsamen Wanderungen reflek-

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tieren. Auch dieses Stück ist am Ende in anderer Form auf Vimeo gelandet.5 Entgegen dem Mythos, die Freie Szene sei ja schon so viel diverser als das Stadttheater – diverser vielleicht ja, divers noch nicht – wurde hier einmal mehr schmerzlich das Fehlen von alten Körpern deutlich. Wir haben diese Leerstelle als Beweis dafür verstanden, dass die sozioökonomischen Parameter und Strukturen der Freien Szene für das Altern und andere marginalisierte Positionen eine besondere Herausforderung bedeuten, die es auf unterschiedlichen Ebenen stärker zu reflektieren und aktiv zu füllen gilt. Diskursformate In den Diskursformaten, zwei Paneldiskussionen und einer Peer-toPeer-Akademie, beschäftigten wir uns schließlich mit den bereits erwähnten strukturellen und sozioökonomischen Fragen. Was bedeutet es, in den prekären Strukturen der Freien Szene zu altern? Wie wird dieses Arbeiten den Ansprüchen der verschiedenen Lebensphasen und Lebensalter gerecht? In der Berliner Gesprächsrunde6 mit langjährig tätigen Künstler*­ innen und Gruppen und ihren Überlegungen und Forderungen zum Älterwerden in der Freien Szene kam treffend ein Grundtenor zur ­Sprache: Keiner will alt sein, alle wollen alt werden. Denn als Künstler*in geht es auch um Labeling und einen Marktwert, der mit dem Attribut alt versehen – so die Befürchtung vieler Künstler*innen – nicht unbedingt wächst. Etabliert sein – ok, schon länger dabei – ok, aber nicht alt. Um noch einmal auf die Impulse von Silke van Dyk zurückzukommen und einige ihrer Gedanken zu paraphrasieren: Ageismus geht von den unmarkierten mittleren Lebensjahren aus. Von da aus wird das Alter als das Andere besprochen und markiert. Wenn z. B. über die Alten gesprochen wird, die geschützt oder gefördert werden müssen, sie aber nicht mehr als die Handelnden selbst angesehen werden. In den gängigen Narrativen bringen die Jungen Kreativität, Impulse, das Neue, Innovativität und Tempo. Die Alten hingegen stehen für Ruhe, Erfahrung, Loyalität und Kooperationsbereitschaft. Im Kunstkontext sind diese Zuschreibungen – wie in vielen anderen Feldern der Gesellschaft – problematisch, weil sie die Älteren als besonnene Hintergrundressource sehen, aber nicht mehr als die, die kreativ sind, die Ideen haben oder etwas voranbringen. Auch im künstlerischen Kontext der Performing Arts ist es ­dringend notwendig, diese festgefahrenen Narrative ordentlich durch-

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zuschütteln und neue hervorzubringen. Die Auseinandersetzung mit dem Attribut »alt« ist hier noch recht neu und nach wie vor negativ konnotiert. In den Gesprächen war immer wieder zu spüren, wie um einen konstruktiven, kreativen, positiven und fröhlichen Umgang damit gerungen wird. Viele etablierte Künstler*innen wollen natürlich in der Freien Szene alt werden, aber nicht alt sein. Das Ringen um das »gute« Altern hat also in unserem Feld erst begonnen. Kurze Schlaglichter zum Schluss Wie alle anderen Marginalisierungsmarker ist auch das Alter einer, der kontinuierlich in der Programmarbeit der Theater mitgedacht werden sollte. Trotz Nachwuchsarbeit und Newcomer-Fixiertheit der Freien Szene muss es zukünftig stärker um die Schnittstellen zwischen g­ ender, race, ableism, class und age gehen, wobei das Alter eben nicht an letzter Stelle stehen sollte, wo es am Ende doch allzu oft vergessen wird. Es bleibt zu hoffen, dass das Thema Altern mit seinen verwandten Themen in den kommenden Jahren einen selbstverständlichen Platz im Kanon der Performing Arts einnehmen wird. Durch die zunehmende Betroffenheit vieler Künstler*innen und Kollektive vom Thema des Alterns/Alters rutscht der Kampf für bessere sozioökonomische Strukturen, die ein gutes Altern und Altsein als Künstler*in in den Performing Arts ermöglichen, hoffentlich immer weiter nach oben auf der kulturpolitischen Agenda. Nichtsdestotrotz bleibt die Repräsentation von Alter und das wie auch immer zu definierende »gute« Altern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, welche die künstlerische Praxis nur in Zusammenarbeit mit vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen und der Politik gemeinsam verbessern kann. Die Frage der Generationensolidarität stellt sich zunehmend in der Arbeit der Freien Szene, in den Häusern, Spielstätten, Programmen, Produktionen, Arbeitsweisen. Die Herausforderung besteht hier ebenso wie gesamtgesellschaftlich darin, die Unvereinbarkeit von ökonomischen und solidarischen Interessen so weit wie möglich zu verringern. In der Freien Szene wird der Wunsch nach Austausch, Wissenstransfer und Wertschätzung des jeweiligen Erfahrungsschatzes der Generationen untereinander immer präsenter und findet mehr und mehr seinen künstlerischen Ausdruck und eine gelebte Arbeitspraxis. Kuratorische Impulse und gezielte Programmarbeit können viel dazu beitragen, die Arbeit an diesen Fragen und Debatten in den Performing Arts zu unterstützen und weiter voranzubringen und damit den verschiedenen Stages of Ageing dauerhaft eine Bühne zu geben.

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1 Im Zusammenhang mit allen in diesem Text erwähnten paraphrasierten Thesen Silke van Dyks vgl. auch ihre Publikation: van Dyk, Silke: Soziologie des Alters, Bielefeld 2020. 2 Weitere Gäste neben der Soziologin und Altersforscherin Silke van Dyk waren Janina Benduski (u. a. Beirätin und Mit-Initiatorin der Studie Systemcheck/­ Bundesverband Freie Darstellende Künste, PAP Berlin), Almuth Fricke (­Leiterin kubia – Kompetenzzentrum für Kulturelle Bildung im Alter und inklusive K ­ ultur, Köln), Angie Hiesl (Choreografin, Performance- und Installationskünstlerin, Köln), Hannah Zufall (Autorin, Theatermacherin, Berlin, Mitinitiatorin The ­Golden Age Netzwerk), Moderation: Franziska Werner. 3 Coming of Age – ein Performancefestival, sophiensæle Berlin, 15.09. – 07.11.2021; Kuration und künstlerische Leitung: Joy Kristin Kalu, Franziska Werner; Dramaturgie: Alexander Kirchner. Gefördert aus Mitteln des Hauptstadtkulturfonds. 4 Vgl. www.diefriedadieichmeine.de. 5 Vgl. https://vimeo.com/619113202. 6 »Stages of Ageing I: Altern in der Freien Szene – das Berliner Panel«, Moderation: Joy Kristin Kalu, Franziska Werner; Gäste: Rahel Häseler (andcompany&Co.), Christoph Winkler, Lisa Lucassen (She She Pop), Sarah Thom (Gob Squad), Cora Frost; sophiensæle Berlin, 25.10.2021.

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Irgendwann entspricht man

Alexandra Kolb


nicht mehr dem Schönheitsideal Alternative(s) Sichten

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Wie kommt das Neue ins Theater? Ein autofiktionales Gespräch A – Zwei Studierende der Kultur- und Medienwissenschaft, Bachelor, 2. Semester B – Dramaturgin und künstlerische Leiterin des Produktionshauses für Freie Darstellende Künste, FFT Düsseldorf A: Uns interessiert, wie Sie das Verhältnis von künstlerischer Innovation und Alter in den zeitgenössischen performativen Künsten beziehungsweise im Freien Theater beschreiben würden. B: Eine gute Frage. Sie ist gar nicht so leicht zu beantworten, weil es insgesamt noch relativ wenig Geschichtsschreibung auf diesem Gebiet gibt. Wir können also nicht einfach im Archiv nachschauen, welche Arbeiten es bereits gibt oder gegeben hat, und daran abgleichend bestimmen, was heute als »neu« im Freien Theater gelten könnte. Mir fällt in diesem Zusammenhang die Initiative Performing the Archive und ihre Studie mit gleichlautendem Titel ein, die 2018 erschienen ist und Vorschläge macht, wie die zurückliegenden rund fünfzig Jahre freier Theaterarbeit historisch aufzuarbeiten wären. Dabei steht die Frage nach einem Archiv des Freien Theaters in unmittelbarem Zusammenhang mit der wachsenden Anerkennung und Etablierung im Bereich der Freien Darstellenden Künste. Bemerkenswert finde ich, dass es Gruppen und Künstlerkollektive gibt, die seit zwanzig, dreißig Jahren zusammenarbeiten. Das ist neu und sicherlich darauf zurückzuführen, dass die öffentliche Förderung in diesem Bereich kontinuierlich ausgebaut wurde. Dadurch wurden Kontinuitäten in der künstlerischen Produktion und entsprechende Arbeitsbiografien erst möglich. Wer hätte vor dreißig Jahren gedacht, dass Altwerden im Freien Theater überhaupt eine Option sein würde? Niemand. Freie Gruppen galten entweder als Amateurtheater oder als künstlerischer Nachwuchs. Sie sind bekannt dafür, dass Sie Gruppen lange begleiten. Gibt es ein Problem bei der Ablösung von bereits etablierten künstlerischen ­Positionen durch jüngere, innovative Ansätze und Praktiken? Da müssten wir eigentlich erst mal genauer definieren, was wir heute unter künstlerischer Innovation verstehen und ob das Bild, dass eine

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Generation von einer nachfolgenden abzulösen wäre, überhaupt zutreffend ist. Dass sich künstlerische Bewegungen wie im zwanzigsten Jahrhundert als Avantgarde, als »Vorhut« einer in die Zukunft und auf kulturellen »Fortschritt« gerichteten Form der Kulturkritik ver­ stehen, diese Vorstellung halte ich eher für einen problematischen Aspekt der Moderne, deren historische Verwerfungen es sich bewusst zu machen und aufzuarbeiten gilt. Ich denke, dass aktuell ganz andere Dynamiken und Konflikte von Bedeutung sind, entlang derer die Neuverteilung der Macht verhandelt wird, sei es in der Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe, mit patriarchalen Strukturen oder heutigen Formen des ­Kapitalismus. Gleichzeitig leben wir in einer Zeit des tiefgreifenden technologischen Wandels und in einer Zeit existenzieller ökologischer Krisen. Beides hat immense Auswirkungen auf die Formen des Zusammenlebens und des In-der-Welt-Seins. Die künstlerischen Kontexte, in denen wir uns bewegen, sind komplexer, vielstimmiger und diverser als vor zwanzig, dreißig Jahren. Die Haltungen, mit denen sich Künstler*­innen im Feld der Darstellenden Künste bewegen, können sehr unterschiedlich sein, je nachdem, wo und wie sie sich in den beschriebenen Konflikten positionieren, von wo aus sie sprechen, ob sie sich in lokalen oder transnationalen Zusammenhängen bewegen, forschend, lernend, aktivistisch, kämpferisch. Es geht nicht so sehr um einen Generationswechsel als um die Frage, wie sich die Theater, die hierzulande in einer bürgerlichen Kulturtradition stehen, öffnen. Produktionshäuser bieten interessante institutionelle Rahmenbe­ dingungen für diese Öffnungsprozesse. Wie erinnern Sie die Situation, als Sie Mitte der 1990er Jahre zusammen mit anderen Kolleg*innen angefangen haben, in Berlin die ­Arbeiten von jungen Theatermacher*innen für das Nachwuchsfestival reich & berühmt zu kuratieren? Ich hatte meine Magisterarbeit über Elfriede Jelinek geschrieben und war herumgereist, um mir Inszenierungen ihrer Stücke anzusehen. Die hatten jedoch nach meinem damaligen Theaterverständnis keine interessante Form im Umgang mit den Texten gefunden. Meine Begeisterung für Theater hatte stark nachgelassen. Aber dann habe ich 1993 die Wooster Group beim Festival Theater der Welt in München gesehen. Das war ein wichtiges Aha-Erlebnis, ein anderer Theaterentwurf, den ich bis dahin nicht kannte. Ansonsten spielte der Austausch mit Freunden, die Bildende Kunst studierten und sich eher für Film als für Theater interessierten, eine wichtige Rolle. Denen wollte ich bewei-

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sen, dass Theater als zeitgenössische Kunst ernst zu nehmen ist. Wir begeisterten uns für Roy Cohn/Jack Smith von Ron Vawter und die ­frühen Arbeiten von Schlingensief an der Volksbühne. Und diese Freunde fanden es dann auch lustig, fünf Mark dafür zu bezahlen, um für ein paar Minuten mit einer Darstellerin von She She Pop im Schrank zu verschwinden. Ich habe damals als Journalistin über diese Performances geschrieben. Ich war hingerissen und wollte mit dem Schreiben eine Antwort auf das Erlebte geben. Es hatte sich noch kein Diskurs für diese neuen Praxen etabliert. Ein Begriff wie Hans-Thies ­Lehmanns »postdramatisches Theater« setzte sich erst im Laufe der Zeit durch. Daher spielte auf theoretischer Ebene vor allem die Auseinandersetzung mit der Performance Art der 1960er Jahre eine wichtige Rolle. Andy Warhols From A to B and back again war eine große Inspiration, seine Experimentalfilme Screen Tests, außerdem die Filme von Jack Smith, Guy Debords Gesellschaft des Spektakels, Diedrich Diederichsens Sex Beat und Freiheit macht arm. Es ging gar nicht so sehr ums Theater, sondern eher um die Suche nach einem Ausdruck für die Lebensrealitäten der 1990er Jahre und ums Selbermachen. Umherschweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit und Subversion, von ­Thomas Atzert herausgegeben, war ein weiteres wichtiges Buch zu der Zeit, mit Texten von Mauricio Lazzerato, Paolo Virno und Toni Negri. Liebe und Arbeit, also die Frage, wie die ökonomischen Umbrüche in die privaten Beziehungen hineinwirkten, war damals ein zentrales Thema. Es ging darum, den gesellschaftlichen Wandel zu begreifen, den Umbau des Sozialstaats zur post-fordistischen, neoliberalen, kapitalistischen Kontrollgesellschaft. Viele Performances setzten sich mit dem unternehmerischen Subjekt auseinander, mit der Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Nicht zuletzt ging es um die Reflexion der Auswirkungen der Digitalisierung; es war die Zeit, als das Internet allmählich zum Massenmedium wurde. Das beschreibt gewissermaßen den performative turn im Theater seit den 1990er Jahren, der zu neuen Darstellungsformen führte, die inzwischen künstlerisch etabliert sind. Stünde jetzt nicht ein erneuter ­Generationswechsel an? Insofern unterschiedliche Mediensozialisationen den Zugang zur Welt prägen, lässt sich tatsächlich ein Generationswechsel beobachten. In dem Zusammenhang fällt häufig das Stichwort Post-­InternetArt. Damit lassen sich die künstlerischen Praxen der Digital Natives beschreiben, also derjenigen, die als Ureinwohner*innen in der Welt des Internets zuhause sind. Sie leben eine alle Lebensbereiche

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­ urchdringende Kultur der Digitalität als Normalität, ohne dass das d »Neue« des Digitalen thematisiert wird. – Aber auch hier geht es eher um eine Haltung und nicht so sehr um eine Frage des Alters. Diese Haltung kann die Routinen des Kunstbetriebs und des Theaters herausfordern. Welche Konsequenzen hat diese Haltung für zeitgenössische künstle­r­ische Praxen? Ich kann versuchen zu beschreiben, wie ich es wahrnehme. Mir fällt auf, dass aktuelle künstlerische Praxen unter, wenn man so will, post-internet-condition weniger auf Darstellung oder Narration zielen, als vielmehr den Gebrauch von Bildern, Codes, Styles und Formen ­zeigen, kommentieren, montieren, überschreiben und zur interaktiven Aneignung anbieten. So entwickeln Künstlerkollektive einer jüngeren Generation wie beispielsweise The Agency in immersiven Settings Modelle für imaginäre Formen des Zusammenlebens, die eine mögliche Zukunft entwerfen. Statt sich auf ein kollektives Gedächtnis zu beziehen, appellieren sie an eine kollektive Vorstellungskraft. Andere arbeiten wie das Gametheaterkollektiv machina eX an der Verflechtung von Videogames und Liveperformance oder wie das feministische Künstlerinnenkollektiv Henrike Iglesias, das sich auf die Dekonstruktion von Geschlechternormen spezialisiert hat. Auch der Begriff des Pre-Enactments, wie ihn Oliver Marchart mit Blick auf künstlerische Praxen geprägt hat, deren Widerständigkeit sich erst in einer zukünftigen politischen Situation erweist, zielt auf die Potenzialität von Geschichte. Szenische Praxen werden nicht zur Repräsentation einer Wirklichkeit benutzt, die von Zuschauer*innen betrachtet oder beobachtet wird, sondern zur Herstellung von Umgebungen, die dazu einladen, in ihnen Formen und Regeln zu erfinden, mit denen sie gemeinsam bewohnt und gestaltet werden können. Die Grenzen­ ­zwischen Produktion und Rezeption werden durchlässig. Es geht um Prozesse der Aushandlung, in denen die Beteiligten miteinander interagieren und so auch mitverantwortlich für den Verlauf und den Ausgang einer »Aufführung« werden. Bezeichnend ist vielleicht auch, dass sich die künstlerischen Teams anders transdisziplinär zusammensetzen als vor zwanzig ­Jahren: Bestimmte technische Fähigkeiten, etwa zur Entwicklung oder Anwendung von Software oder für Strategien des cultural hackings, spielen zunehmend eine Rolle, ebenso wie soziale und kulturelle ­Kompetenzen, die durch die transnationale, diverse oder auch altersgemischte Zusammensetzung von Ensembles, aber auch durch

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­ ooperationen zum Beispiel mit Naturwissenschaftler*innen er­­rei­cht K werden. Zum Schluss möchten wir Sie fragen, woran Sie gerade arbeiten ­beziehungsweise welche Arbeit Sie in der letzten Zeit besonders be­geis­ tert hat? Wir arbeiten gerade zusammen mit den Künstlerinnen Monika Gintersdorfer, Annick Choco und Montserrat Gardó Castillot, die in diesem Falle das Programm als Kuratorinnen mitverantworten, an einer Performance-Reihe mit dem Titel Politics of Invitation, mit der wir Formen der Gastgeberschaft und der Einladungspolitik befragen. Das ist auch eine spannende Möglichkeit, andere institutionelle ­Praxen zu erproben. Wenn Sie ein Beispiel möchten für etwas, was mich zuletzt richtig begeistert hat, dann fällt mir als erstes das Hörspiel von Laura Naumann Das hässliche Universum (Deutschlandfunk Kultur 2021) ein. Darin wird ein sehr treffendes Bild des digitalen ­Lifestyles zwischen Utopie und Dystopie entworfen, eine Art Ausstieg­ szenario aus dem Katastrophismus unserer Zeit.

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Aber was passiert, wenn

Alexandra Kolb


die Jungen älter werden

Alternative(s) Sichten

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Ein Interview mit Constantin Hochkeppel

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Manchmal habe ich das Gefühl, Kunst von älteren Menschen ist unsichtbar

»Manchmal habe ich das Gefühl, Kunst von ­älteren Menschen ist unsichtbar« Ein Interview mit Constantin Hochkeppel Mein Name ist Constantin Hochkeppel und ich bin 1990 geboren. Ich bin Theatermacher im Bereich Physical Theatre. Ich arbeite mit m ­ einer eigenen Company KimchiBrot Connection. Wir sind in Köln und im Ruhrgebiet ansässig. Darüber hinaus arbeite ich mit der Performing-Group zusammen, wir machen Tanz für junges Publikum. Zudem arbeite ich projektbezogen als Choreograf und Regisseur für verschiedene Stadttheater. Was bedeutet das Thema Alter im Augenblick für dich persönlich? Ich bin gerade dreißig geworden. Vor fünf bis zehn Jahren war dreißig noch lange hin. Dreißig war: »Da bin ich angekommen.« Jetzt bin ich dreißig und ich würde nicht sagen, dass ich angekommen bin. Wobei ich auch nicht wüsste, wo ich ankommen sollte. Da hat sich eine Per­ spektive verändert für mich. Ich merke, dass ich anders wahrgenommen werde, ich habe gefühlt eine Art Welpenstatus verloren. Ich finde das toll, dass ich so sein kann, wie ich bin. Auch wenn mir sehr bewusst ist, dass ich weder so aussehe noch mich so verhalte, fühle ich mich im Kern immer noch so wie mit achtzehn. Ich erfahre eine Art Kontinuität in meiner Persönlichkeit. Wegen meines Geburtstages habe ich mich mit dem Thema Alter auseinandersetzen müssen und es hat mir überraschenderweise keine Angst gemacht. Das fand ich schön. Alter und Älterwerden ist in unserer Gesellschaft negativ besetzt. Irgendwann entspricht man nicht mehr dem Schönheitsideal. Man hat Falten, kriegt vielleicht eine Plauze oder schütteres Haar oder kann nicht mehr das leisten, was man mal geleistet hat, als man noch jung war. Ich erfahre das momentan an meinem Körper. Das ist ein schöner ­Prozess, weil es was Bewusstes ist. Was bedeutet das Thema Alter im Augenblick auf deine künstlerische Arbeit bezogen? Für meine künstlerische Arbeit stellt sich mir die Frage, wie lange ich noch auf der Bühne stehen kann, ganz praktisch. Wie lange kann ich noch das physisch darstellen, was ich darstellen möchte? Inwiefern kann ich meinen Erwartungen noch gerecht werden? Inwiefern muss ich meine Erwartungen anpassen an meine körperlichen Fähigkeiten? Oder gibt es vielleicht in dem Feld andere Positionen, wie zum Beispiel

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Choreografie oder Regie, die ich dann perspektivisch eher einnehmen werde und auch möchte? Thematisch hat sich das bisher noch nicht so niedergeschlagen in den Arbeiten. Wobei ich merke, dass das Thema Intergenerationalität immer präsenter wird in der Gesellschaft und in meinen eigenen Arbeiten. Welche Erfahrungen hast du in der Zusammenarbeit mit älteren Künstler*innen? In allen Fällen, in denen ich mit älteren Menschen zusammengekommen bin – und älter meint jetzt vielleicht über fünfzig –, war das eine ganz tolle Zusammenarbeit, weil ich das Gefühl hatte, ich selbst werde respektiert in meiner künstlerischen Vision und künstlerischen Persönlichkeit. Und auf der anderen Seite: Ich darf mit so einem reichen Geschöpf, reich an Erfahrung und an Wissen, arbeiten. Da findet ein Geben und Nehmen statt, ein Austausch von Wissen und Erfahrung. Was darunter liegt: Offenheit und ein Gefühl von Sicherheit. Wie erlebst du das Älterwerden als Mann in unserer Gesellschaft? Ich habe das Gefühl, dass ich aufgrund meiner Homosexualität noch einmal anderen Erwartungen oder anderen Bildern ausgesetzt bin. Ich habe momentan das Gefühl, dass ich mich davon ganz gut emanzipiert habe. Es gibt in meinem Freundeskreis aber auch Männer, die älter sind und die ein Verhalten gegenüber Jüngeren und auch Frauen an den Tag legen, das ich ganz widerlich finde. Ich merke, dass Mannsein mit einem gewissen Habitus einhergeht, der sich sehr stolz über andere stellt. Als männlich gelesene Person hat man heutzutage ­meiner Meinung nach immer noch einen ganz anderen Stand in der Gesellschaft. Du stehst als junger Künstler noch am Anfang deiner Karriere, was bedeutet dies für dich? Gibt es spezielle Ziele, die du künstlerisch erreichen willst? Je älter ich werde, desto mehr kommt der Satz, ich müsste eigentlich schon das und das gemacht haben, in den Vordergrund. Das hat mit einem gewissen Erwartungs- und auch Produktionsdruck zu tun, den man hat, wenn man sich etablieren möchte. Ich bin gerade an einem Punkt, wo ich mich frage: Sollte es wirklich mein Ziel sein, den und den Preis zu gewinnen, da und da zu arbeiten oder als Person überhaupt bekannt zu werden, so viel zu arbeiten, dass ich ständig auf der Bildfläche bin? Oder sollte ich im Gegenteil eher das machen, was ich ­wirklich interessant finde, Produktionen absagen, die ich nicht so

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spannend finde, und eher meine künstlerischen Interessen vertiefen? Jetzt lege ich den Grundstein für die nächsten Jahre, Jahrzehnte. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht muss ich gar nicht irgendwo ankommen, sondern es kann einfach irgendwie weitergehen. Da kommt dann das Projekt und dann das nächste Projekt, und da öffnet sich noch mal die Tür. So, wie es die letzten vier Jahre gewesen ist, kann es sehr gerne weitergehen, weil das befreit war von der Überlegung, wo will ich hin, was will ich machen, sondern einfach ein Offensein für Möglichkeiten war. Und ich fand das ganz angenehm. Siehst du dich eher als Einzelkünstler oder eher in Kollektivstrukturen eingebettet? Wo siehst du dich in der Zukunft? Ich mag es, kollektiv zu arbeiten, egal, ob ich der künstlerische Leiter bin, der die Entscheidungen trifft, oder Teil eines Kollektivs mit kollektiven Entscheidungen. Kollektivität prägt meine Arbeit, egal, ob ich als Einzelkünstler unterwegs bin oder mit meiner Company. Wir haben eine sehr flache Hierarchie, auch wenn wir klare Rollen­zuweisungen haben. Wir merken, dass gerade diese Arbeitsweise – auf der einen Seite klare Verantwortlichkeiten, auf der anderen Seite aber eine flache Hierarchie und eine gute Kommunikation – uns sehr weit bringt. Wie stellst du dir dein Älterwerden und Altsein vor? Wünsche, Hoffnungen, gibt es möglicherweise eine Diskrepanz zu der erwarteten Zukunfts-Realität? Was mir Angst macht, ist die Zukunft unseres Planeten und die Zukunft unserer Gesellschaft, weil ich das Gefühl habe, dass wir vor so viele Herausforderungen gestellt sind, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt immer maroder wird und mehr und mehr bröckelt. Deswegen will ich mir gar nicht ausmalen, wo ich mit fünfzig sein könnte, weil ich gar nicht weiß, ob ich mit fünfzig überhaupt noch lebe. Wenn ich das ausspreche, hört sich das schwarzmalerisch an, aber das sind tatsächlich Sorgen, die ich habe und die auch irgendwie mein Handeln bestimmen. Eine Hoffnung ist, dass die Politiker*innen, die nun mal das Ruder in der Hand halten, checken, dass Kapitalismus nicht das Nonplusultra ist und uns definitiv nicht helfen wird, wenn wir noch länger als die nächsten hundertfünfzig Jahre auf dieser Erde leben w ­ ollen. Hast du das Gefühl, dass die Zukunftsangst auch in deine/eure Arbeit einfließt? Ja, habe ich. Dieses Thema ist in den letzten ein bis anderthalb Jahren immer akuter geworden. In unserer nächsten Produktion wird das auf

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jeden Fall ein Thema sein. Da geht es zum Beispiel um Verlust. Ich finde es wichtig, dass sich Kunst damit auseinandersetzt, weil Kunst noch mal einen ganz anderen Zugang zum Menschen hat als Politik. Weniger über den Kopf, mehr über das Gefühl. Das Ding ist halt nur, dass gerade die Menschen, die diese Kunst eigentlich sehen, hören, mitbekommen sollten, nicht die Möglichkeit oder den Wunsch haben, diese Kunst wahrzunehmen. Sollte sich in Bezug auf die jüngere Generation gesellschaftspolitisch etwas ändern? Es täte uns allen gut, wenn die Generationen mehr Kontakt zueinander hätten. In unserer Gesellschaft haben sich ganz viele Subgesellschaften ausgebildet, die kaum miteinander kommunizieren, und das finde ich unglaublich schade. Ich bin ja leider auch nur in meiner Subkultur unterwegs. Ich tue selbst auch wenig dafür, diese Mauern zu durchbrechen. Ich würde gerne mehr Kontakt mit älteren Menschen haben. Ich habe Freunde und Freundinnen, die älter sind als ich, und ich finde, dass ihre anderen Sichten auf die Welt bereichernd sind. Kannst du genauer sagen, auf welchem Gebiet sie bereichernd sind? Hast du vielleicht ein Beispiel? Ich merke, dass ich viel lernen kann in Bezug auf Politik und auf ­größere Zusammenhänge, zum Beispiel geschichtliche Zusammenhänge oder Kausalitäten. Und in Bezug auf die Sicht auf Liebe und auf Partnerschaft. Ich merke, dass ich mir von älteren Menschen, was den Umgang miteinander angeht, viel abgucken kann. Ich war damals noch nicht geboren, aber ich habe das Gefühl, dass die Integrationspolitik der BRD in den Anfängen schon katastrophal war und wir deswegen heute in 2020 in einer Gesellschaft leben, die eben nicht divers ist, sondern in sich, in den einzelnen Subkulturen, sehr homogen ist. Ich würde gerne in einer Gesellschaft leben, in der das gesellschaftliche Klima so ist, dass ein florierender, konstruktiver Austausch stattfindet und man gemeinsam zu neuen Einsichten kommt. Siehst du in der Kunst einen zunehmenden Generationenkonflikt? Ich habe schon das Gefühl, dass diejenigen, die die Gelder verteilen, zu wenig divers sind, und das meint auch zu wenig generationenübergreifend. Generell gibt es zu wenig Menschen, die jung sind und Entscheidungsmacht haben, auch in der Kunst. Ich erinnere mich, dass du mal gesagt hast, dass es ganz wenige Fördermöglichkeiten für ältere Künstler*innen gibt. Das finde ich bedauerlich, da ich es so wertvoll finde,

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mit älteren Menschen zusammenzuarbeiten und zusammenzuleben, weil ich das Gefühl habe, dass durch ihre Erfahrung ein Bewusstsein für das besteht, was sie machen wollen und auch nicht machen wollen. Aber ob ich einen Generationenkonflikt sehe? Also, da fehlt mir dann auch so ein bisschen Bewusstsein für eure Perspektive. Inwieweit können jüngere von älteren Künstler*innen bzw. ältere von jüngeren Künstler*innen profitieren? Generell können die Jungen vom Erfahrungsschatz der Älteren ­profitieren, wenn die Älteren gewillt sind, ihn auch zu teilen. Und die Älteren können von den Jüngeren lernen, offen zu sein für neue Wege, neue Methoden, neue Ästhetiken. Ich finde es unglaublich berührend zu sehen, wie sich ältere ­Menschen auf der Bühne bewegen. Ich habe das Gefühl, dass dieses Elefantengedächtnis in jeder Bewegung dabei ist, und das hat sowas unglaublich Fragiles und unglaublich Reiches. Ich finde diese fragile Reichhaltigkeit sehr berührend und häufig auch weise. Ich habe manchmal das Gefühl, dass Kunst von älteren Menschen, die nicht bekannt sind, unsichtbar ist. Angie Hiesl + Roland Kaiser, das ist in Köln ein Begriff. Aber ich habe das Gefühl, dass andere Künstler*­innen in eurem Alter wenig vertreten sind in Köln. Das mag daran liegen, dass es sie nicht gibt, aber es kann auch genauso gut daran liegen, dass sie einfach nicht sichtbar sind. Auf der anderen Seite nehme ich sehr viele Künstler*innengruppen in meinem Alter oder ein bisschen ­drüber wahr. Auch im Stadtbild. Was denkst du, woran es liegt, dass gerade in der Kunst, wie du sagst, die Älteren gar nicht so sichtbar sind? Woran liegt es, dass ich das nicht wahrnehme? Vielleicht ist das eher die wichtige Frage. Ich merke, dass ich Vorbehalte habe. Mein großes Vorurteil ist, dass Kunst, die von älteren Menschen kommt, gestrig ist. Und wenn ich das so sage, tut es mir leid, weil das natürlich nicht per se stimmt. Vielleicht sollte ich mir vornehmen, mir mehr Kunst von älteren Menschen anzuschauen. Ich kenne natürlich Werke von Pina Bausch zum Beispiel, die ja jenseits der sechzig noch Kunst gemacht hat. Das ist eines der wenigen Beispiele, die ich nennen könnte. Speziell auf Köln bezogen, fallen mir ganz wenige Kölner Künstler*innen, die älter sind ein. Ich sollte die Augen offenhalten. Was ist es genau, dass dich die Kunst von Jüngeren mehr interessiert als die von Älteren?

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Vielleicht ist es die Agilität. Würde ich mich entscheiden müssen ­zwischen einer installativen Performance und einem schnellen, energetischen Tanzstück, würde ich das schnelle, energetische Tanzstück wählen. Und diese schnellen, energetischen Tanzstücke sind meiner Erfahrung nach eher von jüngeren Menschen initiiert oder inszeniert. Wohingegen die Kunst von älteren Menschen eher kontemplativer ist. Darauf hat dann doch die leitende Person einen entscheidenden ästhetischen Einfluss. Ich denke jetzt zum Beispiel an VA Wölfl oder Pina Bausch. VA Wölfl ist älter, aber hat halt junge Tänzer*innen. Der hat einen sehr krassen, ästhetischen Einschlag, genauso wie Pina Bausch. Trotz der jungen Tänzer*innen sieht man manchmal oder häufig das Alter, weil das mit dieser künstlerischen Setzung zu tun hat. Weil die Setzung meiner Meinung nach im Alter viel klarer ist. Würdest du sagen, das hat etwas von ›bereits mehrmals gesehen‹ oder ›kennt man*frau schon‹? Das finde ich sehr zweischneidig. Dieses ›kennt man schon‹ spricht ja auch für eine Handschrift. Und das hat eine ganz starke Qualität, wenn eine persönliche künstlerische Handschrift vorhanden ist. Man kann das Rad nicht neu erfinden, alles war irgendwie schon mal da. Wie müsste etwas von einer älteren Person sein, damit es dich­ verblüfft? Es müsste eine immersive, multimediale, hochenergetische Physical-Theatre-Performance sein. So etwas würde ich nicht von einer älteren Person erwarten. Stellst du schon körperliche Veränderungen fest? Wenn ja, welche? Und wie wirken sie sich auf deine Kunst aus? Ja. Ich stelle körperliche Veränderungen fest. Ich habe zum Beispiel schneller Schmerzen, Gelenkschmerzen vom Tanzen. Und ich muss mehr arbeiten, um körperlich fit zu bleiben. Bisher haben diese und andere körperliche Veränderungen noch keinen großen Einfluss auf meine künstlerische Praxis gehabt. Das wird sich ändern, mit Sicherheit. Hast du eine Vorstellung, wo es hingeht, was passieren könnte? Ein Weg ist natürlich runter von der Bühne und hin zum Choreografen oder Regisseur. Eine andere Möglichkeit wäre, die Konzepte so anzupassen, dass sie auch von Menschen getanzt werden können, die ­körperlich nicht mehr so fit sind wie 18-Jährige, und sie dann selbst

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tanzen. Man sieht mir mein Alter an oder kann das einschätzen. Und das spielt auf der Bedeutungsebene wahrscheinlich immer mit, sodass ich getrost das weitermachen kann, was ich bisher mache, mit einem veränderten Körper und dadurch mit einer weiteren Bedeutungsebene. Sollten Künstler*innen irgendwann von sich aus zurücktreten, um jüngeren Künstler*innen Platz zu machen? Welche Grundvoraus­ setzungen wären dafür notwendig? Ältere Menschen sollten aufhören, Auto zu fahren. Aber ich finde nicht, dass ältere Menschen aufhören sollten, Kunst zu machen, weil ich der Meinung bin, dass ältere Menschen jüngeren Menschen auch in der Kunst viel geben können, zum Austausch und zum Nachdenken anregen können. Was natürlich heißt, dass es Plattformen geben sollte, wo sich junge und ältere Künstler*innen begegnen, dass es Förderung geben muss sowohl für Nachwuchskünstler*innen als auch für ältere Künstler*innen und die dazwischen. Und nicht nur Förderung, sondern auch Orte, an denen sie ihre Kunst machen können. Nicht ausschließlich ältere Künstler*innen, denn schön wäre, wenn es generationenübergreifend ist. Welche Bedeutung hat das Archivieren für dein/euer Werk? Über das Archivieren habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Was ich daran spannender fände, im Gegensatz zu Dokumentationen, wäre eine Archivierung des Arbeitsprozesses, weil der ja meistens viel spannender ist als das Produkt selbst. Wie man dahingekommen ist, kann Dokumentation in der Regel wenig abbilden. Ich fände es spannend, mir das bewusst zu machen und dann zu archivieren, um das als Blaupause nehmen zu können, um das anderen Künstler*innen zugänglich zu machen. Was soll von deiner/eurer Arbeit später bleiben? Spielt der Begriff künstlerisches Erbe für dich dabei eine Rolle? Natürlich ist das eine schöne Vorstellung, dass in hundert Jahren mein Enkel stolz darauf sein kann, was sein Opa gemacht hat, oder dass in zweihundert Jahren gesagt wird: Die Kunst des Constantin ­Hochkeppel hatte einen großen Einfluss auf die heutige Performance-Szene. Das hat was Romantisches und Sentimentales, aber auch was sehr Egoistisches und auch was Narzisstisches. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ein Bekannter, der jetzt ein Kollege von mir ist, Physical Theatre studiert hat, weil er ein Stück von uns gesehen hat, dann zu einem Workshop von uns gegangen ist und gefragt hat, wo man das denn

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s­ tudieren kann. Jetzt arbeitet er als Physical-Theatre-Darsteller. Es ist schön, Theater-Papa zu sein. Wenn ich Menschen begeistern kann, Theater zu sehen oder selbst Theater zu machen oder Tanz oder was auch immer, dann ist mir das als künstlerisches Erbe schon genug. Ich muss nicht die Gewissheit haben, dass noch in hundertfünfzig Jahren von mir gesprochen wird als bedeutender Theatermacher. Wie gehst du deine Alterssicherung an? Wegen der Rente habe ich den hohen Beitrag in der Künstlersozialkasse weiterlaufen lassen. Ich habe auch eine private Altersvorsorge, in die ich einzahle, und jetzt steht noch die Riester-Rente auf meinem Plan. Ich weiß gar nicht, ob ich dazu überhaupt berechtigt bin. Aber ja, das ist etwas, womit ich mich auseinandersetze. Es bricht mir das Herz, wenn ich alte Menschen Pfandflaschen sammeln sehe. So möchte ich nicht enden. Jetzt kann ich noch Geld in meine Altersvorsorge stecken. Jetzt habe ich Gott sei Dank noch eine Mutter, die mich unterstützen kann, weil sie verbeamtet ist. Das heißt, da bin ich privilegiert. Wie stellst du dir das Ende deines künstlerischen Schaffens vor? Gibt es überhaupt ein Ende vor deinem Tod? Ist das nicht sogar Molière, der auf der Bühne gestorben ist? Sowas will ich nicht. Ich habe mich noch nicht mit dem Ende meines künstlerischen Schaffens auseinandergesetzt, weil ich der Überzeugung bin, wenn es kommen soll, dann wird mir das sehr deutlich kenntlich gemacht. Solange es Menschen gibt, die mit mir arbeiten möchten, wird das sicherlich nicht der Fall sein. Solange es Menschen gibt, mit denen ich arbeiten möchte, wird das auch nicht der Fall sein. Solange ich Dinge zu sagen habe, würde ich gerne weiter Kunst machen. Und wenn ich dabei sterbe, nun ja, dann habe ich halt Kunst bis zum Ende meines Lebens gemacht. Und wenn ich als Postangestellter sterbe, dann hat mir mein Leben gezeigt: Okay, jetzt ist es auch mal gut mit der Kunst. Ich sehe das sehr pragmatisch.

Gekürzte Fassung des Interviews geführt von Angie Hiesl + Roland ­ Kaiser am 13. Oktober 2020 im Rahmen der Recherche zum Thema Kunst und Alter.

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Von wegen sicher: sozio-­ öko­nomische Realitäten

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Systemcheck Lebens- und Arbeitsrealitäten in den ­Darstellenden Künsten » Ich arbeite seit nunmehr dreißig Jahren, davon 25 Jahre mit dem Performancekollektiv She She Pop. Ich bin Quereinsteigerin und habe nach dem Hochschulabschluss eine Ausbildung […] gemacht. Ich bin Mutter von zwei Kindern, meine eigene Mutter braucht auch seit Längerem immer wieder pflegerische Unterstützung. Ich habe all die Jahre in verschiedenen Bereichen, auch ehrenamtlich, gearbeitet, kulturpolitisch und sozial. Sollte ich bis zum Rentenbeginn Beiträge wie im Durchschnitt der letzten fünf Jahre einzahlen, bekäme ich ohne Rentenanpassung eine monatliche Rente von 594,66 Euro. Bei Rentenanpassung ohne Berücksichtigung des Kaufkraftverlustes beim jährlichen Anpassungssatz von zwei Prozent erwarten mich 840 Euro. Ich denke nicht, dass ich – vor allem in Hinblick auf die steigenden Mieten, ohne Eigentumswohnung oder zu erwartendes Erbe – davon leben kann. Und da geht es mir wie vielen anderen freien darstellenden Künstler*innen.«1 Brüche im System – Von Versicherungslücken und Altersarmut Die soziale Absicherung ist, wie Fanni Halmburger im Eingangszitat beschreibt, für zahlreiche Erwerbstätige in den Darstellenden Künsten unzureichend, vielen Kunstschaffenden droht die Altersarmut. In ­Phasen ohne Aufträge, Förderung oder Gastspiele, in denen sie Sorgearbeit leisten, krank oder verletzt sind, sind Solo-Selbstständige und Hybrid-Beschäftigte in den Darstellenden Künsten nicht ausreichend abgesichert. Die lediglich als Empfehlung geltende Honoraruntergrenze (HUG), die nicht immer eingehalten und zu selten überschritten wird, reicht kaum für ein privates Polster, zum Beispiel für die Rente. Natürlich gibt es auch in den Darstellenden Künsten dahingehend Unterschiede: Wer beispielsweise ein Erbe erwarten kann, ist klar im Vorteil. Um diesen ökonomischen Herausforderungen standzuhalten, wird in den Darstellenden Künsten seit Jahren selbstverantwortlich versucht, die prekäre Situation mit innovativen Arbeits- und Lebens-

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modellen zu verbessern – partizipativ, kollaborativ, hybrid. Vielfach sind dadurch Modelle wie Genossenschaften oder Kollektivformen entstanden und weiterentwickelt worden. »Wir haben am Anfang Dinge wie Krankengeld für uns eingeführt. Das heißt, bei She She Pop bekommt man auch die Arbeit bezahlt, wenn man krank ist, bis die Künstlersozialkasse greift, weil das ja auch sehr spät ist [nach 6 Wochen2, Anm. der Autorin]. Später [haben wir] auch Krankengeld bei Erkrankung der Kinder [eingeführt]. Seit Kurzem bezahlen wir uns auch dreißig Tage Urlaub und […] zuletzt hatten wir einen Home­ schooling-Bonus. […] Aber was die Rente angeht, war bisher jede*r selbst verantwortlich«3, berichtete Halmburger aus der Praxis im Performancekollektiv She She Pop in ihrem Impulsvortrag beim Workshop »Sozial abgesichert!? Solo-Selbstständige in den Freien Darstellenden Künsten« am 24. November 2021 im Rahmen von Systemcheck. Dieses Forschungsprojekt des Bundesverbands Freie Darstellende Künste (BFDK) erforscht die Arbeitssituation von Solo-Selbstständigen und Hybrid-Beschäftigten in den Darstellenden Künsten und deren soziale Absicherung, und das ist auch dringend nötig: Bei der Mehrzahl der Akteur*innen in der Kunst- und Kulturwirtschaft verbindet sich die Freiheit unabhängigen künstlerischen Arbeitens mit einem Mangel an sozialer Absicherung. Es gilt, sich in Systeme einzugliedern, die kreative Arbeit verunmöglichen oder zumindest erschweren. Wer beispielsweise vorübergehend auf Arbeitslosengeld II angewiesen ist, muss künstlerische Praxis, Recherche, Dokumentationsarbeit oder Training unterbrechen, um dem allgemeinen Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen. Im Laufe der Coronapandemie, deren Einschränkungen die gesamte Breite der Gesellschaft erfasst haben, wurden insbesondere bei Solo-Selbstständigen und Hybrid-Beschäftigten im Bereich Kunst und Kultur die Lücken in der sozialen Absicherung deutlich. Die Notwendigkeit einer mittel- und langfristigen, zukunftsfesten und fairen Weiterentwicklung der Systeme im Bereich des künstlerischen Arbeitens ist daher aktueller denn je. Dass es um die soziale Absicherung der Betroffenen in den Darstellenden Künsten und ihren Interessenvertretungen schlecht steht, war schon lange vor der Coronapandemie klar. So setzt sich der BFDK auf Bundesebene für die Interessen seiner Mitglieder ein. Dabei sind die zentralen Anliegen unter anderem die nachhaltige Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen der Akteur*innen und die Entwicklung und Implementierung verbindlicher sozialer Mindeststandards.4 Die Maßnahmen, die im Sommer 2020 für diese zwei Gruppen der Erwerbstätigen in der Coronapandemie entwickelt wurden, haben jedoch

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gezeigt, dass die Lebensrealitäten von Kunstschaffenden vielen Verantwortlichen in politischen Gremien und der öffentlichen Verwaltung nicht ausreichend bekannt sind. Das zeigte sich auch am Beispiel zahlreicher freier Schauspieler*innen, die durch die Raster der ­Coronahilfen fielen.5 Um die Arbeits- und Lebenswirklichkeit der Solo-Selbstständigen und Hybrid-Beschäftigten in den Darstellenden Künsten inklusive der Schwierigkeiten bei Auftragslosigkeit, Krankheit und Elternschaft ausreichend zu erfassen und zu dokumentieren, werden nun Daten gefordert, am prominentesten zuletzt im Vertrag der aktuellen Regierungskoalition.6 »Systemcheck« durch Realitätscheck Diese Daten trägt der BFDK nun im Rahmen des vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) geförderten Forschungsprojekt Systemcheck zusammen. Eine konkrete empirische Analyse der Erwerbssituationen in den Darstellenden Künsten steht in Hinblick auf die soziale Sicherung aus, wenngleich immer wieder die mangelnde soziale Absicherung und die Einkommenssituation diskutiert werden. Mit dem Institut für interdisziplinäre Arbeitswissenschaft der Leibniz Universität Hannover, dem ensemble-netzwerk und dem Institute for Cultural Governance Berlin werden bis Ende 2023 wissenschaftlich fundierte und partizipativ im Feld entwickelte Handlungsempfehlungen erarbeitet. Im Rahmen mehrerer Themendossiers werden einzelne Aspekte näher beleuchtet und drei quantitative beziehungsweise qualitative Studien durchgeführt. Dabei werden die Erwerbstätigen in den Darstellenden Künsten aktiv in die Forschung einbezogen: In Workshops geht das Projektteam in direkten Austausch mit den Akteur*innen. Dadurch soll sichergestellt werden, dass so entstehende Handlungsempfehlungen an die Arbeits- und Lebenswirklichkeit der Betroffenen angepasst sind. Die zentrale Forschungsfrage lautet: Wie können die bestehenden sozialen Absicherungssysteme mittel- und langfristig auch für die besonderen Arbeitssituationen von Solo-Selbstständigen und Hybrid-Beschäftigen im Bereich der Darstellenden Künste wirksam gemacht und ausgebaut werden? Ziel ist die Überarbeitung des Sozialversicherungssystems hin zu dynamischen und fairen Instrumenten, die den Wert der Kunst und ihres ­kreativen Entstehungsprozesses auch sozialpolitisch anerkennen. Wie es ist, kann es nicht bleiben Zum Einstieg in den partizipativen Forschungsprozess wurden im November 2021 zwei Workshops durchgeführt. Solo-Selbstständige

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und Hybrid-Beschäftigte erarbeiteten den Status quo ihrer sozialen Absicherung. Unter anderem wurden die Möglichkeiten und Grenzen der Künstlersozialkasse aufgezeigt. Rechtsanwalt Andri Jürgensen, der seit fast zwanzig Jahren zum Künstlersozialversicherungsgesetz berät, nannte einige Korrekturbedarfe dieses Systems: die Notwendigkeit einer Öffnung für technische und organisatorische Berufe sowie die Berücksichtigung von Einnahmen, zum Beispiel aus soziokulturellen Projekten, die Überbrückung von nicht abgesicherten Phasen zwischen Projekten, Gastspielen und Förderungen sowie die Bereitstellung einer ausreichenden Altersvorsorge.7 Für Erwerbstätige, die in hybriden Arbeitsverhältnissen wirken, ist der Sozialversicherungsschutz durch die Künstlersozialkasse oftmals gar nicht möglich beziehungsweise der Verbleib ist fragil: Beim Wechsel zwischen selbstständigem und angestelltem Status oder künstlerischer und sogenannter nichtkünstlerischer Tätigkeit kommt es einem Balanceakt nahe, die erlaubten Grenzwerte der Nebeneinkünfte so zu organisieren, dass der Pflichtversichertenstatus gehalten werden kann.8 Gelingt dies nicht, kann der Verwaltungsaufwand hoch sein und ebenso die Abgabesätze oder Rückzahlungen an Sozial- und Steuersysteme. Nachvollziehbare Anliegen, die im Workshop mit Hybrid-Beschäftigten für einen Wandel der Künstlersozialkasse formuliert wurden, sind unter anderem die Versicherungspflicht für alle Erwerbstätigen in den Darstellenden Künsten und die Erweiterung um eine freiwillige Arbeitslosenversicherung. Außerdem sind – oftmals hybrid arbeitende – Gastkünstler*­ innen wegen tageweiser Anstellung sozialrechtlich benachteiligt, weil bei der Beitragsermittlung die sogenannten Tagesbeitragsbemessungsgrenzen angewendet werden. Dadurch verringern sich die Beiträge in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung, was sich auf die Absicherung im Alter negativ auswirkt.9 Künstlerisches Arbeiten wird vielfach durch Förderungen aus öffentlicher Hand ermöglicht. Förderstrukturen können aber nicht für die Lücken in der sozialen Absicherung herhalten und sollten das auch nicht tun müssen. Die Teilnehmenden des Workshops »Sozial abgesichert!? Solo-Selbstständige in den Freien Darstellenden Künsten« ­diskutierten die Problematik der projektbezogenen Förderung, die für die meisten Künstler*innen die Realität darstellt. Dabei sind Förderungen, die über ein Projekt hinausgehen und die künstlerische Arbeit überjährig ermöglichen, selten.10 Für belastbare Arbeitsstrukturen müssen die Sozialversicherungssysteme greifen, auch im Falle einer Familiengründung. Wer ausschließlich selbstständig tätig ist, hat keinen Anspruch auf Mutterschaftsgeld vom Bundesamt für Soziale

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Sicherung.11 Krankengeld, das auch während der Mutterschutzfristen als Mutterschaftsgeld in Höhe des Krankengeldes ausgezahlt wird, erhält nur diejenige, die eine Zusatzversicherung abgeschlossen hat.12 Die Fortführung der künstlerischen Arbeit während des Elterngeldbezugs gestaltet sich ebenfalls schwierig: Der Bemessungszeitraum berechnet sich allein aus dem letzten Kalenderjahr vor der Geburt des Kindes, sodass die Ersatzgeldzahlung oftmals – beispielsweise aufgrund weniger Engagements oder Aufträge in diesem Zeitraum – nicht ausreicht.13 Fanni Halmburger beschrieb in ihrem Impulsvortrag außerdem die bis heute nicht gelöste Herausforderung, eine ausreichende Altersabsicherung selbst bei langjährig erfolgreichen Erwerbsbiografien zu erreichen,14 denn es fehlten schlichtweg stets Ressourcen, um Altersvorsorge zu betreiben. Gleichzeitig gäbe es unterschiedliche Bedarfe und Voraussetzungen: Künstler*innen, meist aus den alten Bundesländern, hätten bereits geerbt oder würden ein Erbe erwarten. Ein Großteil der Künstler*innen aus den neuen Bundesländern hingegen müsse sich selbst versorgen und habe keine Aussicht auf eine Erbschaft. Weiter führte sie an: »[… In Bezug auf die] Altersabsicherung [herrscht] eine ziemliche Ungleichheit. […] Einige können sich vorstellen, irgendwann in Rente zu gehen, während andere, weil sie nichts haben, davon ausgehen, weiterzuarbeiten und – wenn alle Stricke reißen – ein Zimmer bei der Kollegin in deren Eigentumswohnung zu beziehen.«15 Rücklagen für die private Altersvorsorge sind bei geringem Einkommen nur schwer zu bilden. Im aktuellen Fördersystem ist es nicht möglich, Rücklagen aus Fördergeldern zu finanzieren. »Es geht immer noch darum, dass die Mindestjahre [in Hinblick auf die Bemessungsgrundlage für die Grundrente, Anm. der Autorin] nicht erreicht werden oder dass die volle Höhe des Prozentsatzes, der zu erreichen ist, nicht erreicht werden kann. […] Ich glaube, es geht immer darum, dass sich die meisten Leute in der Politik nicht vorstellen können, wie wenig Geld freie darstellende Künstler*innen im Durchschnitt verdienen«16, so Halmburger. Nachhaltige Veränderung? Coronapandemie, Systemcheck und neue Regierung Nicht zuletzt durch die Coronapandemie werden diese Themen nun auch in wirkungsmächtigen Gremien diskutiert. Die Kulturministerkonferenz hat sich unter Vorsitz von Ministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen die systematische Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Lage von Künstler*innen vorgenommen. In der Pressemitteilung vom

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9. März 2022 wird konstatiert, dass der »Hintergrund […] die häufig prekäre Situation von freischaffenden Künstlerinnen und Künstlern [ist]. Dass viele Künstlerinnen und Künstler schlicht zu wenig verdienen, um notwendige Rücklagen zu bilden, stellt dabei ein Grundproblem dar: Obwohl meist ein abgeschlossenes Hochschulstudium vorliegt, bewegt sich das Jahreseinkommen oft nah der Armutsgrenze. Laut Statistik der Künstlersozialkasse beläuft es sich im Schnitt auf 16.737 Euro im Jahr. Hinzu kommt, dass die Höhe des Einkommens erheblich schwankt bzw. das Einkommen teilweise vollständig entfällt, etwa in Phasen ohne Engagement.«17 Diesem Gesamtdurchschnitt entsprechend gelingt es den Künstler*innen, die in der Künstlersozialkasse versichert sind, den benötigten Durchschnittsverdienst für den Eintritt in die Grundrente zu erreichen. Der Durchschnittsverdienst darf dabei nicht höher als achtzig Prozent des bundesweiten Durchschnittsverdienstes sein und nicht unter dreißig Prozent liegen. Im Jahr 2021 belief sich der monatliche Durchschnittsverdienst auf rund 3.462 Euro18. Um Anspruch auf die Grundrente zu haben, müsste der monatliche Verdienst demnach im Jahr 2021 mindestens 1.038 Euro gewesen sein. Nur die Zeiten, in denen dieser Betrag erreicht wird, können für die Berechnung eines Grundrentenzuschlags berücksichtigt werden.19 Die Voraussetzungen für einen teilweisen Zuschlag sind mindestens 33 Jahre Grundrentenzeiten. Dabei werden nicht alle Zeiten, in denen Einnahmen generiert werden, von der Deutschen Rentenversicherung berücksichtigt: Steuerfreie Einnahmen, wie einige Stipendien, werden beispielsweise nicht auf den Grundrentenzuschlag angerechnet, ebenso wenig Einkünfte aus ehrenamtlichen Tätigkeiten und Minijobs (ohne eigene Beitragszahlung). Das jährliche Einkommen von Erwerbstätigen in den Darstellenden Künsten belief sich im Jahr 2021 laut eigenen Schätzungen auf durchschnittlich 16.226 Euro; dabei schätzen Männer ihr Durchschnitteinkommen auf 19.470 Euro, Frauen auf 13.036 Euro. Diesem Durchschnitt folgend erreichen beide Geschlechter mit ihrem Verdienst die nötigen 30 Prozent, um Rentenpunkte für das Jahr 2021 zu erwerben. Auf die durchschnittlichen Jahreseinkommen soll nun aber genauer geschaut werden: Wenn nämlich der oben genannte Durchschnitt mit den verschiedenen Untersparten der Darstellenden Künste verglichen wird, fällt auf, dass die in der Künstlersozialkasse ge­ listeten Berufsgruppen »Moderator/in, Conférencier/cière« und »Kabarettist/in, Comedian, Unterhaltungskünstler/in« bei den Männern weit über dem Durchschnitt liegen. Sechs Berufsgruppen, Tänzer*­innen, Schauspieler*innen, Puppen-, Marionetten-, Figuren-

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spieler*innen, Zirkus-­Performer*innen, Theaterpädagog*innen und Sängerdarsteller*­innen«, gehören nicht zu den 13 von insgesamt 19 gelisteten Untersparten der Darstellenden Künste, die den benötigten Durchschnitt erreichen – bei den Frauen. Männer sind in vier dieser sechs Bereiche benachteiligt: Im Tanz, Puppen-, Marionetten-, Figuren­spiel, Zirkus und bei den Sängerdarsteller*innen. 20 Runter mit den Barrieren In den oben genannten Durchschnittseinkommen werden Menschen, die sich nicht in der binären Geschlechtszuordnung wiederfinden, nicht berücksichtigt, weil sie sich entweder den Frauen oder den Männern zuordnen müssen. Entsprechend gibt es dazu auch keine Daten. Der barriere- und diskriminierungsfreie Zugang zur Künstlersozialkasse wird in den bisher durchgeführten Interviews der qualitativen Studie thematisiert. Formulare sind beispielsweise für Künstler*innen mit Sehbehinderung nicht ausfüllbar. Um zusätzliche Barrieren auch in anderen Vorsorgeangeboten zu identifizieren, bedarf es gesonderter Daten(erhebungen) zur Situation von FLINTA*-Personen21, Schwarzen und Indigenen, People of Color, Menschen mit Behinderung, Klassismus- und weiteren Diskriminierungserfahrungen. Für die Gruppe der Erwerbstätigen in den Darstellenden Künsten bleibt außerdem zu untersuchen, ob die für die Grundrente erforderlichen 33 Beitragsjahre erreicht werden. Die Zuverdienstgrenze bei der Künstlersozialkasse, also das, was nicht-selbstständig oder nicht-­ ­ künstlerisch verdient werden darf, belief sich vor der Coronapandemie auf 450 Euro pro Monat. Die Zuverdienstgrenze wurde während der Pandemie auf 1.300 Euro pro Monat erhöht.22 Für die Arbeits- und Lebensrealität der Solo-Selbstständigen und Hybrid-Beschäftigten in den Darstellenden Künsten ist es nun nach Abflachen der pandemischen Lage absolut notwendig, diese Zuverdienstgrenze beizubehalten und keinesfalls auf die vorpandemische Grenze von 450 Euro pro Monat zurückzukürzen. Ohne neue Honorarempfehlungen geht es nicht Die Einkommen von Betroffenen, die nicht in der Künstlersozialkasse versichert sind, sind bisher nicht in quantitativen Erhebungen vertreten. Halmburger merkte an: »Alle derzeit bestehenden Absicherungsmodelle beruhen auf einer monetären Leistung, die erbracht wurde. Ich glaube, dass wir […] darüber nachdenken müssen, wie das anders [gehen] kann. Da gibt es natürlich die Überlegung der Grundsicherung, die dieses System an sich aushebeln würde.«23 Darüber hinaus

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sei wichtig, die Frage zu stellen, wie schnelle Lösungen für derzeit akut Betroffene, also die, die nun in Rente gehen (wollen), unverzüglich herbeigeführt werden können. Gleichzeitig sei es wichtig, langfristige Strukturen zu etablieren. Auch erste Zwischenergebnisse der qualitativen Interviewstudie zeigen, dass Altersarmut eines der Hauptthemen darstellt. Es zeigt sich – obwohl alle bisher Interviewten in der Künstlersozialkasse versichert sind – dass sich keine*r als angemessen für das Alter abgesichert bezeichnet, auch nicht mit privaten Vorsorgeangeboten. Dies ist das unumstößliche Argument dafür, dass eine Umstrukturierung der sozialen Sicherungssysteme an eine Überarbeitung der empfohlenen Honoraruntergrenzen gekoppelt sein muss. Es braucht Honorarempfehlungen, die höher sind als die aktuelle Untergrenze, um adäquate Entlohnung zu erreichen. Der BFDK strebt an, die Honoraruntergrenze im Zusammenschluss mit anderen Verbänden zu überarbeiten und diese als Richtwert zu formulieren. Die Verhältnisse müssen analysiert und transformiert werden, die Akteur*innen brauchen Hilfestellung und Qualifizierung im Umgang mit rechtlichen Fragen rund um die Arbeit in den Darstellenden Künsten. Dabei sollte nicht vorausgesetzt werden, dass sie die Lücken im System ausgleichen, indem sie beispielsweise länger arbeiten, um die Rente aufzustocken. »Mittlerweile bin ich fünfzig geworden und habe ein Zwischenresümee gezogen. [I]ch stelle mir vor, vielleicht nochmal dreißig Jahre zu arbeiten [… – es ist] nicht ohne, wenn ich jetzt auf die [letzten] dreißig Jahre [… und …] die Leistungsfähigkeit meines Körpers [zurückblicke]: Dann merke ich doch, dass es so nicht weitergehen kann und dass die Beschäftigung damit, wie ich im Alter arbeiten [will], wie ich Geld verdienen [kann] und was ich überhaupt [habe], mehr und mehr in den Fokus rückt«24, so Fanni Halmburger. Es ist dringend: Systemcheck jetzt! An die aufgeführten Fragestellungen und Leerstellen knüpft das Forschungsprojekt Systemcheck an und untersucht sie gründlich, bevor 2023 auf Basis der neu erhobenen Daten Handlungsempfehlungen veröffentlicht werden. Systemcheck wird nicht alle Lücken schließen können. Aber das Projekt will einen wichtigen Beitrag leisten, darüber aufzuklären und sie zu minimieren. Dass es den Systemcheck jetzt braucht, bestätigte der Leiter des Referats »Koordinierung, Internationale Angelegenheiten der Sozialversicherung, Künstlersozialversicherung«, Uwe Müllenmeister-Faust, beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales anlässlich der Projekt-Fachkonferenz im Dezember 2021. Es brauche eine verbesserte Daten- und Erkenntnislage, damit die

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Erfahrungen der Erwerbstätigen in den Darstellenden Künsten mit konkreten Zahlen hinterlegt werden, um eine Basis für notwendige Reformen zu schaffen.25 Wird Kunst als gesellschaftlich relevant erachtet, so müssen die sozialen Absicherungssysteme derart gestaltet werden, dass die Erwerbstätigen dieser Branche weder in ihrer aktiven Zeit noch im Rentenalter permanent im Prekariat leben. Dies gilt auch für die ­Phasen, in denen die Akteur*innen keine Förderung erhalten, kein konkretes Projekt umsetzen oder Sorgearbeit leisten. Alternative oder optimierte Systeme sollen dahinführen, den Solo-Selbstständigen und Hybrid-Beschäftigten in den Darstellenden Künsten zu ermöglichen, ihrer Arbeit nachzugehen, ohne dass Auftragslosigkeit, Krankheit oder Familiengründung hierfür unüberwindbare Hindernisse darstellen. Dennis Rohde, der als Mitglied des Deutschen Bundestages für die SPD die Finanzierung dieses bisher einmaligen Forschungsprojektes maßgeblich unterstützt hat, bekräftigte ebenfalls: »Die Pandemie hat uns im Bundestag gezeigt, dass Kulturschaffende nicht nur oft prekär, sondern auch in höchst unterschiedlichen Beschäftigungsverhältnissen arbeiten. Uns ist klar geworden: Wir können nicht die eine Lösung zur sozialen Absicherung bieten, wir müssen diese Unterschiedlichkeit berücksichtigen. Systemcheck trägt in der Zusammenarbeit mit Betroffenen dazu bei, das zu erarbeiten, was wir als Politik als soziale Sicherung auf den Weg bringen müssen.«26 Und noch einmal Fanni Halmburger: »Ich glaube, letztlich bedarf es für die Altersabsicherung und alle sozialen Sicherungen von Künstler*innen einer gesamtgesellschaftlichen Lösung. […W]ir können als Beispiel [für andere Branchen, Anm. der Autorin] fungieren. Ich finde, dass wir stolz sagen können, dass die Umsätze, die wir produzieren, [einen] wesentlichen Teil [der volkswirtschaftlichen Gesamtleistung ausmachen27, Anm. der Autorin] und dass der gesellschaftliche Wert der kreativen künstlerischen Tätigkeit anerkannt werden muss und nicht in Altersarmut enden [darf]. Wichtig ist, dass wir hierbei alle Kulturschaffenden berücksichtigen […].«28 Ein Leben für Kunstschaffende mit sozialer Absicherung und ohne vorprogrammierte Altersarmut? Wenn Kultur- und Sozialpolitik mit den betroffenen Erwerbstätigen und ihren Interessenvertretungen an einem Strang ziehen und offen sind für neue Wege und alternative Systeme, können diese Brüche im System behoben werden.

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1 Halmburger, Fanni: Impulsvortrag im Workshop »Sozial abgesichert!? Solo-Selbstständige in den freien darstellenden Künsten«, am 24. November 2021, zuletzt abgerufen am 4. April 2022 unter: https://www.youtube.com/ watch?v=f0_IScUe4dw&list=PLQN2xzm__mhrGahCjfcaM9ouZvWonzx-f&index=3. 2 Vgl. Künstlersozialkasse: Leistungen. Vorgezogenes Krankengeld, zuletzt abgerufen am 6. April 2022 unter: https://www.kuenstlersozialkasse.de/kuenstler-und-publizisten/leistungen.html. 3 Halmburger, Fanni: Impulsvortrag im Workshop »Sozial abgesichert!? Solo-Selbstständige in den freien darstellenden Künsten«. 4 Vgl. Bundesverband Freie Darstellende Künste e. V.: Über uns, zuletzt abgerufen am 5. April 2022 unter: https://darstellende-kuenste.de/de/verband/ueber-uns. html. 5 Vgl. Klug, Thomas: Probleme mit Corona-Hilfen. Kunst ohne Brot, Deutschlandfunk Kultur, 24. November 2020, zuletzt abgerufen am 4. April 2022, unter: https://www. deutschlandfunkkultur.de/probleme-mit-corona-hilfen-kunst-ohne-brot-100. html. 6 Vgl. Bundesregierung: Koalitionsvertrag 2021. Soziale Lage in Kunst und Kultur, S. 12, zuletzt abgerufen am 5. April 2022 unter: https://www.bundesregierung.de/ resource/blob/974430/1990812/04221173eef9a6720059cc353d759a2b/2021-1210-koav2021-data.pdf?download=1. 7 Vgl. Kislinger, Friedericke; Schieck, Isabel: Die große Freiheit? Solo-Selbstständige in den darstellenden Künsten und ein Check ihrer sozialen Absicherungssysteme,

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4. Februar 2022, S. 20, zuletzt abgerufen am 6. April 2022 unter: https://darstellende-kuenste.de/images/220204_TD1_Die_grosse_Freiheit_Systemcheck.pdf. 8 Vgl. Auerbach, Nora; Fenner, Sören; Happich, Anica; Kiehne, Laura; Laaser, Sonja; Manske, Alexandra; Pohl, Friedrich: Das Schlechteste aus zwei Welten? Hybrid-­ Erwerbstätige in den darstellenden Künsten, 4. Februar 2022, S. 47, zuletzt abgerufen am 6. April 2022 unter: https://darstellende-kuenste.de/images/220204_TD2_ Das_Schlechteste_aus_zwei_Welten_Systemcheck.pdf. 9 Vgl. Auerbach, Fenner, Happich, Kiehne, Laaser, Manske, Pohl: Das Schlechteste aus zwei Welten? S. 44. 10 Vgl. Bundesverband Freie Darstellende Künste e.V.: Darstellung in Zahlen. Statistische Standortbestimmung der freien darstellenden Künste in Deutschland. Erhebungen in den Bundesländern in den Jahren 2019 und 2020, Dezember 2021, S. 22f. und S. 26, zuletzt abgerufen am 6. April 2022 unter: https://darstellende-kuenste.de/ images/BFDK_Darstellung_in_Zahlen.pdf. 11 Vgl. Bundesamt für Soziale Sicherung: Mutterschaftsgeld. Häufige Fragen. Zuletzt abgerufen am 17. März 2022 unter: https://www.bundesamtsozialesicherung.de/ de/mutterschaftsgeld/haeufige-fragen/ 12 Vgl. Familienportal, herausgegeben vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Welche Leistungen kann ich bekommen, wenn ich selbstständig bin? Zuletzt abgerufen am 4. April 2022 unter: https://familienportal.de/ familienportal/familienleistungen/mutterschaftsleistungen. 13 Vgl. ebd.: Welches Einkommen wird für mein Elterngeld berücksichtigt, wenn ich vor der Geburt meines Kindes selbständig war? Zuletzt abgerufen am 17. März 2022 unter https://familienportal.de/familienportal/familienleistungen/elterngeld/ arbeitssituation/welches-einkommen-wird-fuer-mein-elterngeld-beruecksichtigt-wenn-ich-vor-der-geburt-meines-kindes-selbstaendig-war--124602. 14 Vgl. Kislinger, Schieck: Die große Freiheit? S. 29. 15 Halmburger: Impulsvortrag im Workshop »Sozial abgesichert!? Solo-Selbstständige in den freien darstellenden Künsten«. 16 Ebd. 17 Pressestelle der Kultusministerkonferenz: Kulturministerkonferenz stößt konkrete Vorhaben zur Verbesserung der sozialen Lage von Künstlerinnen und Künstlern an, 9. März 2022, zuletzt abgerufen am 16. März 2022 unter: https://www.kmk.org/ presse/pressearchiv/mitteilung/kulturministerkonferenz-stoesst-konkrete-vorhaben-zur-verbesserung-der-sozialen-lage-von-kuenstlerinnen.html. 18 Bei den hier angegebenen Beträgen ist immer von Brutto-Beträgen die Rede. 19 Vgl. Deutsche Rentenversicherung Bund: Fragen und Antworten zum Grundrentenzuschlag. Zuletzt abgerufen am 16. März 2022 unter: https://www.deutsche-rentenversicherung.de/SharedDocs/FAQ/grundrente/grundrente_faq_liste. html#b25faa94-63b6-4eff-9ee8-76030ef431f8. 20 Vgl. Künstlersozialkasse: Versicherte je Tätigkeitsbereich mit Schätzeinkommen (­Jahresarbeitseinkommen – JAE) für KJ 2021, Stand 13. März 2021. 21 Frauen, Lesben, intersexuellen, nicht-binären, trans und agender Personen. 22 Vgl. Künstlersozialkasse: Meldungen. Informationen über die aktuellen gesetzlichen Anpassungen im KSVG für 2022. Zuletzt abgerufen am 5. April 2022 unter: https:// www.kuenstlersozialkasse.de/die-ksk/meldungen.html. Halmburger: Impulsvortrag im Workshop »Sozial abgesichert!? Solo-Selbstständige in 23 den freien darstellenden Künsten«. 24 Ebd. 25 Vgl. Bundesverband Freie Darstellende Künste e.V.: »Systemcheck« für die darstellenden Künste. Soloselbstständige und Hybrid-Beschäftigte im Fokus der Wissenschaft (Pressemitteilung), 9. Dezember 2021, zuletzt abgerufen am 6. April 2022 unter: https://darstellende-kuenste.de/de/service/publikationen/presse/3856-systemcheck-fuer-die-darstellenden-kuenste.html. 26 Ebd. »Systemcheck« für die darstellenden Künste. 27 Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz: Kultur- und Kreativwirtschaft, zuletzt abgerufen am 6. April 2022 unter: https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Artikel/Branchenfokus/Wirtschaft/branchenfokus-kultur-und-kreativ­ wirtschaft.html. 28 Halmburger: Impulsvortrag im Workshop »Sozial abgesichert!? Solo-Selbstständige in den freien darstellenden Künsten«.

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Wer hätte vor dreißig Jahren gedacht, dass Altwerden im Cilgia Gadola

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Freien Theater überhaupt eine Option sein würde Systemcheck

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Haltung, Erfahrung, Persönlichkeit Alter(n) und zeitgemäße Förderstrukturen in den Darstellenden Künsten Mindestens hinsichtlich der Problematik der Transition – als beruflicher Neuorientierung nach dem frühen Karriereende – ist das Thema Kunst und Alter(n) im Tanz sehr deutlich und schon länger präsent. Tänzer*innen, insbesondere im klassischen Tanz, rufen in ihrem Beruf permanent hohe körperliche Leistungen ab, vergleichbar dem Hochleistungssport. Wenn in anderen Berufen gerade durchgestartet wird, muss ihre Karriere oft mit 35 oder vierzig Jahren enden. Mit der Stiftung TANZ – Transition Zentrum Deutschland besteht für die Begleitung von Künstler*innen eine beratende Institution mit hoher Expertise und großem Engagement. Gegründet 2010 mit privaten Mitteln, wird sie unterstützt von Bund und Ländern. Der Dachverband Tanz Deutschland (DTD), seit 2012 gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM), bringt seit 2013 das Zusammenwirken der Förderinstitutionen für Tanz, Performance und Theater auf kommunaler, Länder- und Bundesebene voran. Zu Beginn der Coronapandemie hat der DTD – gemeinsam mit den bundesweiten Förderinstitutionen im Tanzbereich Diehl+Ritter und JointAdventures – das Hilfsprogramm Tanz, Teil von Neustart Kultur der BKM, entwickelt und setzt derzeit die Programme Dis-Tanzen, Dis-Tanz-Start und tanz:digital um. Damit verbunden ist die grundsätzliche Betrachtung von Förderstrukturen. Erfahrung als Korrektiv im atemlosen Kunstbetrieb Ich kenne keine Statistiken, wie viele Künstler*innen in welchen Altersgruppen im Tanzbereich arbeiten. Anhaltspunkte mag jedoch eine Befragung geben, welche der DTD im Jahr 2021 online startete. Von den Tanzschaffenden, die teilnahmen, waren rund sechzig Prozent über vierzig Jahre, davon dreißig Prozent über fünfzig Jahre, von ihnen sogar sechs Prozent über sechzig Jahre alt. In der vierten Antragsrunde zum Hilfsprogramms Dis-Tanzen hat der DTD das Alter der Antragsteller*innen erhoben. Von ihnen waren alle über zwanzig Jahre alt, 26 Prozent bis dreißig Jahre alt, 47 Prozent zwischen 31 und vierzig, 15 Prozent zwischen 41 und fünfzig, zehn Prozent zwischen 51 und sechzig, zwei Prozent zwischen 61 und siebzig, schließlich ein Prozent

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zwischen 71 und achtzig Jahre alt. Beide Erhebungen vermitteln einen Eindruck davon, dass Tanzschaffende auch über fünfzig Jahre und bis in hohe Alter noch aktiv sind. Warum erscheint mir diese Gruppe von Künstler*innen so besonders wertvoll? Weil mit ihnen, mit ihren individuellen Erfahrungen, künstlerischen Werdegängen über Jahrzehnte hinweg und ihren künstlerischen Projekten ein Widerpart zur aktuellen, atemlosen Kunstproduktion entstehen kann. Gegenwärtige Kunstdiskurse – so mein Eindruck – überbieten sich in immer neuem Reflektieren der Gegenwart, greifen utopisch oder dystopisch voraus. Künstlerisches, kreatives Arbeiten wird als Modell für eine zukünftige Gesellschaft gesehen. Es ist ein überaus produktiver, stimulierender Prozess, der die Bereiche Performance, Tanz und Theater und deren Selbstwahrnehmung beflügelt. Blickt man allerdings zurück auf die Jahre zwischen 2000 und 2010, dann gab es damals eine vergleichbare Euphorie, die das freie künstlerische Arbeiten als Modell für das Arbeiten der Zukunft sah. Später wurde jedoch erkennbar, dass die Akteur*innen der Freien Szene ähnlich argumentierten wie die neo-liberalen ­Verfechter*innen der freien Marktwirtschaft. Wir brauchen Künstler*innen, die Erfahrungen aus Jahrzehnten künstlerischen Arbeitens einbringen. Ihre Perspektiven können Korrektive sein für das, was wir gegenwärtig für die Perspektiven der Gesellschaft halten. Ihre aktuellen künstlerischen Arbeiten sowie der Transfer ihrer Erfahrungen sind bereichernder Teil einer lebendigen, reflektierten Kunstszene. Sie sind ein gesellschaftlicher Gewinn. Wie also können wir diesen Erfahrungsschatz heben? Wettbewerb um Förderung Die Förderung von Projekten ist Kern der Förderstrukturen von Städten, Ländern und dem Bund. Es ist ein ständiger Wettbewerb um die besten Ideen. Anträge zielen auf Produktionen als sichtbare künstlerische Wortmeldungen in aktuellen gesellschaftlichen Diskursen. ­Juryentscheidungen orientieren sich an Stichworten wie Innovation, Relevanz, Aktualität. Es ist ein Wettbewerb, in den sich alle begeben (müssen), gleich wie lange sie schon künstlerisch produzieren. Ergänzend zur Projektförderung ermöglichen mehrjährige Förderungen für erfolgreiche Künstler*innen Kontinuität, die Stabilität von Kooperationsbeziehungen und den Aufbau eigener Produktions- und Managementstrukturen. Sie geben eine stärkere Basis, um Performances, ­Choreografien, Stücke zu präsentieren und damit in den gesellschaftlichen Dialog zu gehen. Solch ein System ermöglicht den Aufbau von

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Strukturen und die Karriere-Entwicklung von Künstler*innen in einem aufsteigenden Bogen. Was aber geschieht, wenn die Relevanz künstlerischer Positionen bei Jurys und Förderinstitutionen nicht mehr gesehen wird? Dann greift meist nur der Wettbewerb, in dem die relevanteren, dringlicheren Ideen den Vorzug erhalten. Förderungen werden reduziert, ausgesetzt oder einfach beendet. Dies betrifft eben auch künstlerische ­Karrieren im Alter. Findet hier ein Dialog mit den Künstler*innen statt? Wird dieser Prozess gemeinsam gestaltet? Nur selten. Die Kunststiftung NRW hat den Dialog mit Künstler*innen zu ihrem Markenzeichen gemacht und die Entwicklung künstlerischer Karrieren (wie z. B. die Arbeit von Raimund Hoghe) über Jahrzehnte begleitet. Diese D ­ ialoge werden dringend gebraucht – in vielfältiger Weise, im gesamten Fördersystem. Grundlage sind Transparenz, Wertschätzung und konzeptionelle Grundlagen, aber auch Erfahrung und Haltung auf beiden Seiten. Im Dialog mit den Künstler*innen Wie kann Förderung im Alter aussehen? Haben wir es – als Gegenstück zum aufsteigenden Bogen der Karriere – mit einem abklingenden oder auslaufenden Bogen zu tun? Ich möchte eher von einer Phase des Übergangs, der Transition sprechen. Einerseits, um auf Erfahrungen aus der Transition von Tänzer*innen Bezug nehmen zu können. Andererseits in dem Wissen, dass die Transition in eine andere Karriere, ein anderes Berufsfeld nur eine Variante dieses Übergangs ist. Das Weiterwirken in Performance, Tanz und Theater bleibt ein Kernanliegen vieler Künstler*innen. Und Transition meint auch den Transfer von Wissen und Erfahrungen. Wie kann der Erfahrungsschatz älterer Künstler*innen in die aktuelle Kunstproduktion einfließen? Sicherlich durch die fortdauernde Projektarbeit. Aber wollen sich Künstler*innen im Alter noch dem aufreibenden Wettbewerb um Projektförderung stellen? Und wenn ja, sollten dann Jurys bei Produktionen älterer Künstler*innen eine andere Perspektive einnehmen und den gesellschaftlichen Erfahrungsgewinn besonders bewerten? Oder sollte es im Alter eher um Reflexion und Wissens-Transfer gehen? Vielleicht treten an die Stelle von künstlerischen Projekten der Austausch, die künstlerische Zusammenarbeit mit jungen Künstler*­ innen und die Weitergabe des künstlerischen und politischen Wissens. Oder es stellt sich die Aufgabe der Transformation und Übergabe von Produktionsstrukturen. Oder man widmet sich der Neubetrachtung der eigenen künstlerischen Positionen. Ein Antragsteller im

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­ rogramm Dis-Tanzen schrieb: »Ich bin nun mit 73 Jahren in dem P Alter, in dem man sich auf das bisherige Leben rückbesinnt, um vielleicht einen neuen Anfang zu finden.« Diese anderen Wege künstlerischer Arbeit sollten Förderinstitutionen gleichermaßen wertschätzen und nach Wegen der Förderung suchen. Was hindert uns daran, auch diese Vorhaben als förderwürdig, als Projekte im weiteren Sinne zu begreifen? Obwohl hier kein Projektergebnis in dem Sinne vorliegt, dass Steuerzahler*innen ein Bühnenerlebnis erhalten, führen diese Projekte doch zu verschiedensten Formen, in denen künstlerische Arbeit sichtbar wird. Die Perspektive auf die Arbeit älterer Künstler*innen ist nur in einem breit angelegten Dialog der Künstler*innen mit den Förderinstitutionen und der Politik zu entwickeln. In diesem Dialog sollten die Argumente des gesellschaftlichen Erfahrungsgewinns durchaus ins Gewicht fallen. Die demografische Entwicklung haben Kunst und Politik schon mal auf ihrer Seite. Förderung künstlerischer Prozesse Die zahlreichen Hilfsprogramme in der Coronapandemie haben eine starke Wertschätzung künstlerischer Prozesse deutlich gemacht. Die Kulturstiftung des Bundes und der Fonds Darstellende Künste haben ein breit gefächertes Programm stipendienartiger Förderungen aufgelegt. Mit dem Hilfsprogramm Dis-Tanzen hat der DTD Prozesse von Recherche, Reflexion und Archivierung gefördert – die ›unsichtbare Arbeit‹ von Künstler*innen. Das Bundesforum 2021, initiiert vom Fonds Darstellende Künste und dem Bundesverband Freie Darstellende Künste (14. bis 16. September 2021 in Berlin), hat diesen Perspektivwechsel in vielen Statements aus Kunst, Verwaltung und Politik deutlich gemacht. Die stipendienartige Förderung im Programm Dis-Tanz-Solo ermöglicht Tanzschaffenden, über mehrere Monate hinweg ein eigenes Vorhaben zu realisieren, entweder ergebnisorientiert mit dem Ziel eines sichtbaren künstlerischen Projekts oder ergebnisoffen und prozessorientiert, z. B. als Recherche-, Trainings-, Qualifizierungs- oder Archivierungsvorhaben. Diese stipendienartigen Förderungen begleiten andere Projektvorhaben der Künstler*innen. Sie können (in bestimmten Grenzen) flexibel umgesetzt werden. Die Künstler*innen können pausieren, wenn andere Projekte Priorität haben und zeitlich versetzt an ihren Vorhaben weiterarbeiten. Längerfristige stipendienartige Förderungen für Arbeitsprozesse sollten auch in Zukunft Teil der Künstler*innen-Förderung sein.

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Gemeinsam mit Partner*innen im kulturpolitischen Dialog will der DTD diese Förderform auch als Teil der Tanzförderung des Bundes umsetzen. Ein- und mehrjährige Stipendien-Förderungen versetzen Tanzschaffende in die Lage, Phasen ihrer Karriere selbstbestimmt zu managen – so der Einstieg in die selbstständige Arbeit, die Weiterentwicklung im internationalen Kontext, die Umbrüche in den mid-­careerPhasen und die Transformation künstlerischer Strukturen im Alter. Im Berlin wird derzeit das Tanzpraxis-Stipendium erprobt, inspiriert von der Künstler*innen-Förderung in Norwegen. In Berlin »… handelt es sich weder um eine pandemiebedingte Förderung noch um ein bedingungsloses Grundeinkommen. Es geht ganz grundsätzlich darum, körper-basierte künstlerische Arbeitspraxis als tägliche Berufsausübung anzuerkennen und zu honorieren.«1 Drei Phasen werden betrachtet: a) Emerging Artists, b) Mid-Career, c) Senior Artists. In der Pilotphase wurden für die Jahre 2020 und 2021 insgesamt 41 Stipendien vergeben, darunter an fünf Senior Artists, die ein monatliches Stipendium in Höhe von 1.500 Euro über anderthalb Jahre hinweg erhalten. Dies ist ein erster Ansatz, den es jetzt weiterzudenken gilt – mit Blick auf die Förderdauer, die Höhe und die Zahl von Förderungen. Neue Allianzen bilden Die Coronapandemie hat uns die Möglichkeit gegeben, über zeitgemäße, nachhaltige Künstler*innen-Förderung nachzudenken. Das Thema von Kunst und Alter(n) steht dabei im Kontext vieler anderer Themen, wie Kunst und Elternschaft, Künstler*innen mit Behinderung, Durchlässigkeit der Fördersysteme und Leitungsstrukturen und die nachhaltige Sichtbarkeit geförderter Projekte. Es braucht den Mut, die bestehenden Förderstrukturen zu reformieren. Das betrifft keinesfalls allein den Tanz, sondern ist ein Thema der Freien Künste generell und kann sicherlich nur in Allianzen umgesetzt werden. Vom Tanz gehen schon jetzt Impulse aus. Doch es geht nicht nur um Förderungen. Künstlerische Arbeit wird stärker, wenn Künstler*innen in Netzwerken und Kooperationen zusammenkommen. Koproduktionen, lokale Netzwerke, Landesverbände – in den letzten Jahren hat sich immer lebendiger gezeigt, was Austausch, Zusammenwirken und solidarische Stärkung bewirken können. Wir sollten diese Erfahrungen für das Thema Altersdiversität nutzen und die große Expertise im Bereich der Diversitätsentwicklung auch in diesen Bereich einbringen. Lasst uns die Kunstlandschaft als Mehrgenerationenhaus begreifen! Stiften wir Partnerschaften zwischen älteren und jüngeren

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­ ünstler*innen und fördern altersdiverse Kooperationen und KoproK duktionen! Tanz und Ballett waren nie nur jung-dynamisch – gefragt sind Haltung, Erfahrung, Persönlichkeit. Bringen wir ein zeitgemäßes Bild unserer Gesellschaft auf die Bühne. Von Pina Bausch über das Nederlands Dans Theater III bis zum Dance On Ensemble – auch im Tanz gibt es hierfür gute Beispiele. Um aus dem gesellschaftlichen Erfahrungsgewinn zu schöpfen und um Wissen in die Netzwerke junger Künstler*innen einzuspeisen, könnten Residenzen für Senior Artists an Produktionshäusern und an Stadt- und Staatstheatern ein spannender Weg sein. Fördern wir die Partnerschaften von Kulturproduzent*innen und Manager*innen mit älteren Künstler*innen! Grundsätzlich denken Alter(n) ist ein zentrales Thema unserer Gesellschaft. Wie können soziale Sicherheit und Teilhabe im Alter gewahrt werden? Werden für solo-selbstständige Künstler*innen die Beiträge zur Künstlersozial­ versicherung für eine gute Absicherung im Alter reichen oder stehen Künstler*innen in sozialversicherungspflichtiger Anstellung besser da? Dringend zu empfehlen ist der Blick auf Stipendienmodelle, die langfristig die professionelle künstlerische Arbeit begleiten können. In Norwegen sind Stipendien ein wesentliches Instrument der Künstler*­innen-Förderung. Sechs verschiedene Formate unterstützen künstlerische Arbeits- und Entwicklungsprozesse. Arbeitsstipendien über die Dauer von ein bis fünf Jahren geben Künstler*innen die Möglichkeit, sich künstlerisch weiterzuentwickeln und die künstlerische Tätigkeit als Hauptberuf auszuüben. Arbeitsstipendien für jüngere Künstler*innen ermöglichen ihnen über einen Zeitraum von bis zu drei J­ahren, in der Kunstlandschaft Fuß zu fassen und sich künstlerisch weiterzuentwickeln. Stipendien für etablierte Künstler*innen haben das Ziel, künstlerische Arbeiten über einen längeren Zeitraum – für zehn Jahre und mehr – zu entwickeln und der künstlerischen Tätigkeit hauptberuflich nachgehen zu können. Erfahrene Künstler*innen, die im Antragsjahr 56 Jahre oder älter sind und durch ihre langjährige Tätigkeit qualitativ einen wertvollen Beitrag geleistet haben, können gleichfalls zehnjährige Stipendien beantragen, die als wesentliche finanzielle Absicherung ihrer künstlerischen Tätigkeit gedacht sind. Ergänzend besteht eine Vielfalt an kurzfristiger wirkenden Stipendien oder pauschalen Förderungen u. a. bei Gründung der eigenen Struktur für Kurse, Reisen, Spezialisierung, Materialien, Aus­ stattung, ­Marketing. 116


Haltung, Erfahrung, Persönlichkeit

Eine grundsätzliche Systemänderung würde das französische System der intermittents du spectacle bedeuten. Es geht von einer zeitweisen Anstellung der Künstler*innen und Techniker*innen aus, die an Produktionen von Tanz, Theater, Musik und Film beteiligt sind. Sie sammeln mit ihren Honoraren und Beiträgen der Unternehmen einen Anspruch auf staatliche Ersatzleistungen in den Zeiten ohne Engagements. Mit der neuen Bundesregierung soll der Zugang zu einer ­Versicherung für auftragsfreie Zeiten so gestaltet werden, dass diese auch für Künstler*innen wirksam werden könnte. Oder wäre das bedingungslose Grundeinkommen die grundsätzliche Lösung, die nicht nur Künstler*innen betrifft? Eine Lösung, die für alle Bürger*innen greift, würde es natürlich mehr Künstler*innen ermöglichen, auch im Alter weiter künstlerisch tätig zu sein, sich in die Gesellschaft einzubringen und die Wege hierzu selbst zu gestalten. Aus den ersten Diskussionen sind inzwischen europaweit Pilotprojekte geworden, aber wann das bedingungslose Grundeinkommen Realität wird, ist wohl kaum abzuschätzen. Hier gilt es weiter zu diskutieren. Mehr Engagement für gerechte Sozialsysteme ist dringend notwendig, denn nur so kann letztlich die soziale Absicherung von Künstler*innen im Alter gelingen. Und zugleich müssen wir kreativ werden, mit Fördermodellen Impulse setzen und mit Arbeiten und Ideen älterer Künstler*innen Signale an unsere Gesellschaft senden. Dies ist ein Thema für Kulturämter, Länderministerien und den Bund. Der Fonds Darstellende Künste und die Kulturstiftung des Bundes könnten mit ihren Förderprogrammen dabei Partner sein; auch ein Pilotprojekt mit dem Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend wäre denkbar.

Dieser Text ist entstanden aus einem Impulsbeitrag für das Symposium WAR SCHÖN. KANN WEG … am 25. Februar 2021. 1 https://www.tanzraumberlin.de/artikel/tanzpraxis-einblick, 15. Februar 2022.

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Heute erfinde

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ich mich neu

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Solange es geht, will ich arbeiten

»Solange es geht, will ich arbeiten« Ein Interview mit Katharine Sehnert

Ich heiße Katharine Sehnert, bin 1937 geboren und bin Tänzerin, Performerin und Tanzpädagogin, Choreografin und auch Kinetografin. Was bedeutet das Thema Alter im Augenblick für dich persönlich? Also, ich tue mich etwas schwer mit dem Begriff Alter. Weil er für mich eigentlich ein Oberbegriff ist, wie das Leben, denn das Alter beginnt mit meiner Geburt. Das Alter ist für mich erst einmal nur eine Zeitangabe und sagt überhaupt nichts über die Befindlichkeit in dieser Spanne aus. Allerdings habe ich das Gefühl, dass in unserer Kultur der Begriff Alter heute negativ besetzt ist. Plötzlich wird Alter immer mit Gebrechlichkeit und Siechtum in Verbindung gebracht, mit Verfall. In anderen Kulturen ist es anders, da wird es mit Weisheit und Gelassenheit verbunden. Wenn ich heute mit 85 Jahren als hochbetagt angesprochen werde, denke ich: Ja und? (lacht) Das ist eine Zahl. Oft werde ich von Frauen Ende fünfzig oder von über Sechzigjährigen darauf angesprochen, wie ich mit meinem Alter umgehe und warum ich noch arbeite. Im Alter habe man nun mal seine Zipperlein. Ich habe keine Zipperlein! Das ist so eine Egalisierung für eine Menge von Menschen, die alle scheinbar plötzlich alle Gebrechen haben. Natürlich kann das passieren, aber es ist doch nicht das Kriterium von Alter. Ich habe kein Problem damit. Bei jedem Menschen macht sich das Alter anders bemerkbar: Als Tänzer*innen sind wir gewohnt, auf uns zu hören, auf unseren Kopf und unseren Körper, weil wir damit arbeiten. Alter wird nicht nur individuell immer anders empfunden. Ich finde, dass unsere Gesellschaft durchaus mutiger sein und älteren Menschen noch mehr zutrauen könnte. Ich fühle mich zum Glück nicht so alt, dass ich Hilfe in Anspruch nehmen muss. Ich renne noch genauso durch die Straßen, wie ich das vor zwanzig Jahren getan habe. Ich sehe aber auch, dass viele, die eigentlich noch aktiv sein möchten, dies aufgrund von Verrentung nicht mehr können und in einem bestimmten Alter aufhören müssen. Als Künstler*in muss man das nicht und könnte es auch gar nicht, weil wir in der Regel keine Rentenempfänger*innen sind. Denn wir konnten nie durchgehend in die Rentenkasse einzahlen. Daher sind wir auch gezwungen, noch für den Lebensunterhalt zu arbeiten. Auf der anderen Seite möchte ich auch immer noch meine Erfahrungen weitergeben. Solange es geht, will ich arbeiten.

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Ein Interview mit Katharine Sehnert

Wie waren früher deine Wünsche und Hoffnungen in Bezug auf das Altwerden und wie haben sich diese Vorstellungen eingelöst? Die Altersgrenzen haben sich verschoben. In meiner Jugendzeit war ein 14-Jähriger wirklich noch sehr kindlich. Ich habe erst im Alter von 18 Jahren nach der Schule angefangen, Tanz zu studieren. Bis dreißig muss ich berühmt sein, war damals mein Ziel. Als sich dann die­ Dreißig näherte, hatte ich den größten Zusammenbruch meines Lebens. Ich hatte einen schweren Unfall, und es hieß, ich könne nie wieder tanzen und müsse mir überlegen, was ich jetzt mache. Dann unterrichte ich eben, habe ich gesagt, weil ich das von den klassischen alten Primadonnen mit ihren Taktstöckchen in Paris so kannte. Wenn ich nicht laufen kann – meine rechte Seite war gelähmt – dann sitze ich eben wie diese uralten Primaballerinen auf einem Stuhl. Ein Jahr lang habe ich es gemacht, und es war eine wunderbare Schulung. Weil ich nichts vormachen konnte, musste ich lernen, mich verbal ganz klar auszudrücken. Nach zehn Jahren Therapie konnte ich mich wieder ganz normal bewegen und auch wieder tanzen. Bis dahin habe ich aber immer für eine Gruppe choreografiert. Dann aber entschloss ich mich, nur noch solo zu arbeiten. Sollte sich in Bezug auf die ältere Generation gesellschaftspolitisch etwas ändern? Tja, das ist politisch. (lacht) Ja, es braucht mehr Akzeptanz. Nicht ›das war’s‹ und die Älteren beiseitestellen, sondern sie mehr integrieren in das Alltagsleben. Und ihnen Achtung entgegenbringen, für das, was sie in ihren vielen Lebensjahren geleistet haben. Viele haben noch den Krieg erlebt, die Nachkriegszeit, ein Leben ohne Sicherheit und sicheres Auskommen. Wie hat die durch den Alterungsprozess veränderte Körperlichkeit dein künstlerisches Schaffen beeinflusst? Und hat es auch dein Privatleben beeinflusst, sofern du darüber sprechen möchtest? Mein Älterwerden verfolge ich eigentlich gar nicht so. Solange ich mich noch so bewegen kann wie bisher. Im Jahr 2003 habe ich das Studio aufgegeben/aufgeben müssen und war damit meiner Existenzgrundlage erst einmal beraubt. Mit Mitte sechzig musste ich neu schauen, wo wohne ich und wovon lebe ich eigentlich. Das hat mich noch mal total vom Stuhl gehauen. Andererseits war das Studio eine Verpflichtung. Ich habe nicht mehr das Gefühl, dass ich mich in irgendeiner Weise noch beweisen muss. Diese Fixierung, auch darauf, was andere von mir denken, interessiert mich überhaupt nicht mehr. Ich kann

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mich auch einfach nur hinstellen, und trotzdem sagt mein Körper etwas aus. Er hat so viel gespeichert in diesen sechzig Jahren auf der Bühne. Welche Rolle spielte beim Thema Altwerden dein soziales Umfeld? Mein soziales Umfeld war immer eng verbunden mit dem Tanz. Daher wurden meine Schüler*innen zu meiner Ersatzfamilie. Und auch die weitere Verwandtschaft lichtet sich langsam. Ich vermisse nichts bzw. habe keine Defizite. Die sozialen Kontakte haben sich ziemlich reduziert, aber es reicht mir noch. Der Bäcker kennt mich, der Apotheker kennt mich, alle grüßen mich. (lacht) Siehst du in der Kunst einen zunehmenden Generationenkonflikt? Ja, ich glaube schon. Ich weiß nicht, ob es unbedingt ein Konflikt ist, aber er hat sich ein bisschen zugespitzt in den letzten Jahren. Der Konflikt besteht für mich darin, dass die Jungen oft meinen, dass sie alles im Moment neu erfinden, was vorher noch nie da war. Sie anerkennen nicht so sehr, dass auch das, was heute neu passiert, auf einer Basis aufbaut und nicht vom Himmel gefallen ist. Ich habe an verschiedenen Hochschulen unterrichtet, besonders zur Bewegungssprache von Mary Wigman. Wenn die Studierenden den Namen Wigman hören, sofern sie ihn überhaupt kennen, dann ist es für sie etwas aus dem vorigen Jahrhundert, eine historische Bewegungssprache – warum soll man die lernen? Natürlich bildet jede Zeit ihre eigenen Bilder und Ansätze von Bewegung. Aber Wigman hat so sehr auf der organischen Bewegungskörpersprache aufgebaut, dass es auch heute durchaus noch relevant ist. Der Körper ist doch immer noch derselbe. Natürlich haben sich andere Trainingsformen gebildet. Aber die Feinheiten oder Differenzierungen in der Bewegungssprache lernen sie heute nicht mehr so sehr. Sollten Künstler*innen irgendwann von sich aus zurücktreten, um Jüngeren Platz zu machen? Platz machen würde ich nicht sagen, weil es ja keine Hierarchie, kein festes Gefüge ist, in dem einer nicht weiterkann, weil ein anderer dort noch steht. In der Freien Szene sowieso nicht. Ich finde, jede/r Künstler*­­in hat eine Verantwortung sich selbst gegenüber und muss selbst zu dem Punkt kommen, jetzt reicht es. Ich habe allerdings auch schon erlebt, dass ältere Künstler*innen immer weiter versucht haben, das zu machen, was sie schon in ihrem Programm vor zwanzig Jahren gemacht haben, und das war einfach nur peinlich. Wenn man nicht

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mehr zu hundert Prozent hinter dem steht, was man tut, wenn man es nur macht, weil man mal berühmt war und das den anderen zeigen will, dann ist es eigentlich vorbei. Siehst du in der Förderstruktur einen Bedarf speziell für ältere Künstler*­innen? Für mich geht es darum, was man macht – egal ob jung oder alt. Deine Kariere erstreckt sich von der Nachkriegszeit bis heute. Wie war der Umgang der Generationen innerhalb der Künstler*innenschaft untereinander damals und heute? In den fünfziger und sechziger Jahren gab es zwei tänzerische Lager, nämlich das klassische und das moderne. Die waren sich spinnefeind, (lacht) weil jeder von dem anderen sagte, dass er eigentlich keinen Tanz macht. Da gab es keine Berührungspunkte unter den Tänzer*innen, aber es schweißte uns im Modernen Tanz natürlich sehr zusammen. Die siebziger Jahre waren für mich geprägt durch meine Tätigkeit an der Folkwang-Schule. An der Hochschule gab es viele Berührungspunkte zu den anderen Abteilungen und man hatte auch mit den anderen Sparten zu tun. In Frankfurt in den achtziger Jahren gab es eine große Tanzgemeinschaft. Wir gingen immer zu den Aufführungen der anderen, sprachen darüber und wussten Bescheid über alles, was so abging. Es hat sich erst danach auseinanderentwickelt. Das hatte vielleicht damit zu tun, dass damals ein Konkurrenzkampf um Fördermittel entstand. Der eine wurde gefördert, die andere nicht. Irgendwann hat man nicht mehr miteinander geredet, weil man nicht verraten wollte, wie man es hinbekommen hat, an Mittel zu kommen, und von wem das Geld kam. Du bist sehr gefragt bezüglich der Arbeit von Mary Wigman, da sie auch deine Lehrerin war. Als was siehst du dich in diesem Kontext? Vertrittst du zum Teil ihr Erbe? Ja, ich will ihr Erbe lebendig halten. Meine eigene Arbeit war davon getrennt, denn ich habe ja nicht wie Wigman getanzt, sondern ihr Gedankengut oder ihren Ansatz, wie man an Bewegung herangehen kann, vermittelt. Sie hat ja nicht die Bewegung als solche vermittelt, das musste man selbst erarbeiten. Bei Wigman ist man rausgegangen und hatte erst einmal das Gefühl, man hat gar nichts gelernt. Man hatte kein Material in der Hand wie bei Martha Graham. Bei ihr hat man sein Exercise gelernt, und man konnte in einen anderen Raum gehen und dieses Exercise ging mit einem mit: Man konnte es unter-

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richten. Wir haben es Wigman auch zum Vorwurf gemacht, dass sie uns nichts an die Hand gibt, mit dem wir in die Welt gehen können, um ihren Ansatz zu verbreiten. (lacht) Daher rührt ein wenig ihre Unbekanntheit. Bei mir hat es genau dreißig Jahre gedauert, bis ich erkannt habe: Das Beste in meinem Leben war, dass ich bei ihr gelernt habe. Das war wirklich so ein Knalleffekt. Und plötzlich stand diese ganze Zeit auch wieder ganz klar vor mir, und ich konnte die Unterrichts­ stunden nachvollziehen. Ich habe dann versucht, so rein wie möglich eine Wigman-Stunde wiederzugeben. Welche Rolle spielt der Begriff künstlerisches Erbe für dich ganz ­allgemein und im Speziellen in Bezug auf deine eigene Arbeit? Meine eigene Arbeit liegt im Archiv, und da liegt sie gut und bleibt sie. Ich habe noch nie ein Stück von mir noch einmal mit anderen einstudiert. Auch Wigman war eigentlich nicht dafür, dass ihre Tänze von anderen aufgeführt werden. Denn sie sagte sinngemäß: ›Was ich heute tanzen will, kann ich nicht mit dem Körper von gestern oder mit meiner Einstellung zu der Bewegung von vor einem Jahr tanzen. Ich habe mich verändert und habe jetzt andere Dinge im Kopf und im Körper.‹ Wigman hat über zehn Jahre nur entwickelt, bevor sie überhaupt aufgetreten ist. Und dann war das ein fertiges Paket sozusagen, das sie bis an ihr Ende beibehalten hat, wenn auch in hunderttausend Variationen und Umstellungen. Mich ärgert ziemlich, dass man sie so abschreibt. Die Expressionisten aus dieser Zeit hängen noch überall rum, und auch Thomas Mann wird noch gelesen. (lacht) Ich will sie einfach noch ein bisschen über die Zeit retten. Das ist mein Anliegen. Dass man sie nicht als Ausdruckstänzerin abstempelt, denn das war sie nicht. Sie hat es immer Freien Tanz genannt. Frei von den Fesseln, die die Gesellschaft dem Tanz aufgezwungen hatte. Sie wollte nicht nur schön sein, harmonisch, lieblich und nett. Sie wollte eben mehr stampfen und sagen: ›Ich bin nicht nett. So, aus‹, und das war dann der Ausdruck. (lacht) Welche Bedeutung hatte und hat das Archivieren für dein Werk? Während meiner Laufbahn habe ich nicht archiviert. Da habe ich nie was aufgehoben. Mal eine Kritik, wenn ich irgendwie erwähnt wurde, aber sonst nie etwas. Erst seitdem ich in Köln arbeite, fing es irgendwann an, dass von jeder Aufführung ein Video gemacht wurde. Dass die Filme heute schon im Archiv sind, liegt einfach daran, dass ich, nachdem ich das Studio aufgeben musste, nicht wusste, wohin mit meinen ganzen Sachen. Das Deutsche Tanzarchiv Köln / SK Stiftung

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Kultur hat meine Sachen als Vorlass genommen. Wenn ich Zeit habe, gehe ich dorthin und sage denen, wer da tanzt, wann und wo, denn später, wenn es mich nicht mehr gibt, weiß das kein Mensch mehr. (lacht) Hast du eine Alterssicherung, die es dir ermöglicht, wann immer du möchtest, mit dem Arbeiten aufzuhören? Oder musst du solange arbeiten, wie es irgendwie geht, um nicht zu verarmen? Ja, Letzteres. (lacht) Für mein erstes Engagement habe ich 240 DM im Monat bekommen. Wir hatten als Tänzer*innen keine Tarifverträge. Im zweiten Jahr gab es 320, im dritten Jahr 480 DM und dabei blieb es. Ich habe ja immer in irgendwelchen Engagements gearbeitet, in freien Produktionen, die getourt sind. Aber viel konnte ich nie einzahlen. Das Geld reicht haargenau, um alle Fixkosten zu zahlen. Dann habe ich noch kein Brötchen gekauft; so was esse ich schon gar nicht mehr. Dieses Geld muss ich einfach dazuverdienen, selbst wenn es nur 400 Euro im Monat sind. Wie stellst du dir das Ende deines künstlerischen Schaffens vor? Gibt es überhaupt ein Ende vor deinem Tod? Nein. (lacht)

Gekürzte Fassung des Interviews, geführt von Angie Hiesl + Roland Kaiser am 15. Januar 2021 in Köln im Rahmen der Recherche zum Thema Kunst und Alter.

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»Egal was kommt, wir bringen es auf die Bühne« Ein Interview mit Fanni Halmburger und Lisa Lucassen

Was bedeutet das Thema Alter für euch persönlich? Lisa Lucassen: Das Erste, was mir aufgefallen ist, als ich älter wurde, ist ein Zuwachs an Souveränität. Seit ich ungefähr vierzig bin, werde ich ernster genommen als die 25-jährige Theaterwissenschaftlerin, die ich zu Beginn meiner Karriere war. Wenn man z. B. mit einer Technikcrew im Theater zu tun hat, wird man als Fünfzigjährige, die den Unterschied zwischen einem VGA- und einem BNC-Anschluss kennt, besser behandelt. Auf diesem Gebiet werden Dinge leichter. Aber es gibt andere Bereiche, da wird alles schwerer: Vor mittlerweile fünf, sechs Jahren haben wir in Stuttgart am Schauspiel gearbeitet und hatten mit einer Schauspielerin zu tun, die als junge Frau der Star des Ensembles war. Sie wurde fünfzig, während wir dort gearbeitet haben. Wir haben sie dann noch in einer Rolle ohne Text gesehen und anschließend wurde ihr angeboten, sie könne als Souffleuse arbeiten. Da haben wir zum ersten Mal verstanden, dass Frauen in unserem Alter von den Bühnen verschwinden. Aus der Politik verschwinden sie nicht, aber von den Theaterbühnen, auf denen es um die Darstellung klassischer Fiktionen geht. Wir haben uns damals sehr dazu beglückwünscht, dass wir uns unsere Arbeitsplätze selbst geschaffen haben und sie deshalb auch behalten können. Wir sind nicht darauf angewiesen, dass es dramatische Texte gibt, die auf uns passen und die von einer Dramaturgie gefunden und ausgewählt werden, sondern wir machen diese Texte einfach selbst. Aber für Schauspielerinnen im Stadt- und Staatstheaterbetrieb oder in Film und Fernsehen ist es ein Riesenproblem. Fanni Halmburger: Als wir 2018 das 25-jährige Bestehen von She She Pop gefeiert haben, haben wir zum ersten Mal ausgiebig gemeinsam zurückgeblickt und diesen Rückblick als sehr bereichernd empfunden. Wir haben unsere alten Arbeiten und alte Fotos gesichtet. Da kam bei mir zum ersten Mal das deutliche Gefühl auf, dass wir gemeinsam gealtert sind. Wir haben uns mit Mitte zwanzig zusammengeschlossen. Beim Jubiläum hatten wir ungefähr unser halbes Leben miteinander verbracht. Bei der Gala, die wir ausgerichtet haben, ging es unter anderem darum, was wir erreicht haben. Es wurde viel davon gesprochen, dass wir Wegbereiterinnen für andere sind, die an unserer ­Entwicklung seit langer Zeit Anteil nehmen – und davon profitieren, dass es uns weiterhin gibt. Es war schön zu erfahren, dass wir nicht nur für uns selbst da sind und arbeiten, sondern Teil einer größeren

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­ emeinschaft sind, die sich mit neuen Formen im Theater beschäftigt. G 2019 haben wir als erstes Kollektiv den Theaterpreis Berlin verliehen bekommen. Wir stehen damit in einer langen Reihe von überwiegend männlichen Regisseuren und werten unseren Preis als Zeichen, dass sich etwas verändert. Ohne unbescheiden wirken zu wollen: So ein Preis ist eigentlich für eine Person gedacht. Wenn man das Preisgeld durch die Mitglieder des Kollektivs teilt, ist es nicht mehr überwältigend viel. Und auch das könnte ein Zeichen sein: Dass es finanziell möglicherweise nicht mehr sehr weit bergauf geht, weil wir ein Kollektiv sind. Auch wenn wir bessere Gagen verhandeln können als vor 25 Jahren und Preise gewinnen, merken wir schon, dass die Mieten steigen, unsere Kinder ernährt werden müssen, wir uns um die Rente kümmern sollten. Manche haben ein Erbe im Rücken, andere nicht. Unsere Situation bleibt trotz allem strukturell prekär, und mittlerweile kommt die Frage hinzu, wie lange wir arbeiten können und wollen. Ich hatte im vergangenen Jahr eine längere Krankheitsphase. Es drängt sich die Frage auf, wie lange unsere Körper diesen Beruf noch mitmachen. Reicht das Adrenalin noch aus? Was wird aus der Gewohnheit, in der letzten Woche vor der Premiere quasi nicht mehr zu schlafen? Wieso wird es so schwierig, komplexe Abläufe und Text zu lernen, bis beides wirklich sitzt und man sich damit sicher fühlt? Was bedeutet das Thema Alter bezogen auf eure künstlerische Arbeit? Fanni Halmburger: Unsere Inhalte generieren wir immer aus der Lebenssituation, in der wir uns befinden: In Oratorium ging es um Eigentum; manche hatten Eigentumswohnungen oder ein Erbe im Hintergrund, andere nicht. Unser neuestes Stück Hexploitation beschäftigt sich mit der Menopause und der alternden Frau auf der Bühne. Das sind wir. Das Thema ist tabuisiert, wird als ›privat‹ betrachtet. Viele Frauen sind damit allein, dabei ist es eigentlich ein gesellschaftliches Thema. Nach der Vorstellung kam einmal ein Mann zu mir und sagte: »Das ist genau mein Thema!« Eine junge Frau hat das Gleiche gesagt. Und es ist doch interessant, wer sich betroffen fühlt, auch wenn nicht alle eins zu eins dasselbe erleben. Was ich sagen will: Unsere Inhalte speisen sich aus unserer Lebensrealität, und die teilen offenbar viele Menschen. Lisa Lucassen: Ich finde es mittlerweile interessant, unsere alternden Körper auf der Bühne auszustellen. Mit Mitte zwanzig dachte ich: Müssen wir uns wirklich ausziehen auf der Bühne? Erzeugt das Sinn? Und jetzt denke ich: Sich jetzt auszuziehen ist ein politischer Akt, liebes

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Publikum. Schaut euch das bitte mal genau an, denn es ist vielleicht nicht mehr so hübsch, aber es ist wahr. Ich empfinde diesen Akt als befreiend und ich freue mich, dass ich jetzt mit dem Material, das ich all die Jahre mit mir herumgeschleppt habe, eine ganz andere Aussage treffen kann als früher. Wie stellt ihr euch euer Altsein vor? Welches sind eure Wünsche und Hoffnungen? Und gibt es möglicherweise eine Diskrepanz zu der erwarteten Zukunfts-Realität? Lisa Lucassen: Ich stelle mir vor, dass wir weiterarbeiten, bis wir von der Bühne fallen. Wir werden das Tempo ändern müssen, weil wir diesen Marathon von 14-Stunden-Tagen kurz vor der Premiere nicht mehr so gut durchstehen. Aber ich glaube zu wissen, dass die Renten von uns allen unzureichend sein werden und dass wir ziemlich sicher im Alter arbeiten müssen. Und ich kann mir auch ehrlich gesagt nicht vorstellen, in Rente zu gehen und dann einen Obstgarten zu bewirtschaften. Wo soll ich den jetzt noch herkriegen? Aber wie Fanni auch schon angedeutet hat: Wir sind finanziell sehr unterschiedlich ausgestattet. Einige von uns könnten es sich vielleicht erlauben, eines Tages nicht mehr zu arbeiten, andere nicht. Fanni Halmburger: Meine Vision wäre, dass wir einen eigenen Ort haben. Bisher haben wir zwar ein Büro und Lagerräume, wir sind ans HAU Hebbel am Ufer angebunden und an andere Theater. Aber ich habe eine Vorstellung von einem Ort, wo wir auch einen Proberaum haben, wo wir mehr ausprobieren können, und zwar ohne Produktionsdruck. Ein Ort, an dem man sich auch mit der jüngeren Generation stärker vernetzt. In Holland gibt es ein Modell, bei dem ältere Gruppen jüngere Gruppen unterstützen und ein bisschen protegieren. Beide Seiten profitieren davon. Es könnte an diesem Ort auch ein paar kleine Zimmer geben, manche könnten dort wohnen und sich gegenseitig unterstützen. Mein Wunsch hat mehr mit Vernetzung zu tun als mit Vereinzelung, dass Leben und Arbeiten ineinander übergehen können. Mein Schwiegervater ist Bildender Künstler und über achtzig Jahre alt. Er geht jeden Tag in sein Atelier, und ich finde das toll. Aber es liegt auch in Nähe seines Zuhauses, weil er nicht mehr so viel laufen kann. So etwas stelle ich mir manchmal für uns vor, dass die Sphären gar nicht mehr so deutlich getrennt sind.

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Wie beeinflusst die durch den Alterungsprozess veränderte Körperlichkeit euer künstlerisches Schaffen und euer Privatleben, sofern ihr darüber sprechen möchtet? Lisa Lucassen: Als ich 45 war, haben wir unser erstes Tanzstück gemacht und ich musste erschüttert feststellen, dass ich nicht so fit bin, wie ich dachte. Meine Knie haben das einfach nicht mitgemacht, es war wirklich schrecklich. In dem Stück gibt es eine Passage, an der man auf seinen Fersen sitzt. Und ich erinnere mich an ein Gastspiel, da waren meine Knie doppelt so dick, wie sie eigentlich sein sollten. Mir sind dabei die Tränen heruntergelaufen, die musste ich danach kurz abwischen und dann weitertanzen. Das war eine schockierende Erfahrung. Aber mein Körper ist mein Arbeitsmaterial, und wenn er nicht funktioniert wie geschmiert, dann muss ich irgendwie umdenken. Wir haben dann die Szene ganz leicht verändert, und ich konnte das Stück wieder gut aufführen. Aber das ist ein Beispiel dafür, wie eine körperliche Einschränkung dazu führt, dass die Inszenierung sich verändern muss. Ich nehme an, das wird eher mehr als weniger werden, auch wenn wir uns viel damit beschäftigen, unser Arbeitsgerät zu pflegen und so gut instand zu halten wie möglich. Fanni Halmburger: Wie ich schon angedeutet habe: Das Multitasking auf der Bühne, also die Koordination zwischen technischen Aspekten und Text, fällt mir schwerer. Und es gibt die sichtbaren Dinge wie Lesebrillen: Wir lesen oft auf der Bühne und fast alle brauchen dazu mittlerweile Lesebrillen. Manche hören schlechter, man muss nachfragen, das Monitoring muss laut sein. Die einen reden immer lauter, andere werden immer empfindlicher. Das sind alles Dinge, bei denen man denkt: Oh Gott, wie soll das in fünf Jahren sein? Aber bei She She Pop ist das Motto immer gewesen: günstig! Alles, was vielleicht schwierig ist, das werten wir als günstig, denn es führt dazu, dass wir damit öffentlich auf der Bühne umgehen. Egal, was kommt, wir bringen das auf die Bühne. Und darum denken wir eher nicht, dass wir irgendwann zu alt für das sind, was wir tun, weil wir es nicht mehr können, nur weil wir vielleicht auch nicht mehr laufen oder nicht mehr gut sehen können. Denn das würde dazu führen, dass wir von der Bühne verschwinden. Wir denken: Im Gegenteil, das gehört alles da hin. Man sieht es viel zu wenig, und wir können es unserem Publikum zeigen. Wir haben angefangen, als wir jung waren, da ging es noch sehr viel um die Betrachtung der einzelnen Frauen. Damals haben wir Live! gemacht, ein Stück, in dem das Publikum abstimmt, wen es sehen will. Wir waren im Wettbewerb, weil wir immer so stark verglichen wurden

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als Frauen: Das ist die Dünne, die Lustige und das ist die ein bisschen Dickere, Intellektuellere – immer wurden solche Zuschreibungen gemacht. Ich habe das Gefühl, dass wir jetzt im Alter wieder mehr zusammenrücken, weil die Unterschiede in den Blicken von außen nicht mehr so stark sind. Wobei ich sagen muss, mit meinem Körper war es schon immer so, wie Lisa vorhin gesagt hat, dass es auch ein Politikum ist, ihn auf die Bühne zu bringen und dem Publikum genauso zu zeigen, wie er ist, kein Normkörper. Ich leide unter schwachem Bindegewebe, auch seit den Geburten. Ich kann alles gut verpacken. Aber wenn man mich dann ohne Verpackung sieht, dann ist es anders. Lisa Lucassen: Und dann rufen wir: günstig! Ein toller Bauch im Bild. Ja, ich glaube, das ist unser Trick: Das, was schwierig, möglicherweise schmerzhaft ist, möglicherweise aber auch wirklich, wirklich lustig, in Inhalt zu verwandeln. Fanni Halmburger: Bei unseren Produktionen geht es oft um Scham oder um die Grenzen der Einzelnen. Wenn ich mich mit einzelnen Kolleginnen unterhalte, finde ich heraus, dass alle sich für andere Sachen schämen. Ich glaube, was uns eint, ist dieses Gefühl für das gemeinsame Bild, das wir schaffen. Das ist ein öffentliches Bild, und es schützt das Individuum im Kollektiv. Ich glaube, das wäre anders, wenn ich das alleine machen würde. Aber in diesem Schutzraum des Kollektivs, wo alle sich gemeinsam hinstellen, kann es sehr stärkend sein und ein solidarischer Akt. Wie wirkt sich das Älterwerden mental aus? Lisa Lucassen: Also ich sehe schon, dass sich da ein gewisser Starrsinn entwickelt, dass die, die früher lustig dickköpfig waren, jetzt einfach denselben Satz fünfmal sagen. Aber das kennen wir ja schon. Ansonsten habe ich eher das Gefühl, unsere Bandbreite wird größer. Die Bücher, die wir vor hundert Jahren gelesen haben, haben wir ja nicht alle vergessen. Insofern gibt es auf der einen Seite diese komischen Altenheim-Dialoge, die wir manchmal haben, bei denen man denkt: Du hast einfach nicht zugehört, ich habe dir gerade schon geantwortet, aber da warst du schon wieder woanders, schade. Auf der anderen Seite werden wir aber nicht dümmer, sondern eher klüger. Es sammelt sich Wissen an, das irgendwie sedimentiert und dann ganz anders wieder zum Vorschein kommt, als es war, als es in diese Köpfe hineingekommen ist. Das passiert gleichzeitig, und ich finde es ziemlich aufregend zu beobachten.

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Fanni Halmburger: Ja, das ich würde auch sagen. Ich finde, die langjährige Kollektivarbeit ist ein bisschen wie in einer Familie, weil man sich schon so lange kennt. Und manche Sachen regen einen mehr auf, weil man merkt, dass jemand eben stärker eine Seite ausbildet, als einem lieb ist. Und auf der anderen Seite wird man auch großzügiger, weil man – wie in der Familie auch – denkt, die kenne ich. Da rege ich mich gar nicht mehr auf. Und das hilft einem, glaube ich, da durchzukommen. Und wir haben uns über die Jahre immer wieder Zeit genommen für die Reflexion nach innen. Wenn wir das nicht gemacht hätten, weiß ich nicht, ob wir noch in dieser Form zusammen wären. Ich denke nicht. Es ist ein wichtiger Teil unserer Zusammenarbeit, unsere Konflikte mit und ohne Supervision wirklich anzuschauen und durchzugehen. Wir haben viele Regeln, die wir in der Kommunikation versuchen einzuhalten. Das ist schwierig, und wir müssen uns immer wieder daran erinnern. Es führt dazu, dass man gemeinsam weiterkommt. Ich muss sagen, wir sind acht Personen und wir haben eigentlich noch keine richtige Krise erlebt. Obwohl: Es kommt natürlich immer darauf an, wen man fragt. Aber insgesamt gehen wir davon aus, dass es mit uns weitergeht, trotz Alterserscheinungen und Krankheiten. Natürlich müssen wir sehen, wie wir damit umgehen. Aber bisher hat es uns noch nicht getroffen, dass man denkt, jemand ist schwer erkrankt oder geht in eine ganz andere Richtung. Das wäre dann eine neue Herausforderung, würde ich sagen. Lisa Lucassen: Für unsere künstlerische Arbeit gibt es zwei Hauptregeln: Erstens werden dauernd Plätze getauscht. Man improvisiert und die anderen sehen zu und dann werden Plätze getauscht. Hinterher haben alle Anwesenden die Erfahrung von innen und von außen, also: Wie wirkt das, und wie ist es, das zu machen, was ist daran schwierig, was ist leicht? Das ist, glaube ich, die wichtigste Regel im künstlerischen Arbeiten. Was wir zusätzlich in diesen vielen Supervisions-Sitzungen gelernt haben, ist, dass innerhalb der künstlerischen Arbeit auch immer mal innegehalten wird, damit alle eine Gelegenheit haben zu sagen, wie es ihnen mit dem Prozess geht. Ob sie das Gefühl haben, sie können beitragen, ob sie das Gefühl haben, sie sind ratlos, ob sie denken, sie werden dauernd unterdrückt und zum Schweigen gebracht. Das sind alles wichtige Informationen, damit die Arbeit weitergehen kann. Und für die Kolleg*innen ist auch wichtig zu wissen: Ich habe gerade zu Hause ganz was Schreckliches im Gang, mein Kind ist

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soundso, mein Freund ist blöd, meine Katze ist gestorben. Das ist ein wichtiger Teil unserer Arbeit, zu wissen, was bei den anderen gerade los ist. Es ist überhaupt nicht trivial, diese zusätzlichen Informationen in die Arbeit hineinzulassen. Das ist super professionell und kein Klatsch und Tratsch, es ist ein wichtiger Bestandteil der Arbeit. Seht ihr in der Kunst einen zunehmenden Generationenkonflikt? Lisa Lucassen: Ich wollte nie jemanden vom Thron schubsen, um ihn selbst zu besteigen. Diese Art von Generationswechsel ist eher so passiert. Und wenn ich mir die jüngeren Generationen angucke, dann hoffe ich nicht, dass sie mich eines Tages von der Bühne schubsen, bevor ich von selbst tot umgefallen bin. Ich kann mir das schlecht vorstellen, weil ich glaube, die Grenze zwischen den Generationen ist durchlässiger geworden. Dadurch, dass zumindest unsere Generation viel bereiter ist, von den jüngeren Leuten zu lernen, als es noch in vorherigen Generationen der Fall war, glaube ich, wird die Ablösung weniger konfliktreich und ganz allmählich über die Bühne gehen. Fanni Halmburger: Aber es geht oft um Macht und Einfluss. Also ich erlebe das etwas anders. Zum Beispiel: Wir bereiten gerade einen ­Förder-Summit vor, und es geht darum, wer dort spricht. Interessanterweise fielen uns ganz viele ein, die schon lange in der Freien Szene unterwegs sind. Wir haben uns gefragt: Wo sind denn die Jungen? Wir haben sie dann aktiv gesucht. Wir hätten auch sagen können, die können ja von sich aus kommen. Doch dann haben wir darauf geachtet, dass die junge Generation dabei ist, weil sie andere Bedürfnisse hat. Durch meine Erfahrung und meine Kontakte weiß ich, mit welchen Fragen ich mich an wen wenden muss, und kann Tipps geben. Ich habe auch nicht das Gefühl, dass ich vom Thron geschubst werde, aber man muss sich schon bewusst machen, dass man natürlich einen gewissen Status hat und damit auch eine Verantwortung. Ich frage mich oft, wann gebe ich diese Position eigentlich ab und wie bewusst mache ich das? Denn die Mittel und Ressourcen sind begrenzt. Mit dem Problem befassen wir uns zurzeit: Das Berliner Fördersystem ist für viel weniger freie Gruppen ausgelegt, als es aktuell gibt. Es ist vorgesehen, dass einige nach oben steigen, andere vielleicht herausfallen oder aber das System verstopfen, während andere nachkommen … – aber das führt jetzt vielleicht zu weit. Lisa Lucassen: Ich möchte auf jeden Fall noch sagen, dass ich Altwerden wirklich nur empfehlen kann, ich finde es ganz toll. Also ich

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genieße diesen Zustand zutiefst, und zwar trotz der kaputten Knie und körperlichen Einschränkungen. Das ist alles ein Witz im Vergleich zu dem Zugewinn an Ernstgenommenwerden, an Standing in der Welt. Also ich spüre so richtig – ich weiß nicht, ob man das außerhalb von mir auch spürt –, wie ich klüger werde, und das macht mich sehr zufrieden. Und ich möchte das allen jungen Leuten empfehlen, sich drauf zu freuen, dass sie älter werden, wenn sie es schaffen.

Gekürzte Fassung des Interviews, geführt von Angle Hiesl + Roland Kaiser am 24. September 2020 in Berlin im Rahmen der Recherche zum Thema Kunst und Alter.

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Ein altes Bauwerk guckt

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man sich ja auch gerne an

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Neue Schönheit braucht das Land

Dorothea Marcus

Neue Schönheit braucht das Land Über alternde Frauen(bilder) auf und vor ­deutschen Bühnen Ich bin Theaterkritikerin, 52 Jahre alt, und darf an dieser Stelle einen Text über das Altern auf der Bühne schreiben, aus der Sicht von Theater­kritikerinnen. Das Thema hat für mich zwei Aspekte: Der eine ist die Frage, was ich für Bilder älterer Frauen auf der Bühne sehe, in meinem Beruf, der mich ein- bis dreimal in der Woche ins Theater führt. Der andere Aspekt ist: Wie altern eigentlich Kritikerinnen in ihrem Beruf? Immerhin sind wir auch ein Bestandteil der Medienlandschaft, der journalistischen Öffentlichkeit. In ihrem niederschmetternden Buch Mutprobe hat die Journalistin und ehemalige taz-­ Chefredakteurin Bascha Mika im Jahr 2014 beschrieben, wie Frauen ab fünfzig in den Medien systematisch unsichtbar gemacht werden, gebeten werden, sich »jünger« zu operieren, zu gehen, gekündigt werden – oder freiwillig hinter den Kulissen verschwinden.1 Ist das acht Jahre später, in den Zeiten von stolzen über fünfzigjährigen Groß­ moderatorinnen wie Maybritt Illner, Sandra Maischberger, Marietta Slomka und Anne Will immer noch so? Und gilt das auch für Journalistinnen, die nicht ganz so bekannt sind? Doch zunächst zum ersten Punkt. Wenn ich auf der Bühne nämlich noch eine weitere junge Frau mit blonder Langhaarperücke, ­Glitzerjacke, Hot Pants und Plateaupumps sehe, das Abziehbild einer Sexarbeiterin, muss ich schreien. So zuletzt geschehen bei Großregisseur Frank Castorf, über siebzig Jahre alt, in seiner Molière-Inszenierung Anfang 2022 in Köln. Diesmal steckt die Schauspielerin Lola Klamroth im Prostituierten-Outfit; sie ist schätzungsweise um die ­dreißig Jahre alt. Zugegeben: Sie bekommt das total lässig hin, wirkt souverän und an keiner Stelle unterdrückt oder fremdbestimmt. ­Freiwillig rast sie in die Grenzüberschreitung, zu der Castorf alle Darsteller*­innen zwingt. Der ganze Kölner Molière ist eine Reflexion über (männliche) Macht und Machtverschiebung, über Tod und seine Überwindung durch Kunst. Um gerecht zu sein: Die lächerlichste Figur des Abends ist der dickliche, greinende Molière selbst, gespielt von Bruno Cathomas, der diese Figur in einer Mischung aus Castorf-­Porträt und barockem Karikatur-Großautoren mit kindlichem Ernst und doch ironisch distanziert unterwandert. So weit, so selbst-bespiegelnd

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scharfsichtig und gewohnt grandios von Castorf inszeniert – jener ­prägende Regisseur, durch den ich eigentlich selbst erst zur Kritikerin wurde und meine Liebe zum Theater entdeckte. Es ist ein wie immer enervierend langer Abend voller Tiefe, Groteske und Überraschung darüber, wie sich der Machtmensch Molière gegenüber seiner eigenen Theatertruppe, aber auch gegenüber der Macht des Sonnenkönigs positionierte – und am Ende jämmerlich am Sauerstoffgerät hängt, bevor er mit 51 Jahren den Bühnentod stirbt. Keine Frage: Die Frauen, auch die älteren, sind auf dieser Bühne schöner, stärker, souveräner dargestellt als die immer etwas jämmerlich wirkenden Männer. Und dennoch ärgert mich ihre Darstellung zutiefst, und ich frage mich: Warum scheinen Frauen im Universum dieses komplex denkenden Theatermeisters nie aus sich heraus zu existieren, sondern tragen im Outfit den auf sie fallenden Männerblick mit? Werden stets vor allem als Sexobjekte »schön gemacht«? Selbst wenn Castorf mit ihnen kraftvolle Bilder erzeugt, ihnen eine Aura von Stärke und Geheimnis verleiht, ärgert mich das seit Jahren zutiefst. Mit Anfang dreißig hat es mir noch nichts ausgemacht, dass Frauen auf Castorfs Bühne nahezu ausschließlich sexualisiert werden. Es nervt mich jetzt, wo ich selbst über fünfzig Jahre alt und eine andere Frau mit anderen Prioritäten geworden bin. Ich habe Lust auf Identifikationsfiguren auf der Bühne, aber die durchtrainierte, nackte Tänzerin, die Prostituierte, die barbusige Schönheit, die vor mir masturbiert, gehören einfach nicht dazu. Frauen können auf Castorfs Bühne niemals einfach nur Menschen sein, sind stets ausschließlich auf ihr Geschlecht festgelegt, elegant oder erotisch, entsprechen Achtziger-Jahre-Klischees. Und nein, Castorf stellt damit nicht dar, dass Frauen dem männlichen Blick ausgeliefert sind – er bedient den männlichen Blick, der vermutlich zuallererst sein eigener ist. Das gilt auch, wenn er die Schauspielerin Valery Tscheplanowa in der Schlussszene des Faust (Castorfs legendärer zehnstündiger Abschiedsinszenierung an der Berliner Volksbühne) als nackten Engel ausstattet, der die tumben alten Männer Faust und Mephisto überstrahlt: überirdisch schön, mit freier Brust in Varietékostüm, in sich ruhend. Auch wenn sie die Männer in einen Sarg sperrt, sie herausfordert – bleibt sie fleischgewordene Männerfantasie. Und das passiert durchaus auch mit Frauen, die älter sind als fünfzig Jahre: So zeigt die grandiose Jeanne Balibar im Molière ihren durchtrainierten Tänzerinnenkörper in roten Dessous, durchsichtigen Brautkleidern oder auch ganz ohne Kleidung. Sie tummelt sich auf der Großbildleinwand mit vier Männern im Schaumbad, masturbiert andeutungsweise. Das ist alles stimmig, auch Molières Dramen fielen ja gern mal durch

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Geschmacklosigkeiten auf. Aber warum werden Männer nicht so gezeigt? Valery Tscheplanowa hat in Interviews Castorf als Regisseur stets bejubelt. Sein Frauenbild störe sie gar nicht, im Gegenteil. Allenfalls sexistisch findet sie, wenn ihr die »Sexyness abgeschnitten« ­werde.2 Das Argument empfinde ich in etwa so stimmig wie eine Verona Feldbusch, die sich im öffentlichen Fernsehgespräch mit Alice Schwarzer über Feminismus den gewaltigen Ausschnitt zurechtrückt und dies feministisch findet.3 Natürlich geht es nicht darum, Frauen Kleidungsregeln vorzuschreiben. Jede kann sich so weiblich, sexy, aufreizend, provokant und leichtbekleidet in Szene setzen, wie sie will. Sie sollte nur wissen: Es geht als Frau durchaus auch darum, andere Frauenbilder in die Welt zu senden und zu setzen – die nichts mit einer Verkörperlichung ihres Daseins zu tun haben, der Tatsache, dass sie im männlichen Blick immer nur an Sexualität gekettete Körper sind. Und ja, dies hat nicht nur mit Feminismus, sondern auch mit »Ageism«, also: Altersdiskriminierung zu tun. Denn sobald die ständige Verwertung, Fetischisierung und Sexualisierung von Frauenkörpern aufgrund von körperlichen Alterserscheinungen nicht mehr so reibungslos funktioniert, treten Frauen eben oft gar nicht mehr auf, werden unsichtbar, bleiben ungehört, werden allenfalls als Hexen, Monster, missgünstige Alte diffamiert – während alte Männer häufig als gütig, weise, würdevoll, in voller Kraft und Verantwortung dargestellt werden. So ähnlich hat es Susan Sontag auch schon in ihrem bedeutenden Essay »The double standard of aging« von 1972 ausgeführt.4 Sontag nennt die soziale Konvention der Dämonisierung und Abwertung alternder Frauen ein »Instrument der Unterdrückung«, gegen das sich Frauen auflehnen müssen. Wir müssen neue Frauenbilder kreieren: uns als autonome Subjekte sehen, die handeln, verändern, gestalten. Die klug, glücklich, souverän sind – und nicht, wie z. B. im Stück Linda von Penelope Skinner am Schauspielhaus Düsseldorf (2019) – letztlich doch als unempathisches Opfer des Alterns erscheinen. Im Idealfall sind sie noch dazu ganz normal – also nicht sexuell markiert – gekleidet. Dass weibliche Altersdiskriminierung darüber hinaus auch noch ein Werkzeug des Kapitalismus ist, hat die Feministin Laurie Penny in ihrem Buch Fleischmarkt beschrieben.5 Eine ihrer wichtigsten Schlüsse: Erst wenn wir Frauen ein Bewusstsein für die eigene Unterdrückung (in Bilderwelten) schaffen, können wir den Ausbruch daraus organisieren. Und diese Bilderwelten finden nun einmal auch im ­Theater statt – bzw. könnten auch im Theater verändert werden. Dazu noch ein schönes Zitat aus Bascha Mikas Buch Mutprobe: »Die

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­ ännliche Welt hat es stets als ihr gutes Recht betrachtet, dem weiblim chen Körper einen Wert zuzumessen und ihn danach zu beurteilen. Dieser Wert hing immer vom Alter ab. Die Muster, die über Jahrtausende dabei angewandt wurden und die Stereotype, die sich daraus formten, sind fest in unserem kollektiven Gedächtnis verankert.«6 Wie ein Ausbruch daraus auf der Bühne funktionieren kann, hat mir ein Abend von She She Pop gezeigt, der nichts weniger als die Umwertung jener althergebrachten Körperbilder versucht: Hexploitation (2021). Die Performerinnen thematisieren, wie das Altern der Frau schon immer als Krankheit galt, ihr menopausaler Körper als irgendwie ekelhaft. »Wenn ich mir meinen Arbeitsplatz nicht selbst geschaffen hätte, wär’ ich längst nicht mehr hier«, sagt Berit Stumpf auf der Bühne und bringt auf den Punkt, dass es auf (Stadttheater)Bühnen kaum Rollen für ältere Frauen gibt. Eine nach der anderen zieht sich komplett aus. Gnadenlos kritisieren sie gegenseitig ihre Speckröllchen, Falten und Altersflecken: Auch Frauen reduzieren einander gern auf Körperbilder. Dann inszenieren sie sich auf Videoleinwänden als Hollywood-Diven mit riesigen Vulven und erzählen, dass es in der Kinoindustrie unter dem Begriff »Hagsploitation« doch noch eine Verwertungsidee für ehemals glamouröse alte Schauspielerinnen gab: als besonders monströse Hexen. Schon im Jahr 2014 formuliert Bascha Mika: »Schauen wir uns […] die künstlerischen Darstellungen älterer Frauen über die Zeitläufte hinweg an, so ist dieses Bild häufig geprägt von Abscheu, ­kreativer Bösartigkeit und atemberaubender Niedertracht.«7 Passend dazu brauen She She Pop in einer Hexenküche Menstruationsblut zusammen, beschwören mit Flötentönen ihre Schamlippen, um das Blut wieder fließen zu lassen, unterfüttern den Vorgang immer wieder mit Diskurs und Anekdoten, um zu zeigen, wie systematisch die Diskriminierung der alternden Frau auch historisch war. In großartigen Kunst-Bildern mit dreigeteilten Screens setzen sie dann gefilmte Körperteile verfremdet zusammen, verwandeln sich genau in solche »Hexen« oder groteske »Monster«: Schamlippen werden zu Flügeln, Vaginen zu Bäuchen, faltige Stirnen zu Ballkleidern – zum Schluss fliegen die Wesen durch eine Art Zauberwald und die vier Performerinnen stehen stark und still zu Lana del Reys »Will you still love me when I am no longer young?« Eine politische und dringend nötige Agenda liegt dem grandiosen Abend zugrunde: She She Pop ziehen in Hexploitation gesellschaftliche Schreckensbilder des Alterns heran, um ihnen den Schrecken zu nehmen. Es ist ein Theaterabend, nach dem ich mich tatsächlich glücklich, stark und angstfrei fühlte.

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Doch nun zum zweiten Aspekt, der letztlich eng mit Ersterem zusammenhängt: dem Verschwinden von alternden Frauen aus dem öffentlichen Raum. Ich werde mich im Folgenden auf Medienschaffende beziehen – zu denen ich als Theaterkritikerin und Kulturjournalistin ja selbst gehöre. Bascha Mika schreibt in Mutprobe: »Ab einem bestimmten Alter werden Frauen im öffentlichen Raum kaum mehr wahrgenommen. Sie sind verschwunden, unsichtbar, weg, wie verdeckt von einem blinden Fleck.«8 Dies sei eine »soziale Übereinkunft«: »Die Bewertung und Deutung der älter werdenden Frau findet im gesellschaftlichen Kontext statt. […] Der klammheimliche Konsens muss gebrochen werden, der Frauen ab einem bestimmten Alter so geringschätzt, dass sie sich quasi in Luft auflösen.«9 Aber ist es tatsächlich so, dass Frauen aus den Medien verschwinden? Ich selbst muss in meinem Berufsfeld feststellen: nicht unbedingt. Ich bin seit einem Vierteljahrhundert freiberufliche Theaterkritikerin, und für mich stimmt die Annahme, Frauen würden ab einem bestimmten Alter keine Rolle mehr in den Medien spielen, keinesfalls. Die Anfragen an mich, die über das reine Schreiben oder Radiobeiträge machen hinausgehen, häufen sich. Ich moderiere Podiumsdiskussionen, habe diverse Lehraufträge an Universitäten inne, ko-leite zurzeit das ­kollektive Projekt kritik-gestalten,10 werde in Jurys eingeladen. In die Jury des Berliner Theatertreffens wurde ich von 2016 bis 2019 übrigens auch deshalb berufen, weil in der Vorgänger-Jury keine einzige Frau vertreten war. Zuweilen erscheint es mir, als sei ich mit wachsender Erfahrung und Routine als Theaterkritikerin gefragter als früher – dies mag u. a. auch daran liegen, dass Feuilletons insgesamt aussterben und es daher auch immer weniger Nachwuchs gibt. Auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen sind jene Moderatorinnen, deren Karriere-Ende Bascha Mika noch 2014 aus Altersgründen für nicht ganz unwahrscheinlich hält, im Jahr 2022 jenseits der Fünfzig noch gut im Geschäft.11 Wenn man sich in die etwas weniger berühmten Ebenen begibt, sieht die Sache deutlich anders aus. Konkretes Zahlenmaterial dazu gibt es allerdings nicht; der Deutsche Journalistenverband DJV etwa erhebt keine Statistik dazu. Interessant sind dagegen die Zahlen der Künstlersozialkasse (KSK): In der Kategorie »Wort« ist die Anzahl der bei der KSK versicherten Frauen zwischen fünfzig und sechzig Jahren in den Jahren 2019 bis 2021 noch durchweg deutlich höher als die der Männer (zwischen 1300 und 1500 Personen mehr). Dass ihr Einkommen dramatisch unter dem der Männer liegt, ist erschreckend, muss jedoch an anderer Stelle besprochen werden. Ab sechzig Jahren ändert

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sich das Bild schlagartig: Auf einmal sind viel mehr Männer versichert, sprich stehen noch im aktiven journalistischen Berufsleben (rund 1000 mehr). Haben die Frauen ab sechzig alle ausgesorgt? Ist ihnen der Journalismus zu anstrengend geworden? Kann man damit Altersdiskriminierung weiblicher Journalistinnen beweisen? Wohl eher nicht. Die Zahl ist dennoch auffällig: Frauen ab einem bestimmten Alter treten nicht mehr so häufig offen auf. Die Vorstellung, eine Siebzigjährige würde noch eine Konzernzentrale leiten, erscheint fremd – bei Männern aber wie eine Selbstverständlichkeit. Generell ist das Thema in Deutschland diffus und empirisch kaum nachweisbar. Es bleibt bei einer Aneinanderreihung von Einzelfällen, hier mit Bezug auf den Hauptsender meines Wohnorts: Im Jahr 2012 sorgte die Entlassung der WDR-Moderatorin Claudia Ludwig, damals 51, für Empörung – ausgetauscht gegen eine 13 Jahre jüngere Kollegin. Christine Westermann, Jahrgang 1948, Moderatorin von Zimmer frei und Buchkolumnistin bei Frau TV, wurde 2016 gekündigt. Im Juni 2021 musste Simone Standl, Lokalzeit-Moderatorin, geboren 1962, gehen, die daraufhin öffentlich protestierte und vor Gericht ging. Ein juristischer Nachweis von Altersdiskriminierung gelang ihr allerdings nicht. »Konzeptionelle Gründe« sind das Allzweckargument bei Entlassung freier Mitarbeiterinnen. ›Ageism‹, so das im angelsächsischen Raum geprägte Wort dafür, fällt nicht so leicht auf. Auch ich kann nicht konkret davon berichten, genauso wenig wie von mir befragte Theaterkritik-Kolleginnen über fünfzig. Keine von ihnen gibt zu, altersdiskriminiert zu sein. Oder trifft es uns als Kulturjournalistinnen einfach nicht so sehr, da wir eher selten vor Kameras auftreten? Oder nehmen wir es selbst nicht wahr? Meine Kollegin Esther Slevogt schreibt mir, als Mitgründerin des Selbstermächtigungsportals nachtkritik.de dieser Frage nie begegnet zu sein. Meine Kollegin, die Tanzkritikerin Melanie Suchy, könnte sich zwar vorstellen, dass zwei Bewerbungen vor Jahren aus Altersgründen nicht klappten, sondern bewusst an jüngere, weniger erfahrene Kolleginnen gingen. Aber sie sagt auch, sie altersdiskriminiere sich vielleicht sogar selbst, wenn sie sich weigere, auf Social Media zu gehen. Und auch wenn die Dramaturgin und ehemalige freie WDR-Lektorin Hedda Kage, Jahrgang 1941, zugibt, dass sie sich viele Jahre lang nicht in ihrer Redaktion sehen ließ, damit niemand ihr wahres Alter erfahre, habe sie sich nie altersdiskriminiert gefühlt, sondern konnte in einem erfüllten, weitgereisten Berufsleben machen, was sie wollte. International ist ›ageism‹ dagegen durchaus ein größeres Thema: Dort scheint die Vernetzung von Frauen, die sich gegen ihre Margina-

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lisierung auflehnen, weiter fortgeschritten zu sein. 2019 klagten fünf Moderatorinnen des New Yorker Kabelsenders NY1 gegen ihren Arbeitgeber, angeführt von der vielfach ausgezeichneten Roma Torre (Jahrgang 1958): Sie warfen ihrem Sender vor, sie nicht nur wegen ihres Geschlechts, sondern auch wegen ihres Alters zu diskriminieren, indem man ihnen weniger Präsenz auf dem Bildschirm und weniger Gehalt zugestehe.12 »Im Fernsehen«, sagte Torre im Interview, »altern Männer mit einer gewissen Würde, während für Frauen irgendwann das Haltbarkeitsdatum überschritten ist.« Nach eineinhalb Jahren endete das Verfahren mit einem Vergleich – zurück auf den Bildschirm kehrten die Frauen dennoch nicht. Immerhin – sie hatten sich gemeinschaftlich zu einer gewaltigen Stimme erhoben. Bereits im Jahr 2009 räumte der damalige BBC-Chef Mark Thompson ein, dass bei der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalt nicht genügend ältere Frauen zu sehen seien – und er das ändern wolle.13 Um den Zustand zu ändern, stellte er vier Frauen über fünfzig ein. Eine von ihnen, Carole Walker, bezeichnete Thompsons Initiative indes als »reines PR-Manöver«.14 Immerhin: Während Thompson im Jahr 2012 gehen musste, schwingt die 77-jährige Moderatorin Angela Rippon in der BBC immer noch ihr Bein – und moderiert an prominenter Stelle. Hierzulande eher unbekannt ist die Schriftstellerin Ashton Applewhite15 aus New York, die zu einer weithin beachteten Vollzeit-­ Aktivistin, Expertin, Bloggerin und Influencerin in Sachen Altersdiskriminierung geworden ist – 2015 war sie sogar auf der Liste der »Hundert inspirierendsten Frauen für sozialen Wandel«. Eine ähnliche Öffentlichkeit für das Thema ist in Deutschland momentan leider noch schwer vorstellbar. In Bascha Mikas Buch Mutprobe, das im Übrigen kaum noch rezipiert wird, werden die härtesten Aussagen anonym ausgesprochen: Da erzählt eine Moderatorin, wie sie den Druck, der aufgrund ihres Alters auf sie ausgeübt wurde – das Getuschel, die Bemerkungen aus der Maske –, nicht mehr ertragen konnte.16 Bisher wird so etwas in Deutschland kaum öffentlich gesagt. Es sind hier auch kaum Frauen aus den Medien vor Gericht gezogen, Simone Standl ist ein mutiges Einzelbeispiel. Das passt zu den wenig subtilen Mobbing-Signalen, denen Frauen in der Medienbranche ausgesetzt sind, wie Luzia Braun in Mutprobe beschreibt: »Es braucht keine expliziten Ansagen. Die Frauen verinnerlichen den Druck von alleine und es reichen Andeutungen, damit sie die Konsequenzen ziehen.«17 In Deutschland ist das Thema immer noch ein Tabu. Allenfalls sehr prominente Frauen wie Sylvie Meis oder Ulla Kock am Brink äußern sich zuweilen öffentlich. Die

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eine wurde bei der RTL-Show Let’s Dance durch eine 16 Jahre jüngere Kollegin ersetzt und sprach in der YouTube-Show Lasst uns reden, Mädels! darüber, die andere verschwand vor einigen Jahren schlagartig ganz vom Bildschirm. »Alles ist auf jung und gleichförmig ausgelegt«, so Ulla Kock am Brink, im Ausland sei das anders: »In ganz Europa sehe ich Frauen weit über fünfzig, die wie selbstverständlich Quiz­ formate und Unterhaltungsshows moderieren. Nur bei uns nicht.« Als ältere Moderatorin in Deutschland, so Kock am Brink, habe man ­keinerlei Chance.18 Wie dem auch immer sei: Wir brauchen neue Frauenbilder, neue Sehgewohnheiten, neue Vorstellungen von Schönheit, neue Glaubenssätze. Wenn wir sie in Deutschland nicht finden, lassen wir uns eben international inspirieren. Und weil die grandiose Susan Sontag nicht mehr zur Verfügung steht, halten wir uns eben an Asthon Applewhite. Sie sagt, dass wir die Bilder, denen wir vermeintlich unterworfen sind, letztlich als Gesellschaft selbst kreiert haben: Dass Altern bedeute, an Wert zu verlieren, müsse kulturell umgedeutet werden.19 Folgen wir ihrem Beispiel, vernetzen wir uns mit Frauen, feiern wir She She Pop, fliegen wir mit unseren Falten durch den Zauberwald über alle Stereotype hinweg, bringen wir andere Frauenbilder in die Medien, auf die Bühnen, in die Filme: kluge, clevere, selbstbestimmte, fröhliche, starke role models, frei von Scham und Druck. Und hier ist der Punkt, an dem die Kunst, besonders das Theater, ansetzen kann. Fangen wir endlich an.

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1 Mika, Bascha: Mutprobe: Frauen und das höllische Spiel mit dem Älterwerden, ­München 2015. 2 Tscheplanowa, Valery: »Ich begebe mich gern in Gefahr«. Gespräch mit Christine Wahl, in: Der Tagesspiegel, 4. Mai 2018. https://www.tagesspiegel.de/kultur/ theatertreffen-gespraech-mit-valery-tscheplanowa-ich-begebe-mich-gern-in-­ gefahr/21241446.html Zugegriffen: 4. Februar 2022. 3 So geschehen im Juni 2001 in einer Talkshow von Johannes B. Kerner: https:// www.spiegel.de/panorama/brain-trifft-body-alice-schwarzer-versus-verona-feldbusch-a-142318.html. Zugegriffen: 4. Februar 2022. 4 Sontag, Susan: »The double standard of aging«, in: The Saturday Review, 23. September 1972, S. 29 – 38. 5 Penny, Laurie: Fleischmarkt – Weibliche Körper im Kapitalismus, Hamburg 2012. 6 Mika: Mutprobe, S. 30. 7 Ebenda. 8 Ebenda, S. 86. 9 Ebenda, S. 92. 10 Siehe www.kritik-gestalten.de. 11 Mika: Mutprobe, S. 106. 12 Grynbaum, Michael M.: »Five NY1 Anchorwomen Sue Cable Channel for Age and Gender Discrimination«, in: The New York Times, 19. Juni 2019: https://www. nytimes.com/2019/06/19/business/media/ny1-women-anchors-lawsuit.html. Zugegriffen: 4. Februar 2022. 13 »Director general tells BBC bosses to put more older women on screen«, in: The Guardian, 24.09.2009, https://www.theguardian.com/media/2009/sep/24/ bbc-ageism-mark-thompson 14 The Telegraph, 5. April 2011. 15 Siehe beispielsweise This Chair Rocks: A Manifesto Against Ageism. New York 2019. 16 Mika: Mutprobe, S. 100. 17 Ebenda, S. 110. 18 In: Bild am Sonntag, 4. Juli 2021. 19 Vgl. Ashton Appelton: »Let’s end ageism«, https://www.ted.com/talks/ashton_ applewhite_let_s_end_ageism?language=de. Zugegriffen 31. März 2022.

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Ich bin sicher, ich war schon einmal älter – Ich möchte eigentlich gar nicht viel sagen, sondern lieber schnellstmöglich die erzählen lassen, um die es hier geht. – Sie sind da und zugleich nicht da. – Nie da gewesen. – Noch nicht da. Nicht, weil ich SAGE, dass ich ich bin, bin ich ich, nein, weil ich WEISS, dass ich ich bin, sage ich die Wahrheit, wenn ich behaupte, dass ich ich bin. Soviel steht fest, aber – ähm – aber – Sein. Nichtsein. Sein! Wenn ich einatme, atme ich das Sein ein. Das, was wirklich ist. Mit der Luft werden die Stoffe in mein Denken geschleust. Das Sein geht direkt HIER rein! Hier ins Reptilienhirn! Ich nehme es IN MIR auf. Das Entscheidende ist – mhm … Wo war ich …? Ach ja, die Wahrheit – – Sie sind alt und gleichzeitig nicht alt. – Ja, welches Alter haben eigentlich die alten Figuren einer ­jüngeren Autorin? – Vielleicht kommen wir uns entgegen. Sprich, ihre und meine Lebensjahre addiert und durch zwei geteilt. – Vielleicht ist das tatsächliche Alter der Figuren auch nicht so wichtig. – Oder es ist eben gerade wichtig. – Machen die Figuren mich als Autorin reicher an Perspektiven und sind sie vielleicht in manchen Aspekten jünger und mir mehr Schwester als gedacht? – Oder sind sie mir voraus, die eigenen Figuren, nicht nur an ­Jahren, sondern auch an Wissen? – Was weiß ich schon? – Wer spricht, wenn ich sie etwas sagen lasse? Ältere Frauen, die ich im Kopf habe? – Klischees? Potenzielle Vorbilder, die es kaum gibt? – Meine Großmutter und Urgroßmütter? Wer wird sie verkörpern? – Sie werden nicht verkörpert. – Warum nicht?

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– Niemand möchte sie verkörpert haben. – Natürlich will man sie verkörpert haben, aber in der verjüngten Version. – Sag ich doch, eine Verkörperung der Verkörperung. – Der Wunsch nach ewiger Jugend wird mitverkörpert. – Der Wunsch nach dem ewig jugendlichen Körper wird mitverkörpert. – Frauenkörper. – Der alte Körper wird mit einem jungen Körper überblendet. – Das Altern wird zensiert. – Das Alte wird zensiert. – Die Alte. Schauen Sie mit mir ans andere Ufer. Der Blick wird klarer, wenn Sie die Augen dabei geschlossen halten. Stellen Sie sich vor, dort drüben wartet der Tod auf Sie. Nicht Ihr eigener Tod, so weit gehen wir heute nicht, nein, dort wartet der personifizierte Tod. Wie sieht der Tod aus? Ist er männlich? Eine absurde Frage, sicher. Doch in unseren Abbildungen hat der Tod meist ein Geschlecht, haben Sie darüber schon einmal nachgedacht? Früher, in meiner Zeit, in einer alten Zeit, gab es noch den Tod und die Tödin. Ein Todespärchen, das sich gemeinsam den Job teilte. Sozusagen Bonnie und Clyde des Volksglaubens. – Bedeutet jetzt alt und weiblich sein schwach zu sein? – Mag sein. Nein, eigentlich nicht. Aber falls doch: Heißt das dann, dass Schwäche auf der Bühne nicht gezeigt werden soll? Das wäre mir aber neu … das Theater ist doch so stolz auf seinen Auftrag, den Finger in die Wunde zu legen. – Die Wunde muss anscheinend frisch sein. – Wegen dem Theaterblut? – Vielleicht. Das ist halt effektvoller. – Was ist mit den sprichwörtlichen alten Wunden, die wieder aufreißen? – Gute Frage. – Generell ist es natürlich einfacher, sich mit Stärke statt mit Schwäche zu identifizieren. Jung ist besser als Alt. – Ach ja? – Aber wieso verbinden wir mit Alter keine Stärke? Als wäre es nicht verdammt hart gewesen, so weit zu kommen – ohne zu sterben. Als bräuchte es keine Willenskraft, es all die Jahre auszuhalten.

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– Ja. Aber Grausamkeit ist anziehend, Schmerz hingegen nicht. – Magst du einen Tee mit mir trinken? – Gerne. – Ich habe aber nur Blasen- und Nierentee da. Leber- und Gallentee. Kamillentee. Frauentee. – Danke, dann lieber nicht. – Siehst du. – Mhm? Es ist ja immer so still – wenn keine was sagt. Manchmal, wenn man lange schweigt und dann den Mund leicht öffnet, riecht es nach Erde. Muffig, ja. Aber anders. Wir erkennen den Geschmack von früher mit der Zunge von heute und den neuen mit der von gestern. – Und wer hat jetzt noch mal gesagt, dass Alter mit Schmerz einhergeht? Warum nicht mit Grausamkeit, mit Lässigkeit, mit Stärke! Nimm etwa Agnes und Alithea, das sind zwei Theaterfiguren aus Stücken von uns, die es gibt und die doch selten vorkommen. Die eine ist dement und gibt vor, eine Göttin zu sein, vielleicht ist es aber auch genau andersherum. Die andere kümmert sich bis zur Selbstaufgabe um andere, das heißt nein, eigentlich ist ihre Fürsorge tödlich. Es spielt auch keine Rolle, da sie eine Rolle spielen. – Sie sind Hauptrollen. Könnten es jedenfalls sein, sind es aber wie gesagt selten. Welchen interessanten älteren weiblichen Rollen – neben Claire Zachanassian in Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame – kennt man denn aus dem sogenannten klassischen Kanon? – Ist diese Claire eine interessante Rolle? – Dann vielleicht lieber die Amme in Romeo & Julia? Was gibt es da sonst noch? – Großmütter. Namenlos. – Sehen Sie. – Sie sehen sie eben nicht. – Warum will sie niemand sehen? – Wen? – Sehen Sie. – Wir können sie, die wir nicht sehen wollen, nicht kennen.

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– Würden wir sie denn mögen, wenn wir sie kennenlernen ­würden? – Klar! – Oder wir haben womöglich Angst vor ihnen. – Nicht vor ihnen, nur vor dem, was sie uns voraushaben. – Die Lebenserfahrung? – Wer sagt, dass ältere Frauen reicher an Erfahrungen seien? – Warum reden wir immer nur über die älteren Frauen? Was ist mit den älteren Männern? – Wir reden über die, die wir nicht sehen. – Nicht mehr sehen. – Noch nicht sehen. – Es geht ums Überleben – Oder ums Sterben. Wir überleben doch schon viel zu lange. Irgendwann ist doch auch mal gut. Nach all diesen Millionen von Jahren. Irgendwann dürfen dann doch auch mal die nächsten. Wir sind ja schon ganz staubig, so lange sitzen wir hier schon rum – Warum mögen wir das Alter nicht? – Wir mögen den Tod nicht. – Aber wir mögen doch den Tod. Junge Frauen sehen wir gern auf der Bühne sterben. Darüber wurden bereits ganze Bücher geschrieben. Der Tod und das Mädchen. Das Trauerspiel. – Alte Frauen hingegen … – Sehen wir nicht sterben. Weder freiwillig noch unfreiwillig. Leben sehen wir sie aber auch nicht. – Wir wollen ihr gemächliches Sterben nicht sehen. – Das unser eigenes Sterben ist. – Weil ich dann eigentlich über meine eigene Zukunft als alte Frau schreiben würde. Über mein eigenes Altern. Über mein eigenes Ende. Und damit auch über Ihre Zukunft, Ihr Alter und Ihr Ende. Als ich lernte in die Zeit zu schauen Nicht nur zurück, sondern auch nach vorn Und kommen sah, was ihr nicht wissen wollt Dieses Schwimmen – Nun, erst einmal schreiben wir doch über die Gegenwart. – Aber wie verändere ich die Vergangenheit und ihre Wirklich-

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keit, wenn ich sie in der Gegenwart aufschreibe? – In welche Zeit schreiben wir uns hier eigentlich hinein? Ist das überhaupt unsere Zeit? – Wem gehört die Zeit? – Wem gehört die Bühnenzeit? – Im Publikum, da sitzen der älteren Menschen viele. – Außer bei den Schulvorstellungen morgens. – Abends, da sitzen die Alten in den weichen Sesseln und nicken mit den Köpfen. – Warum ist das ein Problem? – Ich habe nicht gesagt, dass das ein Problem ist. – Aber fühlt sich das ältere Publikum überhaupt angesprochen? Sind die Spielpläne für sie gemacht? – Klassisch gleich alt. – Konservativ gleich alt. – Das ist auch ein gemeines Vorurteil. – Man wünscht sich aber doch ein jüngeres Publikum. – Man könnte. – Könnte schon. – Klar, könnte man auch. – Als Möglichkeit. – Die mit dem Abonnement. – Ernstnehmen als Zielpublikum. – Vielleicht magst du doch ein Schluck Blasen- und Nierentee? – Was hast du immer mit dem? Warum trinkst du das Zeug überhaupt? – Blasenentzündung. Darüber gibt es auch keine Stücke. – Anderes Thema. – Ach ja? – Von meiner Mutter weiß ich, denn sie ist Psychogerontologin, dass chronische Blasenentzündungen zu dementen Zuständen führen können. Vor allem im Alter. – Ach ja? – Oder ist das auch ein anderes Thema? – Also mit meinem EIGENEN Altern habe ich keine Probleme, aber mit dem Altern der ANDEREN. Das Altern der anderen stimmt mich irgendwie traurig – Wie traurig? – Punktuell, wie wenn jemand mit kleinen Nadeln in meine Rinde sticht, manchmal merke ich es, manchmal nicht.

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– Vielleicht weil man das eigene Sterben ja sowieso nicht bemerkt, aber das schleichende Sterben der anderen sehr wohl? – Genau genommen sterben wir doch mit jedem Atemzug. Unsere Zellen sterben ab und erneuern sich, die ganze Zeit. Und irgendwann bauen wir einfach mehr Zellen ab als auf. Es ist ein steter Prozess. –E in Zyklus. So wie bei den Eizellen. – Und ab so ungefähr vierzig … – Verschwinden die Eizellen. Erst werden sie weniger, dann bleiben sie ganz aus. – Wie die alten Frauen auf der Bühne. – Wie die Figuren für älteren Schauspielerinnen. – Spielen die Eizellen eine Rolle? – Oder ist es ein Zufall. – Es gibt diese traurige Idee der nicht mehr fruchtbaren und deshalb nutzlosen Frau. – Was verschwindet eigentlich zuerst? Die Schauspielerinnen über vierzig oder die interessanten Frauenfiguren? – Frau oder Ei? – Diese Fragen, führen die irgendwohin? Mit mir hat das nichts zu tun. – Sicher? – Ich glaube, meine Figuren sind immer uralt, kommen aus irgendeinem Urmeer, sind schon Jahrhunderte herumgetrollt. – Oder tragen verschiedene Alter in sich? – Kann man Figuren schreiben, die alle Alter in sich tragen? – Warum sollte man. – Zum Beispiel: Kann eine reife Figur – – Was heißt reif? Älter? – Kann also eine reife Figur unschuldig sein? Ich bin sicher Ich war schon einmal älter Als ich es jetzt bin Die Evolution ist recht schnell vonstattengegangen Ich muss sagen, ich habe fast nichts davon mitbekommen Mir ist, als käme ich nun nicht mehr vom Fleck In dem, was man Zeit nennt Weil sich um mich herum kaum mehr etwas bewegt Obwohl ich früher einmal die Schnellste war

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– Ich finde es traurig, dass ich jetzt noch viele sein darf – und irgendwann nur noch wenige. – Aber dürfen wir nicht auch jetzt schon nur mittelviele sein, als Frauen? – Und irgendwann sind unsere Rollen, auch die gesellschaftlichen, so begrenzt. – Die Fische im Aquarium werden immer weniger. – Ja, so ähnlich. – Oder wir angeln immer dieselben gesellschaftlichen Zuschreibungen. – Vielleicht sollte ich den Angler*innenschein machen. Wobei ich Mühe hätte, einem Fisch mit dem Stock auf den Schädel zu hauen. – Bis er tot ist. – Oder sie, die Fischin. – Ich will keine Fischin umbringen. – Aber würde es helfen, wenn wir uns die älteren Frauen vermehrt als Mörderinnen vorstellen? – Wem oder was soll das bitteschön helfen? – Es würde helfen, wenn die älteren Frauen mehr Handlungsspielraum haben. – Aber es hilft nicht, wenn die Handlungen aus Verbitterung passieren. – Ein Schluck Leber- und Gallentee? Ist gut für die Verdauung. Glaubst du, sie lügen mich an? Nein, aber sie erzählen sich gern Geschichten. Man muss sich selbst eine Burg sein. Ich kenne die Leute im Dorf, sie sind, wie sie sind, und jetzt verblöden sie noch mehr. Jede Beerdigung ist eine Befreiung. Jede Beerdigung? Hörst du dir eigentlich selbst zu? Ach, immer weg mit Schaden! – Wie prägt mich die Sprache einer anderen vorausgegangenen Generation, wenn ich beginne, mich in ihr auszudrücken? – Du konnotierst sie automatisch anders, indem du sie jetzt benutzt. – Oder reproduziere ich sie? – Wir sind alle ständig altersdiskriminierend – und merken es nicht einmal. – Aber gibt es das auch umgekehrt? – Wie meinst du?

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– Manchmal fühle ich mich meinen Studierenden gegenüber auch ein wenig überlegen, und die sind ja nur ein paar Jahre jünger. – Wir gelten aber alle noch als jung, du, die Studierenden, ich. – Wir dürfen als Frauen untereinander keinesfalls missgünstig werden, egal in welche Altersrichtung. – Warum nicht? Warum sollte ich die Frauen mehr schonen als die Männer? – Reden wir jetzt über Geschlechterdiskriminierungen oder übers Altern? – Das geht Hand in Hand. Ein paar Kinderkörper gebadet Aufgeräumt, nachdem sich ein paar Kinderkörper selbst gebadet hatten Selbst gebadet Wasser aufgesetzt Der Schmidli einen Tee gebracht Dem Meyer einen Tee gebracht Selber Tee getrunken Während des Stopfens der Socken Eingeschlafen Und dann und wann eine Niederkunft Im Ehebett – Denkst du, eines Tages spielt das Alter keine Rolle mehr? – Aber ist es das Ziel, die Differenzen auszulöschen? Ich erinnere mich gerade an die feministische Philosophinnen-Gemeinschaft Diotima. Die glauben an die Kraft von ungleichen Beziehungen zwischen Frauen. – Affidamento. – Sie glauben, dass wir gerade wegen unserer Differenzen voneinander lernen können. – Das Alter ist immerhin eine konstante Ungleichheit, mit der wir umzugehen lernen müssen. – Und wenn du jetzt noch das biologische Alter deiner Zellen dazunimmst (da sind sie wieder, diese Zellen!), dann wird es gänzlich kompliziert. Vielleicht sind meine Zellen aufgrund chronischer Blasenentzündungen ja schon kurz vor der Demenz und mein eigentliches Alter, biologisch gesehen, ist circa fünfzig. – Und würde das jetzt etwas ändern?

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– Nicht wirklich. Obwohl. – Ich habe bei meinen Figuren auch noch nie zwischen tatsächlichem und biologischem Alter unterschieden. Sollte ich vielleicht mal. – Das könnte man dann fein säuberlich bei den Dramatis Personae auflisten: Agnes, Alter in Jahren 92,4; biologisches Alter 74,6. Und ist man, wenn man in Neuseeland aus dem Flugzeug aussteigt, zwölf Stunden jünger als vorher? Ich glaube älter Aber das ist nur das eine, das andere ist – Fitnessstudio, Agil ins Alter, Zumba Kann ich jetzt bitte noch einen Schluck Cognac haben, ohne dass mir die Pflegeassistentin nachher den Nachtisch kürzt? Sowieso habe ich Lust, am immer gleichen Ort zu stehen Ob mit Rollator oder ohne Genau, hier beweg ich mich nicht mehr weg Die Füße wie zwei Klötze Von mir aus können die am Boden festgeschraubt sein, von mir aus kann da Regen, kann da Sturm kommen Vulkanausbruch Und ich strecke meine Äste der Sonne entgegen FEEL FREE Und wenn ich Lust drauf habe, werde ich hundert Jahre alt Ich bin nicht alt, es gibt immer noch ältere Wer hat hier was von alt gesagt? Das Alter ist mir Hans wie Heiri – Oder: Alter scheißegal, aber bitte nicht mit einer jungen Schauspielerin besetzen. – Also Jugenddiskriminierung. – Genau. – Mhm. – Ich mache das mittlerweile beim Schreiben. Wenn es eine Figur gibt, bei der ich noch unschlüssig bin, welches Geschlecht und Alter sie haben soll, dann lasse ich sie alt und weiblich sein. Eine Art Ausgleichsmechanismus. – Ein Beitrag zur Diversität? – Ja, warum nicht. – Vielleicht interessieren dich die älteren Frauen einfach mehr.

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Immerhin sind da noch viele Bedeutungslücken, die du beschreiben kannst. – Und dadurch wird die Theaterlandschaft ein kleines bisschen besser und vielfältiger. – Zugleich gefällt mir dieser Optimierungsgedanke daran schon wieder nicht. – Warum dieses Unbehagen? Wer hatte eigentlich diese schreckliche Idee, dass man sich immer weiterentwickeln muss, dass man grösser oder kleiner, schneller oder besser werden muss? Dass man Schwimmhäute braucht oder diese Säbelzähne? Dass es so etwas wie Evolution geben muss? – Jugendwahn ist auch Optimierungswahn. Wenn ich nichts arbeite, bin ich auch nichts wert. – Der Diskurs ist alt. – Und deshalb unbeliebt? Unsichtbar? – Deshalb umso mächtiger. – Aber diese Verbindung von Jugend und Arbeit als Fundament deines gesellschaftlichen Nutzens und deiner Identität, das ist noch ein recht junger Gedanke. Historisch gesehen. Oder doch nicht? – Nun, gerade wenn man bedenkt, dass du dein Selbstwertgefühl durch deine Selbstverwirklichung im Beruflichen gewinnst, besonders ja in diesen künstlerischen Berufen gewinnst, und du dann als Frau sowohl nicht mehr vorkommst auf und hinter der Bühne ab einem gewissen Punkt und in der Öffentlichkeit auch nicht mehr, da trifft sich schon was sehr ungünstig. Du wirst nicht mehr repräsentiert auf diesen Brettern, die sonst was bedeuten sollen und im Café übersehen dich selbst die Kellner*innen. Dabei könnte man doch auch sagen: Hello Wechseljahre – ich bin raus aus dem Hormonzirkus und nun frei für was Neues. – Ja, wo sind diese Stimmen? – Wo sind diese Frauen? – Hallo? – Haaaallllooooo?! – Diese ganze Zeitverschwendung, die Zeit aufzuhalten – Der Lauf der Dinge – KANN ICH JETZT BITTE IN RUHE ALTERN?

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– Aber es gibt sie doch. – Ja, sie sitzen im Publikum. Sie sind die Sprecherzieherinnen, nachdem ihr Vertrag nicht mehr verlängert wurde. Sie kommen in der ersten Version des Opern-Librettos noch vor, aber dann wollte man doch lieber die junge Geliebte als weibliche Hauptfigur. Ältere Sängerinnen gibt es nämlich nicht im festen Ensemble und Gäste – tja … die kosten Geld. – Warum sind die festen Ensembles der Stadt-, Staatstheater und Opernhäuser eigentlich immer zu zwei Drittel Männer und nur zu ein Drittel Frauen? – Na, die Schauspielerinnen kriegen irgendwann Kinder. – Ach, die Schauspieler nicht? – Nein. Nicht so. – Wie dann? – Mensch, Männer sind doch quasi nur so ein Drittel Vater, aber zwei Drittel Schauspieler. – Aha, und bei den Frauen ist andersherum? Das würde jedenfalls die Ensemblezusammensetzung erklären. – Und warum da mehr ältere Typen sind als Frauen. – Zu wie viel Drittel bin ich eigentlich kinderlos? Ich war zuerst da. Ich war mutterseelenallein und gänzlich zufrieden damit. Es gab eine Steppe, durch die man lange gehen konnte, ohne dass sich einem ein einziger Baum in den Weg stellte. Ich schlief nicht in Löchern, sondern unter der aufgehenden Sonne, folgte ihrem Licht und kam ihr jeden Tag ein Stückchen näher. Hie und da eine Wüstenspringmaus, manchmal der Wind, der die Sandkörner in unendlich vielen neuen Kombinationen stapelte. Als ich diese Eier legte, als sie einfach aus mir hinauspurzelten, da wollte ich mich eigentlich gleich davonmachen, wollte weiterziehen, schließlich hatte ich die Sonne noch nicht erreicht. Ich habe sofort gewusst, dass die Eier mich nicht brauchen, habe gewusst, dass ich diese Eier nicht brauche. Ich habe es trotzdem nicht geschafft zu gehen. Also bin ich geblieben und habe zugeschaut, wie aus jedem einzelnen Ei etwas schlüpfte. Das sind meine Kinder. –M utterschaft, oder don’t go there? – Immer diese Tabus! – Ist es noch zu früh für ein Glas Wein? – Oder schon zu spät? – Vor kurzem las ich, dass wir Menschen zu den sehr seltenen Spezies gehören, deren Weibchen schon so früh unfruchtbar

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werden. Andere Arten, deren Weibchen sich nicht mehr fortpflanzen können, sterben dann eigentlich recht bald. Es braucht sie ja nicht mehr. – Warum ist das bei uns anders? – Eine Erklärung ist, dass wir die älteren Weibchen brauchen, um der restlichen Horde wichtiges Wissen zu vermitteln. Die älteren Frauen sind quasi die Wissensspeicher der Menschheit. Evolutionär betrachtet würde das wohl am ehesten Sinn ergeben. – Ergibt Evolution Sinn? – Maikäfer, flieg … Der Vater ist im Krieg … Die Mutter ist in Pommerland … Pommerland ist abgebrannt … Eigentlich kein schönes Lied. Mein Mamachen hat’s uns oft vorgesungen. – Und du hast es meiner Mutter vorgesungen. – Sicherlich nicht. Solchen Erinnerungen war sie gar nicht gewachsen. Zu sensibel das Kind. Mochte ja nicht mal essen, als es endlich wieder was gab. Immer das Theater am Tisch, die Erbsenpulerei. Deine Mutter wusste gar nicht, wie gut wir’s hatten. Hat ihr alles nicht geschmeckt, hat alles wieder ausgespuckt. Wieder und wieder musste ich sie damit füttern. – Was? Womit? – Na, mit dem Erbrochenen. – Nein! – Doch. – Wollten wir nicht eigentlich unsere Figuren für sich sprechen lassen? Die älteren Frauenfiguren, die wie ein goldener Faden durch unsere Texte mäandern? – Sprechen sie nicht längst? – Durch uns? – Unser Gespräch wäre ohne sie gar nicht zustande gekommen. Wir beide würden uns gar nicht kennen ohne diese Frauenfiguren. – Sie haben Ähnlichkeiten, manche von ihnen. – Mindestens eine von ihnen ist durch meine Urgroßmutter geprägt. – Wie hieß deine Uroma? – Wanda Luise. – Ein schöner Name. Ich weiß nicht einmal, wie meine Uroma hieß.

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– Die Namen dieser Generation werden ja gerade wieder beliebt. – Clara. – Alma. – Oskar. – Emil. – Theo. – Gerda. – Naja. Die Namen dieser Generation kann man eben so schön sentimental romantisieren. Aber wo ist Sabine, wo ist Petra, wo Susanne und wo Claudia …? Sie ist verdeckt Immer steht etwas im Weg Sodass nur Ausschnitte zu erhaschen sind Gehört dieser Ellenbogen zu mir Und diese Nasenspitz Lange habe ich mich geduckt Damit kein Augenpaar mich zu erhaschen in der Lage ist Wer deckt mich zu Wer deckt mich auf Wer hört mir zu Wenn nicht damals Dann wenigstens jetzt Wer etwas sagen darf Dem fällt das Wahre zu Auch wenn die Worte nur gelegt werden in meinen Mund Wie farbige Dragées Blau rot grün gelb sprudelnd Die wahre Farbe bleibt uns verwehrt

Mit Ausschnitten aus den Stücken Gloria, Maikäfer, Freund Hein. Ein Audiowalk mit dem Tod, Verdeckt, Die toten Freunde (Dinosauriermonologe) sowie Wer ist Walter von Ariane Koch und Hannah Zufall. © Ariane Koch, Aufführungsrechte bei Felix Bloch Erben GmbH & Co. KG, Berlin

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Von einer, die auszog, sich neu zu erfinden

Handschrift, Werk, Archiv

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Von einer, die auszog, sich neu zu erfinden Weil es in diesem Buch bisher nun so oft um die Vergangenheit ging, stelle ich mir hier einmal vor, wie Zukunft aussieht. In Actionfilmen und ebensolchen Spielen kommt sie immer von vorne. Die Heldin oder die Spielerin sieht immerzu gewaltige Felsbrocken, Monster, Lawinen auf sich zurasen. Dagegen hilft nichts, außer entweder als Ego-Shooter alles abzuknallen oder ein Spiel zu spielen, das ich seit Kindertagen kenne: das Hakenschlagen, auch Hasenschritt genannt. Es geht um ein schnelles Ausweichen vor den Gefahren, die von vorne, aus der Zukunft, die Gegenwart bedrohen. Ich habe das irgendwann in meiner Arbeit als Tanz-Regisseurin durch ein Wort verstanden, das es so nur im Deutschen gibt. Die Notwendigkeit. Ich meine, es ist die Not, die wendig macht. Diesen wendigen Hasenschritt, um nicht erschlagen zu werden, halte ich für den wichtigsten Tanzschritt überhaupt. Während die Zukunft uns fleißig wie ein Computerspiel immer neue Bedrohungen am Fließband produziert, Überschwemmungen, Dürren, Tsunamis, Kriege, Hackerangriffe, Meteoriten, Viren, Putsche, Erdbeben – also das ganze Programm der alltäglichen Nachrichten –, werden wir von den Moralisten damit beschäftigt, die Schuld an alledem immer wieder bei uns selbst zu suchen. Wir könnten genauso gut auch nur weiter tanzen, als wäre nichts davon geschehen. Oder wir könnten uns einfach umdrehen und der Vergangenheit dabei zuschauen, wie sie ebenso verlischt, wie die Erinnerungen an all die alten Tänze allmählich, aber unaufhaltsam verblassen. Um diesen Alterungsprozess irgendwie aufzuhalten, hat der Mensch die Retrospektive erfunden. Ich war sehr erschrocken, als man mir schon 1999 den Wunsch antrug, eine solche Retrospektive meines Werkes auszurichten. Acht Jahre Helena Waldmann. Ich habe gelacht. 2016 wären dann wohl »25 Jahre Helena Waldmann« fällig gewesen. Ich habe schlicht vergessen, mich selbst zu feiern. Als ich 2010 ein Stück über Demenz und das Vergessen machte – das Stück hieß »­revolver besorgen« – hatte ich die Idee, ein Buch herauszugeben, das dieses und meine Werke bis dato verzeichnet und kommentiert hätte. Der Band sollte »Vergesst Helena Waldmann« heißen. Um sicherzustellen, dass der Titel ernst genommen wird, bat ich den Verlag, das Buch auf garantiert nicht haltbarem Papier zu drucken, sodass die Käufer in spätestens zehn Jahren nur noch einen Haufen Papierkrümel im Schrank stehen hätten. Der Verlag lehnte mein Ansinnen ab; er

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hatte gerade von der Deutschen neuer Lieblingsvokabel gehört: der Nachhaltigkeit. Ich persönlich pflege einen nachhaltigen Lebensstil, auch wenn ich ihn nicht so nennen würde. Eher halte ich mich für bescheiden, führe ein komfortables, aber kein Luxusleben und verschwende so wenig ich kann. Nur eins habe ich nie verstanden: Wie es zu dieser kulturell entsetzlichen Verwechslung kommen konnte, dass man eine Bescheidenheit im Konsum mit dem Recycling von ephemeren Kunstwerken gleichsetzen will? Ein Tanzstück entsteht – hoffentlich – aus einem ganz bestimmten Grund in einer bestimmten Zeit mit den Mitteln aus jener Zeit und für ein Publikum, das in dieser Zeit auch lebt und denkt, was diese Zeit nun mal so denkt. Dass nun eine Choreografin ihr einmal geschaffenes choreografisches Werk noch mal und noch mal verkauft, halte ich zwar für legitim. Auch, dass sie ein Repertoire bildet, finde ich in Ordnung. Meine Frage ist nur, warum ein bestimmtes Werk zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt auch entstehen … musste? Denn nur zu diesem Zeitpunkt ist dieses Stück gereift. Nicht später und auch nicht früher. Stücke entstehen oft aus einer Ahnung, nicht planmäßig, auch nicht am Reißbrett, auch nicht in der Wiederholung eines Stils oder einer bewusst benutzten Handschrift. Mein letztes choreografisches Werk, das ich unter alten Bedingungen vor der Pandemie auf die internationale Tournee-Bühne gestellt habe, hieß Der Eindringling. In diesem Werk geht es um einen Tänzer, der als Eindringling in eine Gemeinschaft eindringt und diese zu Reaktionen veranlasst, die – sähe man dieses Stück noch einmal – an Autoimmun-Reaktionen und an Mutationen denken lässt, also genau an die Folgen, die unsere Kultur angesichts der globalen Pandemie samt Klimaerwärmung jetzt erlebt. Dieses Stück kam jedoch bereits am 8. Juni 2019 auf die Bühne, exakt ein halbes Jahr vor der Nachricht, dass Covid-19 am 7. Januar 2020 als ein potenziell weltumspannender Krankheitserreger anerkannt worden ist. Bis zu diesem Zeitpunkt ließ sich Der Eindringling von einem in dieser Hinsicht unverdorbenem Publikum in jedwede Richtung lesen: als ein Werk, das auf Vertriebene abzielt, auf die Frage nach dem Sinn von Grenzen, deren Verletzlichkeit und die der eigenen Person. Würde dieses Werk nur drei Jahre oder noch später abermals zu sehen sein, es wäre kein Kunstwerk mehr, das etwas ahnen ließ, sondern eine schrecklich geschmacklose Illustration des Virus auf dem Marsch vom Fischmarkt in Wuhan zu den Intensivstationen sämtlicher Metropolen dieser Welt. Zwar ist nichts davon in diesem Tanzstück auch nur angedeutet. Aber man kann dem Publikum, nachdem es von diesem

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Wissen nun mal »infiziert« worden ist, nicht eine einzige Sekunde länger zumuten, dass es seine zum Teil auch desaströse eigene Erfahrung und Kenntnis nicht mit ins Stück hineinträgt. Darum möchte ich keine Wiederaufnahme, keine Repertoirebildung, keine Reanimation. Ein Revival würde durch diese Infektion all das verlieren, was es vor Jahren noch zu einem Kunstwerk hat werden lassen. Es war eben eine Ahnung, nur eine Ahnung, und dieses Ahnen ist wohl nicht umsonst doppeldeutig; meint es doch auch die Ahnen, die Vorfahren, gleich mit. Ja, wir machen im Grunde alle nur Ahnenkunst. Anders als andere Säugetiere benötigen wir dafür rund dreißig Jahre unseres Lebens, um die Erkenntnisse der Ahnen anzuerkennen, zu verstehen und auf unser eigenes Leben und Arbeiten so anzuwenden, dass wir – nach einem gefühlten Drittel unseres Daseins – uns davon auch ernähren können, indem wir diesem Ahnenkult unseren eigenen Anteil hinzufügen: unsere Werke. Doch unsere Werke, wenn sie denn Bedeutung haben sollten, erlangen diese Bedeutung sonderbarer Weise nie dadurch, indem wir die Ahnen wiederholen, sondern indem wir etwas … selber ahnen. Man nennt das: »zeitgenössisch«. Aber zeitgenössisch sind wir allein zu der Bedingung, dass wir etwas Altes überwinden, so wie der Wasserstoffantrieb nun all die fliegenden Kerosinschleudern überholen will und die Windenergie den Atommeilern unserer Eltern und Großeltern das Fürchten lehren soll. Oder queere Performer*innen nun die Macht der alten, weißen cis-Choreografen brechen, und so weiter, und so weiter. Genauso begegnet man der Zukunft. Natürlich gibt es für die Zukunft eine Plattform, das Hier und Jetzt eben, gebaut aus einem Erbe. Zu diesem Erbe hat sich vor ein paar tausend Jahren ein Meister namens Aristoteles so seine Gedanken gemacht. Sinngemäß schrieb er: »Im Grunde ist die Aufführung überflüssig.« Die Aufführung hat nie Bestand, auch nicht die Art, wie getanzt oder gesungen wurde. Allein welche Botschaft sie enthält, die bis ins Jetzt durchklingen kann, darum ging es ihm. Natürlich hatte er dabei einen Hintergedanken: Er überlieferte seine Erkenntnisse mit der paternalen Lust der alten Griechen, die ihre Gesetze in die nächste Generation tragen wollten. Es war ihnen egal, wie die Nachkommen ihre Gesetze interpretieren würden; wichtig war, dass die damals anerkannten Gesetze und Regeln weiterleben. Daraus ist nun, 2300 Jahre später, eine ganze Industrie erwachsen, das Buch-, Dokumentar- und Archivwesen, dessen Anspruch quasi als Wikipedia der Kulturen nichts weniger als das »Überleben« dieser Kulturen in alle nachfolgenden Generationen hinein darstellen soll – was man sich in Form von Theatern, Bibliotheken, Museen, Schulen

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und Akademien immerhin ein paar Prozent des Bruttoinlandsprodukts kosten lässt. Also machen wir immer weiter. Die Bühnen machen immer weiter, der Kanon macht immer weiter, die Gesetze machen immer weiter und so weiter. Aber mit Blick auf die Zukunft: Reicht uns das? Mir nicht. Da ich nicht Aristoteles bin und auch keinen Ehrgeiz habe, ein Lebenswerk für das ordnungsliebende Archivwesen zu schaffen, fühle ich mich frei genug, etwas zu tun, was manche für abwegig halten: Ich traue meinem Publikum. Es erstaunt mich weit mehr, als ihm gemeinhin zugebilligt wird. Das Publikum! Wer sieht denn ein Tanzstück unvoreingenommener als jene, die von einem Stück offenbar so überrascht sind, dass sie in ihren je eigenen Worten, aus ihren je eigenen Blickwinkeln, mit ihren je eigenen körperlichen Erfahrungen und durch ihre je eigenen Hintergründe Schnipsel, kleine Szenen oder Details als wichtig wahrgenommen haben? Diese manchmal winzigen Momente sind ihnen wichtig geworden. Und werden es bleiben. Dieses Verteilen eines Stückes auf so viele Perspektiven hat zur wunderbaren Folge, dass mein Archiv in Hirne in ganz Europa, Asien, Afrika, Nord- und Südamerika verteilt wurde – wo immer uns Produktionen und Tourneen hingeführt haben. Ich kann diesem Archiv trauen, wenn ein Redner vor versammeltem Publikum der Tanzplattform Deutschland 2020 sich an mein Stück vodka konkav erinnert, das er 22 Jahre zuvor in München gesehen hat. Oder ich vor kurzem einen iranischen Regisseur in Berlin traf, der sich an das Stück Letters from Tentland erinnerte, das er im Jahr 2005 in Teheran gesehen hatte und behauptete, es sei »heute noch im Iran lebendig«. Das bedeutet mir weit mehr als zu wissen, dass irgendwelche Notate zum Stück in irgendwelchen Archiven in Sicherheitsverwahrung genommen worden sind. Einschub aus meinem Erinnerungsarchiv: São Paulo. Wir spielen Letters from Tentland, ein Stück von und mit sechs Performerinnen aus Teheran. Das Stück bestand aus zwei Teilen, im ersten tanzten und performten die Iranerinnen auf der Bühne, gekleidet in einem Tschador, sprich: jede in einem mobilen Zelt. Es war ein trickreiches Stück, das in einem Land entstand, in dem das Tanzen für Frauen in der Öffentlichkeit, auch der des Theaters, verboten ist. Die politische Zensur wurde mein liebster Gegner. Im zweiten Teil wurden nur die Frauen im Publikum von den Iranerinnen gebeten, hinter den Vorhang zu kommen, um sich mit ihnen Tee trinkend auszutauschen. Eine Brasilianerin, die den mit Kopftuch und langärmeligen Oberteilen bedeckten Iranerinnen gegenübersaß, sagte auf einmal: »Der Zwang für euch Iranerinnen, euch nur stark bedeckt

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öffentlich zeigen zu dürfen, entspricht doch genau dem Zwang für uns ­Brasilianerinnen, uns so unbedeckt wie möglich zu zeigen. Auch wenn das in keinem Gesetz steht – es wird praktiziert.« Niemand von uns hatte das je zuvor so betrachtet. Das Publikum ist nicht nur Zeuge, sondern allein dieses – lebendige – Publikum ist es, das das Theater in die Gesellschaft hinein weiten kann. Da gehört das Theater meiner Ansicht nach auch hin, und von dort nur – glaube ich zumindest – kann es seine Glaubwürdigkeit beziehen. Nur in der Konfrontation mit der Realität, und eben nicht mit Mythen, Lebenden, alten Gestalten, die zu Prototypen geronnen sind, lässt sich das Theater in eine Zukunft hinein entwickeln. Deshalb hatte ich mich auch aus dem Stadttheater verabschiedet. Wie auch könnte man sich, um meinen ersten Gedanken wieder aufzunehmen, in einem Stadttheater einer anderen Not aussetzen als der seiner Hierarchie? Das Theater ist im »Dienste des Publikums« ein derart behördlicher Apparat, dass mir als Künstlerin an diesen Orten kaum etwas anderes mehr eingefallen wäre, als eben dieses hierarchische Gebilde zwischen all den Gewerken, zwischen Stars und Eleven, zwischen Dramaturgie (Leitung) und Darstellung (Dienstleistung) als eine choreografische Absurdität zu inszenieren. Ich hätte wohl genüsslich lauter Innenansichten gezeigt, die dieser Illusionsbühne zur kulturellen Erziehung der Bürgerschaft die Hosen herunterzieht. Das Stadttheater erschien mir wie ein Industriebetrieb, der die Welt nicht anders verbessern will und kann, als jede andere Industrie auch. So ging ich in die Freie Szene, die sich mangels besserer Vorbilder selbst an den Strukturen großer Häuser orientiert, mit nur teilweise anderen Berufsbezeichnungen. Wer da heute Kuratorin ist, kauft ein auf einem Markt, wie andere ihr Gemüse: lauter von Steuergeldern geförderte Kohlrabi oder Kunst. Wobei die kluge Hausfrau sehr auf das Etikett achtet, auf regionale, gesunde Ware, genauso wie Produktionshäuser der Freien Szene weniger Appetit auf kräftige Kunst haben, sondern achten sollen auf die korrekte Diskurs-Pflege, viel Bodenhaftung, wenig Flugkosten, viel Recycling – so ziemlich das Gegenteil meiner Arbeit in Bangladesch, wo Textilarbeiterinnen gegen das ausbeuterische Engagement von kik, H&M oder Tchibo und für ihre Rechte so kämpfen, wie auch hierzulande die Freie Szene sich unter kargen und ausbeuterischen Bedingungen um ihr Freisein kümmert. Made in Bangladesh hat eine Welttournee erlebt, und Aufzeichnungen wurden in Ausstellungen gezeigt – denn nebenbei gab es ewige Streitigkeiten um Visa mitten in der Hochphase der Flüchtlingsströme– aber gleichgültig, wie es um die Brisanz des Inhalts bestellt

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war: Die Flugscham, die Debatte um Kulturelle Aneignung und ­schließlich Covid schob dem »Eindringen« in anderer Leute Kultur den Riegel vor. Einschub aus meinem Erinnerungsarchiv: In Dhaka bei der Vorstellung von Made in Bangladesh sitzen Arbeiterinnen im Publikum, die den Einsturz der Tazreen Nähfabrik 2013 in Dhaka überlebt haben. Eine der Arbeiterinnen, die »nur« ihren linken Arm verloren hat, bestätigte nach der Vorstellung vehement die Aussagen ihrer Kolleginnen, die in einer Szene projiziert an der Rückwand stand: »Don’t boycott our products«. Den meisten Zuschauerinnen in Europa oder Amerika kam genau diese Aussage besonders absurd vor, waren sie doch mehrheitlich der Meinung, nicht die Emanzipation der Frauen in Bangladesch zu gefährden, sondern allein den Importeuren von Billigklamotten wie Primark & Co schaden zu wollen. Heute erfinde ich mich neu. Das mag sonderbar klingen im ­Kontext dieser Publikation, die vom Altern der Alten spricht. Aber was soll man machen? Nach Asien gehen, wo es diese seltsame Altenverehrung gibt? Wo Schüler in der U-Bahn einer sportlichen Dame wie mir ungefragt ihren Platz anbieten? In Asien, denke ich, hat man den Jungen von Beginn an eingebläut, dass Alte einen Erfahrungsschatz hüten, der weniger auf Sprüchen und Belehrungen beruht, sondern auf einem Wissen um den Körper und eine Technik, denen die Jüngeren erst noch auf die Schliche kommen sollen. Das klingt gut, zumal im Westen schon erste Fältchen nicht etwa von der erlangten Reife einer Person zeugen, sondern immer gleich die Möglichkeit ihres Vergehens, der Endlichkeit der Alten in Betracht ziehen. Ich finde, alle Kulturen haben Unrecht. Gerade die Verehrung der Alten in Asien besteht doch nur darin, dass die Jungen diesen einen Schritt weiter, ins Gebrechen und in den Tod, gar nicht sehen wollen. Und die Verachtung der Alten im Westen hat mit genau derselben Angst zu tun: der Endlichkeit ins Auge sehen zu können. Zu trainiert sind all die Ego-Shooter auf dieser Welt, die eine herannahende Gefahr lieber rechtzeitig abschießen wollen, als neugierig zu prüfen, ob die nahende Gefahr überhaupt gefährlich ist. Ich glaube, das ist, was ich am Alter am meisten schätze. Diese Erfahrung. Dabei macht man Erfahrung schon im Säuglingsalter. Erfahrung sammelt und memoriert sich durch den Erwerb von Sprache, auch von Tanzsprachen. Erfahrung ist zudem eine Form der Dichtung, die – wie das eigene Leben – in höchstem Maße ephemer, also immer nur im Augenblick erhältlich ist. Wie das Theater auch. Deshalb hat sich bei mir nicht nur ein gewisses, auch gesundes Misstrauen gegen Retrospekti-

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ven und ähnliche Wiederaufnahmen eingeschlichen, da sie eine Form von Gültigkeit des Werks und der Kunstschaffenden schon jetzt noch über die Zeit hinaus simulieren. Ich bin mehr für das wirkliche Leben, und damit meine ich die Neugierde auf das Neue. Das Neue kommt in die Welt, meist aber nur, wenn man den linearen Lauf in Frage stellt, der geraden Linie nicht traut, weil die schnurgerade Autobahn Körper und Geist einschläfert und nur das Hasenschlagen munter macht, der Zickzack-Kurs, das Unstete, das keinen Ewigkeitsanspruch anmelden muss, weil es sowieso niemals und nirgendwo so stetig zugeht, wie es im Theater Begriffe wie »festes Ensemble« oder »Unkündbarkeit« nahelegen wollen. Ein Theater, wenn es ein festes Gebäude ist, will kraft seiner festen Umbauung in Wahrheit sich abschotten, auch vor anderen Künstlern, auch vor anderen Traditionen, Spielweisen, anderen Andersartigkeiten. Ein solches Theater ist selbst ein Archiv seiner selbst, doch eines ist es selten: neugierig auf das, was da draußen vor der Tür ist. Ich will darum neue Menschen treffen, in Berlin und an den unerwartetsten Orten der Welt, sie kennenlernen, mich austauschen und mit ihnen arbeiten. Ich will porös bleiben, mich nicht mehr als notwendig schützen müssen. Und da ich noch nie ewig stetig sein konnte, kann ich auch das: mich neu erfinden. Ich ahne: Es wird nicht nur mir gelingen.

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Es geht darum, was man

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macht – egal ob jung oder alt

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»Ein Gnadenbrot fände ich bitter« Ein Interview mit Frank Heuel

Mein Name ist Frank Heuel. Ich bin 1960 geboren. Ich bin künstlerischer Leiter des fringe ensemble. Das fringe ensemble ist ein freies Theaterensemble, das es schon seit 1999 gibt. Das Besondere bei uns ist, dass wir mit dem Theater im Ballsaal einen eigenen Theaterraum bespielen können als Produktionsort und Aufführungsraum. Ich bin gelernter Agrarwissenschaftler. Dann habe ich umgesattelt; nun bin ich gelernter Schauspieler und ungelernter Regisseur. Was bedeutet das Thema Alter im Augenblick für dich persönlich? Ganz persönlich bedeutet es, dass ich jetzt in einer Woche sechzig Jahre alt werde und zum ersten Mal das Gefühl habe, dass diese Zahl eine Bedeutung hat. Das habe ich vorher nie so empfunden. Sechzig zu werden ist ein spezielles Ereignis für mich als Künstler. Gar nicht biologisch gesehen, ich fühle mich gesund. Aber als Künstler stelle ich mir schon Fragen, wie es jetzt weitergeht. Was möchte ich noch erzählen, wie möchte ich es erzählen? Wie arbeite ich aktuell? Wird das meiner Situation, meiner Lebenserfahrung, meiner Arbeitserfahrung gerecht? Wie erlebst du das Älterwerden als Mann in unserer Gesellschaft? Das habe ich mich so speziell noch nicht gefragt. Ich habe drei Jungs im Alter von 21 bis 27 Jahren. Zu ihnen habe ich ein gutes Verhältnis. Gerade machen wir einen Umzug für einen der Söhne. Und ich merke, dass es sich gedreht hat. Dass er mittlerweile die schweren Sachen trägt. Das war bis vor Kurzem genau andersherum. Und da habe ich schon mal gedacht: Aha, schau an, da passiert gerade eine Ablöse oder ein Generationswechsel. Das hat schon etwas mit Mannsein zu tun. Ich bemerke, dass die Kraft ein wenig schwindet. Das merke ich auch in anderen Bereichen. Ich mache sehr gerne Sport, ich fahre sportlich Fahrrad. Und auch dabei spüre ich, dass einige Berge mir jetzt mehr abverlangen als noch vor ein, zwei Jahren. Das mag Frauen genauso gehen, aber ich beziehe das natürlich auf mich als Mann und meine Leistungsfähigkeit. Es geht auch um Attraktivität. Ich glaube nicht, dass sie unbedingt schwindet, aber sie verändert sich. Wie wirke ich als Mann auf andere? Nicht nur auf Frauen oder auf erotischer Ebene, sondern allgemein. Inzwischen sind da andere Sachen gefragt. Das registriere ich erst einmal. Gar nicht wertend, in dem Sinne, dass ich jetzt keine Chance mehr auf dem Markt habe, aber man achtet jetzt eher auf anderes.

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Wie stellst du dir dein Altsein vor? Gibt es möglicherweise eine Diskrepanz zu der erwarteten Zukunfts-Realität? Für mich ist seit Längerem das Ankommen ein großes Thema. Im Beruf zeigt sich im Rückblick ein Weg, und es sind Stationen erkennbar. Es geht nicht darum, im Zielbahnhof anzukommen und dann kommt nichts mehr, sondern eher darum, dass ein Thema durch ist und du angekommen bist. Und dann tut sich das Nächste auf. Man könnte es auch Zwiebelschalen nennen, Schicht für Schicht kommt man zum Kern. Ich fände es schon schön, wenn es für die nächsten Zwiebelschalen nicht wieder zehn Jahre brauchen würde. Mein Vater ist letztes Jahr gestorben. Über zwölf Tage haben meine vier Geschwister und ich im Krankenhaus das Sterben begleitet. Und da sind mir so viele Fragen durch den Kopf gegangen. Ist er ­angekommen? Wo bin ich jetzt gerade? Wann hätte ich das Gefühl, ich bin angekommen? Solche Fragen drängen sich jetzt stärker ins Bewusstsein. Sollte sich in Bezug auf die ältere Generation gesellschaftspolitisch etwas ändern? Speziell bei uns in Deutschland finde ich schon, dass sich beim Thema des Generationenkonflikts – Stichwort Rente, Generationengerechtigkeit und so weiter – etwas ändern muss … Meine Mutter ist 88 und sagt immer: »Ich bin nicht alt, ich bin älter. Ich werde jedes Jahr älter, aber alt bin ich noch nicht.« Ich finde den Begriff der älteren Gesellschaft, nicht der alten Gesellschaft eigentlich schön. Wir sollten die Forderungen oder auch die Vorwürfe der jüngeren Generation sehr ernst nehmen. Fridays for Future – wie hinterlassen wir den jüngeren Generationen diese Erde? Meiner Meinung nach trägt die ältere Generation in der Gesellschaft weiterhin Verantwortung. Wir Älteren müssen die Verantwortung annehmen, die wir für die jetzige Situation haben, und mitagieren, in welcher Form auch immer. Wir müssen vielleicht nicht mehr wie die Jungen auf die Straße, das haben wir ja alles hinter uns. Wir sollten aber solidarisch und im Sinne einer Generationengerechtigkeit aktiv handeln. Wie beeinflusst speziell die durch den Alterungsprozess veränderte Körperlichkeit dein künstlerisches Schaffen und dein Privatleben, sofern du darüber sprechen möchtest? Wie gesagt, die Leistungskurve flacht ab. Ich habe mich sehr darüber definiert, war immer sehr, sehr sportlich. Es ist für mich ein wichtiger Aspekt von Wohlbefinden, Gesundheit. Für die sitzende Beschäftigung

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als Regisseur einen Ausgleich zu finden, hat für mich eine große Bedeutung. Dann geht es mir meistens auch besser. Wenn ich jetzt den Berg nicht mehr in einer Stunde schaffe, brauche ich eben anderthalb Stunden dafür. Und der Kopf wird wahrscheinlich genauso leer sein und die Puste genauso weg. Im Beruflichen spüre ich, dass sich das, was ich gerne auf der Bühne sehe oder auch mit den Schauspieler*innen erarbeiten möchte, verändert hat. Mir geht es da um einen anderen Ausdruck. Früher war es doch sehr physisch geprägt. Und jetzt hat sich etwas verändert, weil es sich in mir auch verändert. So ein Hopsidusi oder eine reine körperliche Ekstase auf der Bühne, die mich vielleicht vorher noch fasziniert haben, finde ich jetzt nicht mehr interessant. Und das merkt man natürlich auch an den Schauspieler*innen, wenn sie das anbieten wollen. Dadurch verändert sich der Prozess der Arbeit und das Ergebnis. Wir machen Ensemblearbeit über einen langen Zeitraum. Und jetzt versuche ich auch wieder, jüngere Leute mit dazuzunehmen. Dann thematisiert sich das in den Angeboten, die sie machen. Und die Älteren sind natürlich ganz zufrieden, wenn ich nicht mehr so viel Körperliches verlange. So einen Ausgleich zu schaffen, das wird dann schon thematisiert. Wie wirkt sich das Älterwerden mental aus? Nach über fünfzehn Jahren habe ich mal wieder gespielt, ein Solo. Ich hatte große Bedenken, ob ich mir den Text merken kann. Früher ging das unheimlich schnell. Anfangs hatte ich echte Schwierigkeiten. Ich habe gedacht, das ist unmöglich für mich. Aber nach einer Woche war ich wieder auf dem Niveau, das ich früher einmal hatte. Es war einfach ein bisschen verschüttet. In tiefe Konzentration, die ich in der Arbeit immer mal wieder brauche, komme ich etwas schwerer rein. Und wenn ich dann drin bin, brauche ich gewisse Rahmenbedingungen, um drin bleiben zu können. Früher konnte ich mich im größten Tohuwabohu voll konzentrieren und meine Ruhe haben. Du arbeitest auch viel im Ausland – hast du dort einen anderen kulturellen Umgang mit dem Thema Alter kennengelernt? Ganz spontan fallen mir dazu meine Erfahrungen in Istanbul und auch Afrika ein. Die Menschen dort können sich nicht vorstellen, dass jemand, der so arbeitet wie ich, bald sechzig Jahre alt ist. In beiden Ländern ist man mit sechzig raus aus dem Geschäft. Vielleicht agiert man noch als Ratgeber, als weiser Mensch im Hintergrund, aber so aktiv in der Form, wie ich es tue, war es für beide Kulturen völlig überraschend. Das wurde auch thematisiert. Ich bin im Ausland immer

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grundsätzlich mit deutlich jüngeren Menschen zusammen. Ich verspüre da kein Gefälle, bin voll integriert und vergesse dort auch eher mein Alter als hier. Mein Umfeld hier weist mich deutlicher auf mein Alter hin als dort. Wenn du zum Beispiel an Afrika denkst, wie geht man dort mit Älteren und alten Menschen um? Hast du das mitkriegen oder spüren können? Schon sehr respektvoll. Wenn jemand viel für die Gemeinschaft tut, bekommt man, egal wie alt man ist, den Namen Mama oder Papa. Ich hieß dort immer Papa. Aber nicht, weil ich alt bin, sondern durch meine Funktion als Regisseur und natürlich auch als jemand, der das Drumherum mitorganisiert hat, als Co-Produktionspartner auch Geld mit eingebracht hat. Aber auch jüngere wie meine Kollegin Leila, die sich um das Soziale gekümmert hat, war mit Ende dreißig schnell Mama. Siehst du in der Kunst einen zunehmenden Generationenkonflikt? Wir konkurrieren um die berühmten Fleischtöpfe der Förderung. Das ist klar. Es ist zwar in den letzten Jahren ein bisschen mehr Fleisch in den Topf gekommen, aber die, die davon essen wollen, sind auch deutlich mehr geworden. Deshalb gibt es zunächst einmal eine Konkurrenzsituation. Das muss ja nicht unbedingt zu einem Interessenkonflikt führen. Ich sehe aber von meiner Position aus gesehen darin schon Konfliktpotenzial, und zwar in der Hinsicht, dass gerade im Freien Theater – das ist bei einem Stadttheater anders –, in der freien Darstellenden Kunst eine Kontinuität entstanden ist. Es gibt Gründermütter und Gründerväter, die etwas aufgebaut haben. Dann kam die zweite Generation dazu, die das übernommen und weiterentwickelt hat. Und jetzt kommen die Jungen, und ihnen fehlt das Bewusstsein für diese Geschichte. Das finde ich schwierig und komme damit in Konflikt. Also ich erwarte keine Dankbarkeit, aber daraus entsteht ein gewisses Unverständnis für Formen, Inhalte, Ästhetiken. Was bedeutet der Schauspieler, die Schauspielerin eigentlich heute noch im freien Bereich, welche Funktion sehen wir? Wie sollten sie ausgebildet sein? Mit solchen Fragen stoße ich auf Ablehnung, hier fehlt die Auseinandersetzung. Das ist im Stadttheater völlig anders. Da gibt es eine lange Tradition. Das ist natürlich auch viel tradiert und vieles auch festgefahren. Aber trotzdem gibt es dort so eine innere Solidarität. Und das empfinde ich zum Großteil in der Freien Szene nicht mehr so. Das ist konfliktträchtig.

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Woher, denkst du, kommt dieser Unterschied zwischen Freier Szene und Stadttheater? Das Stadttheater ist ein System, das es bei uns seit Jahrhunderten gibt, geschützt durch verschiedene Lobbyverbände. Die Form ist quasi fließend weiterentwickelt worden. Da sind keine Sprünge drin. Es bedient ein bürgerliches Kulturbedürfnis, einen Kanon. Durch die Ausbildung in Gießen, Hildesheim, Bochum gibt es inzwischen eine Oppositionshaltung gegenüber der älteren Generation von freien Theatermacher*innen, die ich nicht nachvollziehen kann. Es wäre schon vonnöten, dass man sich darüber auseinandersetzt. Mir fehlt da etwas. Zum Beispiel beim Festival des Freien Theaters in NRW, vormals Theaterzwang, jetzt Favoriten, fehlt es an so einer Thematik und der Auswahl. Es bildet nicht ab, was an freier Theaterarbeit geleistet wird. Das Spektrum ist sehr einseitig, und das ist nicht zielführend, auch nicht für die gesamte Bewegung. Natürlich gibt es da vieles, was man weiterentwickeln muss, was man hinter sich lassen muss. Aber vieles könnte man auch weitergeben und es wäre von Nutzen, wenn das Wissen, das Know-how, die Sichtweise auf Form und Inhalt eine Basis bilden ­würden. Was sollte ganz konkret thematisiert werden? Ein Bewusstsein für das Freie Theater, seine Entstehungsgeschichte und die gültigen Parameter, das finde ich schon mal ganz gut gegen­ einanderzustellen. Warum wähle ich diesen Inhalt und warum wähle ich dafür diese Form? Also wie stehen Ästhetik und Form, Inhalt und Ästhetik in Beziehung zueinander? Warum wird das plötzlich abgelehnt? Der Schauspieler, das Spiel auf der Bühne oder im Raum. Warum sieht man jetzt plötzlich nur noch wahnsinnig viel Laien oder Expert*innen des Alltags auf der Bühne? Und warum halten andere an Formen fest und haben diese weiterentwickelt? Ist das starr geworden oder wo stehen sie jetzt? Wo haben sie angefangen? In der Auseinandersetzung über diese Fragen käme es zu einem (Selbst)Verständnis – als Freie Szene, als eine Community, die eigentlich verwandt ist. Wir machen bei uns im Theater im Ballsaal Residenzprogramme, das Theaternetzwerk west off oder Produktionen von flausen+festival ­ ­gastieren hier. Wir sind zum Teil so weit voneinander entfernt. Wenn die Gruppen hier sind, laden wir sie zu unseren Vorstellungen ein. Sie macht oft ratlos, was sie bei uns sehen. Ich bin manchmal auch ratlos, wenn ich ihre Produktionen sehe. Diese Ratlosigkeit könnte man ja, wenn man Interesse hat, auch auflösen, indem man Fragen stellt und sich zusammensetzt. Das fände ich fruchtbar.

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Warum macht ihr das nicht? Wir versuchen das schon. Wir laden sie zu unseren Vorstellungen ein und versuchen, anschließend ins Gespräch zu kommen. Daran besteht aber meistens kein Interesse. Ich weiß nicht, woran es liegt. Vielleicht verstehen sie gar nicht, was da gerade passiert auf der Bühne. Ein Festival wie Favoriten in NRW wäre das richtige Instrumentarium zur Erörterung solcher Fragen. Ich habe mir Abschlussarbeiten im Fach Physical Theatre an der Folkwang Hochschule angeschaut und habe eine junge Darstellerin in einer Produktion eingesetzt, um darüber in Austausch zu kommen und es miteinander auszuwerten. Und zu was für einem Ergebnis bist du gekommen? Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, dass ich auf der einen Seite diesen jungen Leuten viel mitgeben kann. Das ist mir auch bestätigt worden. Ich fand die Fragestellungen, die von der Darstellerin gekommen sind, auch sehr interessant. Zu erfahren, was sie vermisst oder bewundert hat, zum Beispiel meinen Führungsstil, wie ich Regie mache und wie das Ensemble als Gruppe im Prozess zusammenarbeitet. Das hat sie an der Schule ganz anders kennengelernt. Wenn sie in der Hochschule Projekte gemacht haben, haben sie immer sehr stark im Kollektiv gearbeitet. Und hier arbeite ich, projektabhängig, eher mit Einzelnen. Das fand sie verwunderlich, aber auch wieder interessant als Erfahrung – sich einem Regisseur anzuvertrauen. Dann aber hätte sie sich wiederum mehr Eigenverantwortung gewünscht. Das habe ich jetzt bei einem Folgeprojekt berücksichtigt, bei dem ich die schon länger zusammenarbeitenden Schauspieler*innen gebeten habe, fünf Tage allein zu arbeiten, was erst einmal zu Verwunderung geführt hat, aber dann durchaus produktiv war. Sollten Künstler*innen irgendwann von sich aus zurücktreten, um jüngeren Platz zu machen? Welche Grundvoraussetzungen wären dafür notwendig? Ich finde, nein. Man sollte nicht von sich aus sagen, weil ich einen Platz besetze, mache ich jetzt Platz. Wenn ich nichts mehr zu sagen habe und wenn ich müde bin, dann sollte ich aufhören. Aber wenn ich noch das Gefühl habe, ich habe etwas zu sagen, dann sollte ich das auch tun. Es ist doch interessant, wenn wir als Siebzigjährige aufgrund unserer Lebens- und Arbeitserfahrung dieser Gesellschaft etwas zu sagen haben. Also diese Forderung würde ich glattweg immer ablehnen. Aus Prinzip.

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Siehst du in der Kunstförderung einen Bedarf speziell für ältere ­Künstler*innen? Auch das sehe ich nicht. Bei Förderentscheidungen ist man in Konkurrenz mit anderen, auch mit Jüngeren. Anhand des Projekts soll entschieden werden, ob man eine Förderung bekommt. Ein Gnadenbrot fände ich bitter. Aus diesem Grund möchte ich nicht gefördert werden, sondern weil meine Arbeit spannend ist. Natürlich guckt eine Jury wahrscheinlich anders drauf, wenn sie sieht, da hat jemand vierzig Jahre Erfahrung. Wenn der eine bestimmte Fragestellung angeht, erwartet man natürlich etwas anderes, als wenn ein 25-Jähriger sich mit einem Stoff beschäftigt. Du kannst bereits auf ein sehr umfangreiches künstlerisches Werk zurückblicken. Was bedeutet dies für dich? Gibt es spezielle Ziele, die du noch künstlerisch erreichen willst? Das bedeutet mir tatsächlich viel, darüber definiert sich natürlich ein Künstler. Für mich ist es im Moment wichtig zu verstehen, warum ich da bin, wo ich gerade stehe. Da gehört der Blick zurück natürlich dazu. Für mich hat mein Werk eine innere Logik. Auf die Zukunft bezogen habe ich den Traum, dass ich Arbeiten realisieren möchte, in denen ich mich noch einmal mit dieser einen Frage beschäftige und für mich die Bedingungen herstelle, diese Frage auch zu untersuchen. Wenn man ein Ensemble leitet, wie ich es mache, dann hat man auch viele Bedürfnisse des Ensembles zu befriedigen. Ich möchte punktuell gern Arbeit abgeben. Einer der Schauspieler macht auch gern Regie und macht eine Arbeit, über die vielleicht auch Ansprüche, Bedürfnisse, Wünsche des Ensembles mit abgedeckt werden können, sodass ich ein bisschen freier bin und mich stärker meinen eigenen Fragen zuwenden kann. Das ist schon ein Wendepunkt für mich. Ich würde gerne aus dem Bereich Ensembleleitung, Verantwortung für die Einzelnen stärker zurücktreten, vielleicht beratend tätig sein. Und dann ein, zwei Arbeiten im Jahr unter eigenen Bedingungen machen, vielleicht nur für ein Projekt mit einer jungen Schauspielerin arbeiten oder mit einem bestimmten Musiker, ohne immer das Ensemble im Blick haben zu müssen. Kannst du uns etwas über dein Verständnis von künstlerischer Handschrift sagen? Das finde ich einen ganz wesentlichen Begriff. Es ist wirklich interessant, wenn jemand für sich einen Ausdruck gefunden hat. Das kann man ja sowohl für den einzelnen Künstler auf der Bühne, aber eben

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auch für ein Ensemble oder für eine Regie, für eine künstlerische Leitung sagen. Und jemand über einen Zeitraum zu verfolgen, finde ich total spannend. Es gibt eine innere Logik für mich, warum ich jetzt da bin, wo ich bin, und warum ich das alles so gemacht habe. Letztendlich lässt sich eine Kontinuität in der Arbeit erkennen. Die Handschrift erzählt sich natürlich auch darüber, dass andere sie erkennen, dass es Weggefährt*innen gibt, dass es Leute gibt, die sich immer wieder unsere Produktionen anschauen und man darüber in Kontakt kommt. Es gibt Künstler*innen, die haben einmal etwas Erfolgreiches gefunden und bleiben dann dabei stehen; sie halten fest an ihrer Handschrift und entwickeln sie nicht weiter. Andere wagen immer wieder etwas Neues. Dann fallen sie mal auf die Schnauze, wie wir vor Kurzem. Aber das gehört eben auch dazu. Das geht aber nur, wenn die Handschrift erkennbar ist. Wenn man sich Bob Dylan anschaut, der ist sich immer treu geblieben. Trotzdem hat er immer wieder was Neues gemacht. Dass ich mir treu geblieben bin und doch immer wieder etwas Neues auf meinem Weg entdeckt habe, das finde ich gut und wichtig. Was wird aus dem Label fringe ensemble nach deiner aktiven Zeit? Es ist schon ein Wunsch von mir, dass das fringe ensemble weiterexistieren kann. Dass es Menschen gibt, die auch in die künstlerische Verantwortung hineinkommen. Das kann im Bereich Regie, aber auch Bühne, Video oder digitale Techniken sein. Ich würde da sehr gerne Freiräume und Mittel zur Verfügung stellen, damit jemand seine eigenen Erfahrungen machen kann, auch ohne mich im Hintergrund. Spielt der Begriff künstlerisches Erbe für dich eine Rolle? Ein Erbe kann ja auch eine Last sein. Der Begriff ist für mich eher negativ konnotiert. Schön fände ich, wenn wesentliche Dinge, die aber nichts mit meiner künstlerischen Handschrift zu tun haben, Bestand hätten – Werte wie die Loyalität untereinander, das Achten auf die Bedürfnisse der Ensemblemitglieder, das Arbeiten in Kontinuität anstelle von Projekt-Hopping in wechselnden Besetzungen. In dieser Hinsicht bin ich ein treuer Mensch. Treue im freien Bereich hat für mich einen Wert. Und wenn das als Erbe, auch wenn es kein künstlerisches Erbe ist, als Geist des Ensembles weitergetragen würde, wäre ich sehr froh darüber. Welche Bedeutung hat das Archivieren für dein Werk? Ich habe das gemacht, aber ich bin gerade dabei, das Archiv abzusto-

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ßen. Es ist so wahnsinnig viel. Ich werde es nicht wegschmeißen, aber das Zeug ist aus dem Regal raus, in beschriftete Kisten verpackt. Einige aus meinem Kernteam, die erst später dazugekommen sind, haben gar keinen Bezug dazu, das interessiert sie gar nicht. Früher habe ich gedacht, Archivieren sei wichtig. Aber es ist höchstens für Theaterwissenschaftler*innen interessant, punktuell an solche Archive dranzukommen. Doch für uns selbst ist es nicht so wichtig. Aber es könnte, wenn die Gründergeneration nicht mehr da ist und die, die es übernommen haben, nicht mehr aktiv sind, noch einmal von Interesse sein. Vielleicht stellen sich dann Fragen, die sich über so ein Archiv bearbeiten lassen. Das Archivieren im digitalen Bereich ist jetzt viel einfacher. Seitdem das möglich ist, machen wir wirklich von jeder Arbeit einen professionellen Videomitschnitt und einen professionellen Trailer. Hast du eine Alterssicherung, die es dir ermöglicht, wann immer du möchtest, mit dem Arbeiten aufzuhören? Oder musst du so lange arbeiten, wie es irgendwie geht, um nicht zu verarmen? Wir haben eine Altersabsicherung. Wir haben irgendwann entschieden, wir kaufen ein Haus, in dem wir selbst wohnen und eine Wohnung vermieten. Manchmal war es knapp. Wir alle wissen, wie es bezüglich der Rente und KSK ausschaut. Aber ich glaube, ich kann mit 67 Jahren sagen, ich muss das jetzt nicht mehr zwingend machen, um Geld zu verdienen. Das ist natürlich ein Unterschied zu einigen anderen. Wie stellst du dir das Ende deines künstlerischen Schaffens vor? Gibt es überhaupt ein Ende vor deinem Tod? Ich glaube, das künstlerische Schaffen wird sich verlagern. Wenn ich noch länger bzw. lange lebe und mich einem Theateralltag, wie ich ihn jetzt habe, nicht mehr aussetzen möchte oder vielleicht auch nicht mehr kann, werde ich dennoch weiterhin künstlerisch tätig sein. Dann werde ich in der Natur etwas inszenieren, vielleicht nur noch mit Gegenständen. Aber ich sehe nicht, dass ich mit siebzig aufhöre und dann nur noch reise oder ich weiß nicht was mache.

Gekürzte Fassung des Interviews geführt von Angie Hiesl + Roland ­Kaiser am 04. November 2020 im Rahmen der Recherche zum Thema Kunst und Alter.

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Um den Alterungs­ prozess irgendwie

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Archivprozesse Über Logiken des Sammelns von Artefakten aus, über, von Performances Seit geraumer Zeit werden in verschiedenen institutionellen und forschenden Kontexten Archivprozesse von Kunstformen, deren zentrales Merkmal ihr Aufführungscharakter in einem weiten Sinne ist, beschrieben, analysiert und auf ihre (zukünftige) Zugänglichkeit hin diskutiert. Die folgenden Überlegungen und Beobachtungen resultieren aus dem Forschungsprojekt Verzeichnungen, das sich diesen Fragen gewidmet hat.1 Für alle derartigen Unternehmungen – sei es in der Forschung wie in der kulturpolitischen Praxis zur Etablierung von Sammlung und Archiv – stellt sich die Frage nach der Entität, die als Referenz beschrieben werden kann. Wir haben uns in dem Projekt für den (als Öffnung verstandenen) Begriff der Aufführungskünste (performance-­ based arts) entschieden, um deutlich zu machen, dass wir uns gezielt an der Schnittstelle verschiedener Kunstdispositive, insbesondere an der zwischen Theater/Tanz und Museum/Ausstellung, bewegen wollen. Performance als im weiten Sinne Aufführung verstanden, ist eben nicht nur Performancekunst, wie sie im Kontext vor allem der Bildenden Künste/Kunstwissenschaft untersucht und gezeigt wird, sondern sie ist ebenso gut Performance(Musik)theater, und sie ist einiges, was auch durch diese beiden begrifflichen Hilfskonstruktionen nicht erfasst wird. Dies ist unser grundlegender Ansatz, der längst nicht selbstverständlich ist, wenn man sich die auf verschiedene Institutionen und Genres verteilten Aktivitäten zum Sammeln, Dokumentieren und Archivbilden in diesem Feld anschaut. Beginnen möchte ich meinen Beitrag mit einigen Überlegungen zum Sammeln als Tätigkeit in verschiedenen institutionellen und sich institutionalisierenden Kontexten. Für die Frage nach Orten möglicher Performance-Archive scheint es mir wichtig, die Differenzen in den Logiken des Sammelns festzuhalten, die unterschiedliche Ziel­ setzungen und Interessen markieren. In einem zweiten Teil werde ich vorstellen, was wir im Forschungsprojekt Verzeichnungen unter dem Stichwort Archivprozesse exemplarisch an Sammlungen/Sammeltätigkeiten verschiedener Akteur*innen im Bereich der Aufführungskünste untersucht haben.

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Diese Sammlungen tendieren dazu, sich selbst als Archiv zu verstehen, obwohl sie oft­mals an der Schnittstelle verschiedener traditioneller Sammellogiken ­operieren. Zum Abschluss möchte ich die Frage nach dem fluiden Verhältnis von ›Dokument sein‹ und ›Werk werden‹ aufwerfen und auf Verschiebungen verweisen, die das Verständnis von ›Performance sammeln‹ im musealen Kontext gerade durchläuft. Auf die Arbeit des Dokumentierens selbst, zu dem sich vor allem im Feld der visuellen Künste/Museen in den vergangenen Jahren ein umfangreicher Diskurs entwickelt hat,2 wird hier nicht detailliert eingegangen. Aufzeichnen als medialen Transformationsprozess von Aufführung/Präsentation und Basis von Dokumentation habe ich an anderer Stelle ­thematisiert.3 Aus allen drei Aspekten ergeben sich aus meiner Sicht Fragen an Künstler*innen, ob und wie sie sich in einem Archiv oder einer institutionellen Sammlung repräsentiert sehen wollen, aber genauso gut Fragen an die Betreiber*innen solcher Gedächtnisinstitutionen, wie und unter welchen Voraussetzungen sie die Repräsentation ephemerer oder performativer Kunstformen integrieren können und wollen. 1. Unterschiedliche Logiken des Sammelns Archiv, Bibliothek und Museum gelten als die drei traditionellen Institutionen des kulturellen Gedächtnisses und als Basis für die Arbeit der Historischen Wissenschaften.4 Alle drei sammeln, aber sie sammeln Verschiedenes (verschiedene Arten von Artefakten) und nach verschiedenen Logiken. Während das Archiv historisch dazu genutzt wurde und auch heute noch genutzt wird, Verwaltungsakten aller Art, Dokumente und Aufzeichnungen über die Tätigkeit von Institutionen mit dem Ziel der Erhaltung und Aufbewahrung zu sammeln, sammelt die Bibliothek nicht nur Bücher, sondern Informationen aller Art, die sie – und das ist ein entscheidender Unterschied – zur Benutzung zur Verfügung stellt und zugänglich macht. Sie sammelt, wie es in einer Definition heißt »kommunizierendes Wissen«5, solches Wissen, das für und zur Kommunikation verfasst worden ist. Mit Ausnahme von den Nationalbibliotheken, die auf Vollständigkeit schauen sollen, wird das Sammeln aktiv betrieben, d. h. es wird ausgewählt, es werden thematische und mediale Schwerpunkt gesetzt sowie lokale, regionale und sprachliche Kontexte beachtet. Dabei hat sich das mediale Spektrum ständig erweitert, sodass Bibliotheken heute ebenso gut Mediatheken sein können. Die Digitalisierung hat neue und andere Möglichkeiten von Formen und Medien des Sammelns sowie neue Zugänge zu Beständen und dem dort versammelten Wissen eröffnet.6

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Auch Museen sammeln aktiv, sie sammeln Objekte und künstlerische Werke, deren Auswahl kuratorischen Konzeptionen und den besonderen Geschichten des jeweiligen Hauses unterliegen. Dass und wie sehr die Bedingungen und Kriterien des musealen Sammelns einerseits kritisch beobachtet werden, zeigen aktuelle Publikationen7 und Praktiken. Andererseits lassen sich Verschiebungen beobachten, die darauf basieren, dass neuerdings Performancekunst von Museen gesammelt wird, wovon noch die Rede sein wird. Die Differenzen zwischen den drei traditionellen Gedächtnisinstitutionen sind inzwischen nicht mehr in allen Aspekten trennscharf, z. B. hat sich die Auffassung über die Aufgaben von Archiven verändert und erweitert.8 Auch wenn hier gewisse Unschärfen in der Abgrenzung zwischen den verschiedenen Logiken des Sammelns in der Praxis entstanden sind und seit einer Weile theoretisch beleuchtet werden, muss man sich in Hinblick auf die Frage, wohin mit Sammlungen oder Gesammeltem/ Konvoluten zur Performancekunst, über die Auswirkungen der genannten Unterschiede unterhalten. Nicht zuletzt gehört zum ­Kontext solcher Überlegungen auch die Frage nach der Logik der Ordnung in diesen unterschiedlichen Institutionen, z. B. die nach der Differenz zwischen Provenienzprinzip (im Archiv) und Pertinenzprinzip (der Bibliothek), also zwischen der Erschließung nach Herkunft und Entstehungszusammenhang einerseits und nach Themenfeldern (­ Sachverhalten, Ereignissen, Orten, Personen) andererseits. Man könnte sagen, dass diese drei Institutionen in ihrem historisch etablierten Verständnis vor allem einen konservierenden, aufbewahrenden Charakter haben. Das Sammeln also in diesen Fällen heißt, ­vergangene Tätigkeiten, Ereignisse, Handlungen etc. zu dokumentieren und für spätere Re-Konstruktionen zu erhalten. Das Sammeln könnte so als bloße Akkumulation erscheinen, die allerdings bestimmten institutionellen Vorschriften und Regeln folgt. Sammlungen und Bestände, die man als Basis eines Performancekunst-Archiv betrachten könnte, folgen oftmals anderen, eigenen Regeln.9 Sie produzieren ein spezifisches Wissen, sind in Hinblick auf ihr Verständnis von Performance und deren Geschichte produktiv gedacht und verstehen sich selbst als Angebot zur Fortsetzung oder Fort- und Überschreibung durch künstlerische Aneignung, durch neue, andere Erzählungen sowie als Orte der Wissensgenerierung über einen nicht so präsenten, eher als unsichtbar gefährdeten Teil der Kunstgeschichte. Dieser Aspekt dockt an ein Verständnis an, das sich in neueren wissenschaftstheoretischen Überlegungen mit der Idee von Sammeln als Wissen verbindet.10

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Die Verbindung von diesen ganz eigenen Sammlungslogiken mit denen der etablierten Institutionen wirft verschiedene Fragen auf: Welche Vorteile hat es, dass das VALIE EXPORT Center in Linz zwischen Museum und Kunstuniversität in Kooperation mit der Stadt angesiedelt ist? Das Zentrum, das den von der Stadt Linz 2015 gekauften Vorlass der Künstlerin »bearbeitet, erforscht, kontextualisiert und vermittelt« – wie es auf der Website heißt –, hat 2017 eigene Räume bezogen und versteht sich in einem erweiterten Sinne als Forschungszentrum für die »künstlerische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Medien- und Performancekunst«11. Was passiert mit dem Archiv Sohm, das zur Stuttgarter Staatsgalerie gehört? Wie wird die Sammlung der Forschung zugänglich gemacht und öffentlich präsentiert? Welche Vor- und Nachteile hat es, wenn eine Performancekunst-Archiv/Sammlung einer (Kunst)Bibliothek zugeordnet und zu Teilen in deren K ­ atalog verzeichnet wird, wie es im Falle der Schwarzen Lade von Boris Nieslony in Köln, der Sammlung eines internationalen Netzwerks der Performancekunst geschieht?12 In den genannten drei Beispielen wird eine von Akteur*innen (Künstler*innen, Sammler*innen, Vertreter*innen von Netzwerken) angelegte Sammlung, die ihren je eigenen Kriterien des Auswählens, Aufhebens und Ordnens folgt, in eine kulturelle Institution integriert oder wie eine solche behandelt. Ein anderes Beispiel ist die Kooperation des schweizerischen Performancekunst-Netzwerks PANCH13 mit der Mediathek der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel der FHNW, deren Leiterin Tabea Lurk sich aktiv an den Diskursen um deren Dokumentation und Erhalt beteiligt und sich mit Blick auf zu etablierende digitale Ressourcen und Datenmanagement engagiert.14 Wie genau funktioniert eine solche Kooperation, und welche nicht nur auf schon Gesammeltes reagierende Position nimmt die Mediathek – in diesem Fall einer Kunsthochschule – ein? Es müsste also in der Beschreibung und Ordnung von Sammlungen/Beständen zur Geschichte und Praxis der Performancekunst auch darum gehen, die Logik der Sammeltätigkeit transparent zu machen, die Prozesshaftigkeit und Genese zu reflektieren und die Ordnung/ Verzeichnung so zu gestalten, dass ein beweglicher Zugang möglich bleibt, ein Zugang also, der Aneignung und Überschreibung ermöglicht. Das kann durchaus mit den Vorstellungen zur Selbstarchivierung von Künstler*innen kollidieren, die ja oftmals auf eine kohärente Erzählung der eigenen professionellen Historie zielen.

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2. Archivprozesse der Aufführungskünste – unterschiedliche Akteur*­innen Mit dem Begriff ›Archivprozesse‹, den wir im Kontext des Forschungsprojekts etabliert haben, gingen und gehen wir davon aus, dass es das Archiv der Aufführungskünste als einen stabilen Ort mit einer aus den bisherigen Regularien von Archivierung ableitbaren Ordnung nicht gibt. Insofern haben wir uns darauf konzentriert, die Prozesse, die zur Archivbildung führen, zu beobachten und ihre Bedingungen, Kontexte und Handlungsweisen zu betrachten. Auf diesem Hintergrund haben wir eine als exemplarisch zu verstehende Auswahl von Fallstudien gemacht, die wir Archivanalysen genannt haben, obwohl die Objekte der Studien in vielen Fällen weder Archive im klassischen Sinne noch systematisch erschlossen sind. Auswahlkriterien waren u. a., dass die Akteur*innen unterschiedliche Formen von Institutionalisierung bzw. unterschiedliche Arten von Betreiber*innen repräsentieren und dass sie das Feld der Aufführungskünste in einer gewissen Breite abbilden. Wir fragten nach der Art und Weise des Sammelns, Ordnens und Aufbewahrens von Dokumenten künstlerischer Arbeits- und Produktionsprozesse ebenso wie von kuratorischen Kommunikations- und Entscheidungsprozessen und deren konzeptionellen Kontexten. Methodisch bestand unser Setting aus einer Verbindung von Vor-Ort-Besichtigung, Auswertung der Verzeichnisse und/oder Kataloge sowie relevanter Publikationen und umfangreichen, z. T. mehrmaligen Gesprächen/Interviews. Es wurden folgende Akteur*innen ausgewählt: Das Haus der Kunst in München ist ein großes Ausstellungshaus, das unter der Leitung von Chris Dercon u. a. Ausstellungen zu Performance und Aspekten künstlerischer Bewegung gezeigt hat. Zwei Ausstellungen vor allem waren der Anlass und die Motivation für diese Untersuchung: die monografische Ausstellung Allan Kaprow: Art as Life – Kunst als Leben (2006/2007), kuratiert von Eva Meyer-Hermann für verschiedene Orte und in einer Szenografie des Berliner Büros chezweitz gezeigt, die sehr deutlich mit der Archiv-Inszenierung spielte. Es war die letzte Ausstellung, an der Kaprow persönlich mitgewirkt hat. Und als zweites: Move. Kunst und Tanz seit den 60er Jahren, kuratiert von Stephanie Rosenthal zunächst für die Hayward Gallery in London, die dann außer in München auch in Düsseldorf zu sehen war. Sie zeigte zahlreiche Arbeiten, in denen das Publikum zum Spielen und Agieren aufgefordert war und integrierte Tanz/Performances in den Ausstellungsraum.15

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Intensiv befragten wir die Praktiken der Dokumentation von kuratorischer Tätigkeit und Ausstellungs-Inszenierung. Wichtig war in diesem Fall auch die Verbindung zum Historischen Archiv, das aufgrund der spezifischen Geschichte des Hauses im Nationalsozialismus eine herausragende Position hat. Auch arbeitete die Institution am Ausbau der Website als Tool für Recherche und Basiselement einer auszugsweisen Dokumentation der eigenen kuratorischen und vermittelnden Tätigkeit. Das HAU – Hebbel am Ufer in Berlin ist ein (Ko)Produktionsort verschiedener Sparten der Freien (Theater/Tanz)Szene, dessen mehr als dreißigjährige Geschichte einen Einblick in kuratorische und künstlerische Entwicklungen gibt, die sich unter dem Stichwort ›postdramatisches Theater‹ zusammenfassen lassen. Die seit dem Ende der 1980er Jahre entstehenden Produktionshäuser sind Orte ohne feste Ensembles, aber in kontinuierlicher Kooperation mit Projekten und Gruppen. Sie produzieren und koproduzieren mit vergleichbaren Partner*innen im europäischen und internationalen Kontext, haben ihre künstlerische und kuratorische Arbeit auf ein interdisziplinär, zwischen und über die verschiedenen etablierten Kunstgattungen hinweg kommunizierendes Programm ausgerichtet und entwickeln aktiv Programme der Nachwuchsförderung. Wichtig in unserem Zusammenhang ist, dass es keine Archivierungspflicht für Unterlagen aus der künstlerischen und kuratorischen Arbeit gibt, sodass das, was gesammelt wird, aus den Interessen der Mitarbeiter*innen an der eigenen Geschichte resultiert und weder systematisiert noch zugänglich für Außen­stehende ist.16 Der steirische herbst in Graz ist eines der ältesten und prominentesten interdisziplinären und experimentellen Festivals aller Kunstsparten, das selbst an der Etablierung eines Archivs arbeitet. So basiert eine der aus unserer Sicht wichtigsten Initiativen in diesem Feld nicht nur auf dem jahrelangen Enthusiasmus eines einzelnen Initiators, Martin Ladinig, der nach langjähriger Projektarbeit seit 2008 eine halbe Archivarsstelle bekleidet, sondern es konnte eine öffentlich zugängliche Datenbank etabliert werden, weil die künstlerische ­Leiterin des Festivals von 2006 bis 2017, Veronica Kaup-Hasler, die Aneignung der Geschichte des steirischen herbstes als Teil ihres kuratorischen Programms verstanden hat.17 Die schon erwähnte Schwarze Lade / Archiv Boris Nieslony in Köln ist die Sammlung eines ausgedehnten Netzwerks der internationalen Performance-Szenen, das seit den frühen 1980er Jahren auf Initiative von Boris Nieslony zustande gekommen ist und von ihm betreut

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wird. Er hat immer wieder die produktive Rolle archivischer Tätigkeit im Kunstkontext unterstrichen: »Das Archiv zeigt sich als eine organisch ständig wachsende Ideenbank. Sie archiviert die Informationen von Organisationen, Assoziationen, Artist-Run-Spaces und künstlerischen Projekten. […] In dem Archiv sind eingesammelt die Bausteine einer Wirklichkeit, die mit dem Archiv nach Außen verlegt werden. Eine zukünftig verdoppelte Öffentlichkeit aus historischem Material und schöpferischen Bedingungen.«18 Das Archiv Sohm in Stuttgart ist ein als Teil der Stuttgarter Staatsgalerie institutionalisiertes Sammlerarchiv, das seinen Schwerpunkt in der Geschichte von Happening und Fluxus hat. Das seit 1981 in der Staatsgalerie Stuttgart beheimatete Archiv Sohm ist keine »Kunstsammlung«, sondern eine umfassende Zeitdokumentation aus Korrespondenzen, Fotos, Büchern, Katalogen, Zeitschriften, Filmen, Videos, Aktionsrelikten und Objektkunst. Sohm war kein Sammelnder im traditionellen Sinne des Zusammentragens von (Kunst)Werken, sondern ein Dokumentarist und an den Bewegungen Partizipierender, der alles aufbewahrte, was an Relikten der Aktionskunst und Artefakten anfiel. Erst in der Retrospektive sind einzelne Artefakte und Objekte zu wertsteigernden Werken geworden. Eine der in diesem Zusammenhang relevanten Fragen ist die nach der Trennung von Dokument und Werk und der Verflüssigung dieser Unterscheidung vor allem in der ­Performance- und Aktionskunst. Wichtig für die Verbindung eines solchen Archivs mit einem Museum ist die Möglichkeit, Ausstellungen mit den Materialien zu erarbeiten oder zu beliefern. In diesem Fall hat ausstellende Aneignung der Materialien eine lange Geschichte. Sie geht zurück bis zur Beteiligung mit Leihgaben an der documenta von 1968 und der von 2012 oder zeigt sich in einer Ausstellung aus Anlass von fünfzig Jahre Fluxus in der Stuttgarter Staatsgalerie19 sowie in einem entsprechenden Programm der Aneignung des historischen Materials in performativen Formen. Die Galerie EIGEN + ART (Berlin und Leipzig) ist eine Galerie, die für die Entwicklung prozessorientierter Kunstformen in den 1980er Jahre der DDR eine große Rolle spielte, heute international auf dem Kunstmarkt agiert und eine extensive Selbstarchivierung betreibt, die auch ausgewählte Materialien für wissenschaftliche Recherchen zugänglich macht. Zudem haben wir vier Künstler*innen und -Gruppen nach den Praktiken ihrer Selbstdokumentation und -archivierung befragt: ­Frieder Butzmann, Lindy Annis sowie die Gruppen Rimini Protokoll20 und She She Pop.

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Feststellen ließ sich, dass selbst große oder größere, öffentlich geförderte Institutionen wie das Haus der Kunst München oder das HAU Berlin weder Ressourcen noch konzeptionelle Vorstellungen über die Archivbildung zu künstlerischen und kuratorischen Prozessen entwickelt haben. Im ersten Fall – dem Haus der Kunst – begann sich das zu ändern, während wir die Gespräche führten, u. a. weil Okwui Enwezor als damaliger Leiter sich dem Prinzip verpflichtet sah, dass ›das Wissen der Institution der Allgemeinheit gehört‹. Da diese Archive und Sammlungen oftmals fragile Gebilde sind, was die institutionelle Anbindung und finanzielle Unterstützung in Erhalt und Nachhaltigkeit angeht, ändern sich die Gefüge auch öfter – z. B. mit den Vorlieben und konzeptionellen Statements der jeweiligen Leiter*innen der Institutionen, an die sie gebunden sind. Die Künstler*innen selbst kümmern sich in sehr unterschiedlichem Umfang und mit sehr verschiedenen Strategien um die Dokumentation ihrer Arbeit. Auffallend war für uns die Tatsache, dass die Gruppe Rimini Protokoll, die ja ausgesprochen gut international vernetzt ist und ihre Projekte weltweit realisiert, ihre Website extensiv als Archivtool nutzt. Sie verwenden allerdings auch jeweils Teile ihrer Produktionsgelder für die Erstellung qualitativer Dokumentationen in den unterschiedlichsten Medien. In einem 2017 veröffentlichten Text haben wir den Befund thesenhaft als Arbeitsauftrag formuliert.21 3.

ammeln von Artefakten der Performancekunst: Dokument sein S und Werk werden Wir können seit geraumer Zeit eine Zunahme von Ausstellungen und Präsentationen in Museen, Kunsthallen und Galerien beobachten, die sich mit der Geschichte der Performancekunst beschäftigen oder Performances präsentieren. Zwei von zahlreichen Beispielen habe ich schon weiter oben im Zusammenhang mit der Studie zum Haus der Kunst in München genannt, zu weiteren haben wir in unserer Online-Zeitschrift MAP schon vor einer Weile Untersuchungsergebnisse veröffentlicht, so z. B. zu der konzeptionell wegweisenden Ausstellung Art, Lies and Videotape. Exposing Performance, die kuratiert von Adrian George 2003/04 in der Tate Liverpool gezeigt wurde.22 Dem gesamten Bereich der Verbindung von Aufführen und Ausstellen sowie der Präsentation von Performancekunst im Museumskontext ist unser 2021 erschienenes Arbeitsbuch Bewegen, Aufzeichnen, Aufheben, Ausstellen: Archivprozesse der Aufführungskünste23 gewidmet. Wir haben dort u. a. drei Fallstudien vorgestellt: zum zweiteiligen Projekt re.act. feminism, kuratiert von Bettina Knaup und Beatrice E. Stammer24, zu

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dem im ZKM/Museum für Neue Kunst Karlsruhe veranstalteten Projekt Moments. Eine Geschichte der Performance in 10 Akten25 und zu ›Retrospective‹ by Xavier Le Roy26. Und wir haben mehr als dreißig internationale Ausstellungen zum Thema dokumentiert sowie in ihren Zu­gängen und konzeptionellen Grundlagen zusammenfassend ausgewertet. In solchen Ausstellungen, die den Zugang zu Performancegeschichte mit aktuellen künstlerischen Positionen verbinden, findet sich vielfach eine Mischung von Artefakten aus dem Arbeitsprozess, unterschiedlichen medialen Aufzeichnungen als Dokumentation oder als Score und Relikte aus der Performance selbst, die – oftmals installativ inszeniert – zu einem neuen Werk werden können. Für Performancekünstlerinnen wie Joan Jonas oder Ulrike ­Rosenbach ist das Zirkulieren durch verschiedene Formate Teil ihrer künstlerischen Praxis. Jürgen Thaler hat im Kontext der Ausstellung VALIE EXPORT – Archiv (Kunsthaus Bregenz 2011) von »archivischen Konstellationen« gesprochen, die die Differenz zwischen Archivstück und Werk durchstreichen oder fluide werden lassen. Er schrieb dazu: olche archivischen Konstellationen sind jeweilige MomentaufS nahmen einer unendlichen Vielzahl von Möglichkeiten, die VALIE EXPORT im Rahmen von Werkpräsentationen oftmals erprobt hat. […] Die Hebung des Dokuments aus dem Archiv in eine archivische Konstellation (im Rahmen einer Ausstellung oder Publikation) ändert nicht nur dessen Status grundlegend, sondern auch den des korrespondierenden Werks.27 Die Frage, welche Artefakte oder Aktionen in Ausstellungen mit ­ elchem Zeigegestus präsentiert werden und was von ihnen wiederum w nachträglich zugänglich ist – z. B. in aufwendig gemachten Katalogen –, habe ich jüngst in einem Text beispielhaft an Katalogen und ­Werkverzeichnissen von VALIE EXPORT und Joan Jonas versucht nachzuzeichnen.28 Diese Formate der ›Archivierung‹, Katalog und Werkverzeichnis, sind Bestandteil institutioneller Regularien der Bildenden Kunst und haben dort eine wertschaffende Eigenschaft, die für die Zirkulation von Kunstwerken und Wissen über sie wichtig ist. In einem Nachtrag zu diesen Untersuchungen habe ich thematisiert, dass vergleichbare Verfahren oder Instrumente für den Bereich des Theaters/Tanzes nicht institutionalisiert sind.29 Insgesamt stellt sich für den Bereich des

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­ heaters/Tanzes und der Freien Szene die Frage nach Standards der T Dokumentation, ob sie sinnvoll und notwendig sind und ob sie als variable Tools entwickelt werden und den Künstler*innen zur Verfügung stehen können. Anschließend lässt sich eine weitere Beobachtung machen, und auch die Entstehung eines entsprechenden Diskurses ist zu verzeichnen: Dass nämlich eine Reihe international renommierter Kunstinstitute Performancekunst sammelt und sich damit völlig neuen Fragen der Werkbestimmung oder des Werkverständnisses und z. B. auch der Restaurierung stellen muss. Die Tate Modern hat in diesem Zusammenhang mehrere Forschungsprojekte aufgelegt und Veröffentlichungen vorgelegt, die diese Entwicklung beschreiben.30 So halten Pip ­Laurenson, die Chefkonservatorin der Tate London, und Vivian Van Saaze, Leiterin des Maastricht Centre for Arts and Culture, Conservation and Heritage (MACCH) 2014 in einem Aufsatz die Tendenz fest, wonach seit einiger Zeit anstelle von Relikten, archivischen Spuren und medialen Transformationen die Performance selbst gesammelt wird: I n the past, live performances were considered uncollectable because of their intangible nature. When museums collected anything related to performance, they collected the material remains of performance, never the performance itself as a live event. Only since the early 2000s, museums have begun to collect live works by acquiring the means and the rights to re-perform them.31 Diese Entwicklung erfordert auch auf der Seite der Museen neue Strategien des Aufbewahrens, der Präsentation und nicht zuletzt eine Neubestimmung des Werkbegriffs. Denn in Frage steht nun, was genau denn das Werk ›Performance‹ anderes ist als dessen Aufführung; welche Arten von Performance sammelbar sind, welche möglicherweise nicht; und wie sie z. B. durch Re-enactment/Re-performance aufbewahrt und (von wem?) authentifiziert werden: he types of performance works which enter collections as live T works can exist, at least theoretically, independent of the artist and can be repeated or re-activated in the future. In this sense they are durable and portable. Within current practice, artists are themselves finding formats that allow works which are not straightforward objects to be bought and sold, for example, by

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the use of scripts or instructions which enable others to perform and re-perform the work.«32 Zugleich wird mit dieser Entwicklung deutlich, wie das Ausstellen und Integrieren von Dokumenten, Zeugnissen oder Spuren vergangener Ereignisse – von Aufführungen und Performances – in den Kunstbetrieb zu neuen Formen der Zirkulation führt. Dies verflüssigt die Grenze zwischen Artefakten und Werken, lässt die Artefakte selbst zu Werken werden – entsprechende Wertsteigerungen auf dem Kunstmarkt inbegriffen.33 Einer derartigen Zirkulation könnten das öffentliche Interesse und das Interesse der Wissenschaft an einem beweglichen, also nicht kanonisierenden Zugang zu den Artefakten entgegenstehen. Versteht man Performancekunst und -theater, wie wir es tun, als eine Schnittstelle zwischen den Kunstfeldern, insbesondere zwischen denen der bildenden/visuellen Künste und Theater/Tanz, so lassen sich aus diesen Beobachtungen vor allem Fragen an die Vergleichbarkeit von Dokumentationsstrategien, Werkbegriffen und Sammelkontexten stellen. Diese Aspekte genauer zu untersuchen, wird eine der nächsten Forschungsaufgaben in dem durch unsere Projekte eröffneten Bereich sein.

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1 Das Forschungsprojekt Verzeichnungen. Medien und konstitutive Ordnungen von Archivprozessen der Aufführungskünste wurde von 2012 bis 2017 unter der Leitung von Barbara Büscher, Hochschule für Musik und Theater Leipzig, und Franz Anton Cramer, zu der Zeit am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz / Universität der Künste Berlin, durchgeführt und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert. Ergebnisse sind in verschiedenen Ausgaben der Online-Zeitschrift MAP (www.perfomap.de) veröffentlicht, sowie in: Büscher, B ­ arbara/Cramer, Franz Anton (Hrsg.): Fluid Access. Archiving Performance-Based Arts, Hildesheim, Zürich, New York 2017 und Büscher, Barbara/Cramer, Franz Anton: Bewegen, Aufzeichnen, Aufheben, Ausstellen: Archivprozesse der Aufführungskünste. Ein Arbeitsbuch, Leipzig 2021. (Enthält auch eine Liste von Veröffentlichungen aus dem Projekt.) 2 Stellvertretend sei genannt: Giannachi, Gabriella/Westerman, Jonah (Hrsg.): ­Histories of Performance Documentation, London, New York 2018. 3 Siehe dazu: Büscher, Barbara: »Aufzeichnen. Transformieren – Wie Wissen über vergangene Aufführungen zugänglich werden kann«, in: MAP 6, 2015, http://www.perfomap.de/map6/medien-und-verfahren-des-aufzeichnens/aufzeichnen.-transformieren, 10. Januar 2022; Büscher, Barbara: »Medial Gestures. On the decipherability of techno-images and their production«, in: MAP 7, 2016, http://www.perfomap.de/map7/media-performance-on-gestures. Zugegriffen: 10. Januar 2022. 4 Siehe dazu u. a.: Aufriß der Historischen Wissenschaften, Bd. 6: Institutionen, hrsg. v. Michael Maurer, Stuttgart 2002; Kwaschik, Anne/Wimmer, Mario (Hrsg.): Von der Arbeit des Historikers. Ein Wörterbuch zu Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaften, Bielefeld 2010. In einem grundlegend medienarchäologischen Sinne hat sich Wolfgang Ernst mit diesen drei unterschiedlichen ›Gedächtnisinstitutionen‹ beschäftigt: Ernst, Wolfgang: Im Namen von Geschichte, München 2003. 5 Wilfried Enderle: »Bibliotheken«, in: Aufriß, S. 214 – 315, S. 217. 6 Siehe z. B. die thematische Sektion »Gedächtnisinstitutionen in der digitalen Welt« auf dem Deutschen Historikertag 2021: https://www.historikertag. de/­Muenchen2021/sektionen/gedaechtnisinstitutionen-in-der-digitalen-welt-­ bibliotheken-museen-archive-und-die-geschichtswissenschaft/. Zugegriffen: 10. Januar 2022. 7 Zwei Publikationen aus unterschiedlichen Kontexten seien hier exemplarisch genannt: Bishop, Claire: Radical Museology, London 2013; Griesser-Stermscheg, Martina/Sternfeld, Nora/Ziaja, Luisa (Hrsg.): Sich mit Sammlungen anlegen. Gemeinsame Dinge und alternative Archive, Berlin, Boston 2020. 8 Siehe u. a. Schenk, Dietmar: ›Aufheben, was nicht vergessen werden darf.‹ Archive vom alten Europa bis zur digitalen Welt, Stuttgart 2013. 9 Als eine der frühen Quellen zum Thema Sammeln und Archivieren in unterschiedlichen Kunstfeldern ist immer noch dieser Band eine Fundgrube: Bismarck, ­Beatrice von et al. (Hrsg.): Interarchive. Archivarische Praktiken und Handlungsräume im zeitgenössischen Kunstfeld, Köln 2002. 10 So untersucht die Kunsthistorikerin Eva Froschauer z. B. das Sammeln als Teil von Entwurfsprozessen, in denen das Gesammelte genutzt, aktiviert und dynamisiert wird, also selbst wiederum zum Motor und Motivation von Gestalten (als Tätigkeit) wird. Froschauer, Eva Maria: »Sammeln«, in: Wittmann, Barbara (Hrsg.): Werkzeuge des Entwerfens, Zürich 2018, S. 245 – 261. Siehe auch: te Heesen, Anke/ E.C. Spary (Hrsg.): Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, Göttingen 2001. 11 Zitate aus der Selbstdarstellung auf der Website des Zentrums: www.valieexportcenter.at. Zugegriffen: 10. Januar 2022. 12 Zu Schwarze Lade allgemein, siehe: www.blackkit.org. Zugegriffen: 10. Januar 2022

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Archivprozesse

13 PANCH = Performance Art Network CH, siehe: www.panch.li. Zugegriffen: 20. Januar 2022; Rechercheprojekt »Archive des Ephemeren« 2017 – 2019. 14 Siehe dazu: Lurk, Tabea: »Live Art Data – Performancekunst zwischen Liveness und Datamanagement«, in: Wolfsteiner, Andreas u. a. (Hrsg.): Live Art Data. Neue ­Strategien der Theaterarchivierung, Hildesheim 2021, S. 128 – 135. 15 Siehe: Cramer, Franz Anton: »Archivanalyse: Haus der Kunst München«, in: MAP 9, Mai 2018, www.perfomap.de/map9/archiv-fragen/archiv-analysen-teil-2/ archiv-analyse-haus-der-kunst-muenchen. Zugegriffen:10. Januar 2022. Zu den Ausstellungen siehe: Büscher, Barbara: »Bewegung als Zugang. Performance – Geschichte – Ausstellen«, in: MAP 4, 2013, http://www.perfomap.de/map4/ausstellen-und-auffuehren/bewegung-als-zugang-performance-2013-geschichte-n-2013-ausstellen. Zugegriffen: 10. Januar 2022. 16 Cramer, Franz Anton: »Archivanalyse: HAU Hebbel am Ufer«, in: MAP 8, 2017, www. perfomap.de/map8/archiv.-analysen-teil-1/archiv-analyse-hau-hebbel-am-ufer-1. Zugegriffen: 10. Januar 2022. 17 Ortmann, Lucie: »Archivanalyse: steirischer herbst, Graz«, in: MAP 9, 2018, www.perfomap.de/map9/archiv-fragen/archiv-analysen-teil-2/archiv-analyse-­ steirischer-herbst-graz. Zugegriffen: 10. Januar 2022. 18 Nieslony, Boris: Die Schwarze Lade/ The Black Kit, hrsg. von EPI/ ASA – European, Köln 2009, http://www.asa.de/asa_broschure.pdf. Zugegriffen: 10. Januar 2022. 19 Fluxus! ›Antikunst‹ ist auch Kunst, Ausstellung vom 1. Dezember 2012 bis 28. April 2013, siehe: https://www.staatsgalerie.de/ausstellungen/rueckblick/fluxus.html. Zugegriffen:10. Januar 2022. 20 Die Untersuchungsergebnisse zu Rimini Protokoll sind veröffentlicht: Ortmann, Lucie: »Archiv-Analysen Teil 3: Dokumentation als Teil der Produktion RIMINI PROTOKOLL«, in: MAP 11, 2021, http://www.perfomap.de/map11/werk-geschichten/rimini-protokoll. Zugegriffen: 10. Januar 2022. 21 Siehe: MAP #8, 2017: http://www.perfomap.de/map8/archiv.-analysen-teil-1/ archivprozesse-manifestieren. Zugegriffen: 10. Januar 2022. 22 Siehe dazu: Büscher, Barbara: »Lost & Found. Archiving Performance«, in: MAP 1, 2009, http://www.perfomap.de/map1/ii.-archiv-praxis/lost-found-archiving-performance. Zugegriffen: 10. Januar 2022. 23 Büscher/Cramer: Bewegen, Aufzeichnen, Aufheben, Ausstellen, 2021. 24 Büscher, Barbara: »Archiv Werden: Das Projekt re.act.feminism als Demonstration eines Zugangs zu Performance-Geschichte«, in: Büscher/Cramer 2021, S. 26 – 49. 25 Cramer, Franz Anton: »Experimentelle Anordnung: Moments« in: Büscher/Cramer 2021, S. 50 – 72. 26 Cramer, Franz Anton: »Bewegung, Artefakt, Ausstellung: ›Retrospective‹ by Xavier Le Roy«, in: Büscher/ Cramer 2021, S. 73 – 96 (enthält auch eine Liste der Versionen von 2012 – 2019). 27 Thaler, Jürgen: »Archivische Konstellationen: VALIE EXPORT«, in: VALIE EXPORT und Yilmaz Dziewior (Hrsg.):VALIE EXPORT. Archiv, Bregenz 2012, S. 23 – 32, S. 28. 28 Büscher, Barbara: »Bücher von Gewicht – über VALIE EXPORT, Joan Jonas und die Wiener Aktionisten«, in: MAP 9, 2018, http://www.perfomap.de/map9/buch-kunst/ buecher-von-gewicht-ueber-valie-export-joan-jonas-und-die-wiener-aktionisten. Zugegriffen: 10. Januar 2022. 29 Diskutiert habe ich dort zwei Publikationen: das Workbook der Wooster Group (2007 erschienen) und Bojana Cvejic/De Keersmaeker A Choreographer’s Score (2013). Mein Text mit dem Titel »Easy Access? Books as archives of performance art and source material on its history« soll 2022 in einem von Tancredi Gusman herausgegebenen Band erscheinen. 30 Siehe dazu die Website der Tate Modern: www.tate.org.uk/research/publications/ performance-at-tate. Zugegriffen: 10. Januar 2022. 31 Laurenson, Pip/ Vivian van Saaze: »Collecting Performance-Based Art: New Challenges and Shifting Perspectives«, in: Remes, Outi et al. (Hrsg.): Performativity in the Gallery, New York 2014, S. 27 – 41, S. 27. 32 Ebd., S. 33. 33 Weitere Aspekte dieser komplexen Verschiebungen zwischen Ausstellung und Aufführen von Performancekunst habe ich untersucht in: Büscher, Barbara: »Über das Verhältnis von Performances, deren Geschichte(n) und dem Museum als ­Präsentationsort und -kontext«, in: Büscher/Cramer 2021, S. 97 – 115.

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Autor*innen

Herausgeber*innen Angie Hiesl + Roland Kaiser Angie Hiesl präsentiert als Pionierin für ortsspezifische Arbeit seit den 1980er Jahren und gemeinsam mit Roland Kaiser seit 1997 interdisziplinäre Projekte an der Schnittstelle von performativer und Bildender Kunst. Sie präsentieren ihre Projekte vornehmlich an »kunstfremden« Orten im privaten und öffentlichen Raum. Ihre künstlerischen und performativen Interventionen lassen neue Zusammenhänge entstehen, kondensieren die örtlichen Besonderheiten und setzen sie in Bezug zu gesellschaftlichen Befindlichkeiten und Phänomenen. Thematische Koordinaten sind das Verhältnis zwischen menschlichem Körper und Raum/Architektur sowie der Mensch in seinem kulturellen, sozialen, politischen und globalen Umfeld. Körper zwischen Be- und Entgrenzung sind zentrale Sujets. Hiesls und Kaisers originäre ästhetische Ausdrucksformen und Konzepte sind sinnliche Provokationen – eine Einladung für Publikum und Passant*innen, einen neuen Blick auf vertraut Geglaubtes zu werfen, eine Ver-Rückung der Realität. Sie vermitteln ihren Arbeitsansatz an nationalen und internationalen Akademien und Hochschulen. Die vielfach nominierten und ausgezeichneten Arbeiten werden weltweit gezeigt. ­ www.angiehiesl-rolandkaiser.de Almuth Fricke gründete und leitet seit 2008 das Kompetenzzentrum für Kulturelle Bildung im Alter und inklusive Kultur (kubia) am Institut für Bildung und Kultur e.V. in Köln. kubia unterstützt Kulturakteure und Kultureinrichtungen in Nordrhein-Westfalen durch Information, Beratung, Forschung, Förderung und Weiterbildung zu den Themen Kultur, Alter und Behinderung. Almuth Fricke ist in zahlreichen kulturpolitischen Gremien aktiv, u. a. im Vorstand des Kulturrats NRW und des Europäischen Netzwerks für Aktive Kulturteilhabe (AMATEO). Sie ist Herausgeberin der Zeitschrift Kulturräume+ und Herausgeberin und Autorin wissenschaftlicher Publikationen zu Kunst und Kultur im demografischen Wandel. www.kubia.nrw

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Autor*innen Barbara Büscher ist Professorin für Medientheorie/-geschichte und Intermedialität an der Hochschule für Musik und Theater »Felix ­Mendelssohn Bartholdy« Leipzig. Ihre ­aktuellen Forschungsschwerpunkte sind die Medien und Ordnungen von Performance-Archiven, Schnittstellen zwischen Theater und Medien, Raum als konstituierender Parameter von Kunst-Anordnungen sowie Fragen des Kuratierens in den Aufführungskünsten. Seit 2017 leitet sie gemeinsam mit Prof. Dr. Annette Menting das Forschungsprojekt Architektur und Raum für die Aufführungskünste (gefördert von der DFG). Sie ist Mitherausge­ berin des Online-Journals MAP media – archive – performance. www.perfomap.de Michael Freundt, geboren 1966, studierte in Leipzig Theaterwissenschaft, Philosophie und Tanzwissenschaft. Er war als freier Journalist und Kritiker tätig und als Regisseur, Dramaturg und Theaterproduzent in freien Projekten der Performing Arts in Leipzig, Münster und Berlin aktiv. Zwischen 1997 und 2002 Pressereferent und 2001 Künstlerischer Leiter der euro-scene Leipzig, arbeitete er von 2003 bis 2019 als Stellvertretender Direktor des Internationalen Theaterinstituts (ITI) – Zentrum Deutschland. Seit 2004 engagiert sich Michael Freundt in den Treffen der Ständigen Konferenz Tanz (jetzt: ­ Dachverband Tanz Deutschland) und wurde im März 2006 zum Geschäftsführer berufen. www.dachverband-tanz.de Cilgia Carla Gadola leitet beim Bundesverband Freie Darstellende Künste e.V. die ­Projekte Systemcheck und Background. Sie studierte zeitgenössischen Tanz, Theater- und Tanzwissenschaft. Seit 2006 lebt und arbeitet sie in Berlin, u. a. als Produktionsleitung für die Sophiensæle, als Kuratorin für SAVVY Contemporary, ada Studio & Bühne für ­zeitgenössischen Tanz und als Projektleitung für den Fonds Darstellende Künste e.V. Sie war im Vorstand von Zeitgenössischer Tanz­ Berlin e.V. und ist im Sprecher*­innenkreis der Koalition der Freien Szene ­Berlin. https://darstellende-kuenste.de/de/projekte/systemcheck.html Miriam Haller, Dr. phil., ist kulturwissenschaftliche Alterns- und ­ ildungswissenschaftlerin. Nach langen Jahren in der GeschäftsfühB rung und Leitung des Gasthörer- und ­Seniorenstudiums sowie des Center for Aging Studies (CEfAS) der Universität zu Köln, leitet sie seit

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Autor*innen

2019 den Bereich Forschung am Kompetenzzentrum für Kulturelle ­Bildung im Alter und inklusive Kultur (kubia) in Köln. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die ­Performanzen und die Performativität des Alter(n)s (»Ageing trouble«), kritische Analysen von Alter(n)sdiskursen, Ambivalenzen des Alter(n)s und biografische Übergänge, Generationendiskurse und intergenerationelles Lernen sowie die Kulturelle ­Bildung im Alter. www.passAGEnwerkstatt.de Fanni Halmburger wurde 1971 in Stuttgart geboren und lebt in Berlin. Von 1991 bis 1994 ließ sie sich im Sankt Gertrauden-Krankenhaus in Berlin-Wilmersdorf zur K ­ rankenschwester ausbilden. Von 1994 bis 1999 arbeitete sie als Krankenschwester im Krankenhaus und in der ambulanten Krankenpflege. Nebenher begann sie eine Karriere als Off-Filmemacherin. 1999 kam sie als Videokünstlerin und Bühnenbildnerin zu She She Pop. Seit 2003 ist sie Performerin und festes Mitglied der Gruppe. Sie war von 2007 bis 2012 Vorstandsmitglied des von ihr mit ins Leben gerufenen Landesverbands Freie Darstellenden Künste (LAFT) Berlin. www.sheshepop.de Frank Heuel, geboren 1960, ist künstlerischer Leiter des fringe ensemble und des Theater im Ballsaal, Bonn, und frei arbeitender Regisseur. 2002 wird Frank Heuel in der Zeitschrift Theater heute zum besten deutschen Nachwuchsregisseur nominiert. Für die ­Festivals Theaterzwang 2002 und friends 2004 übernimmt er die künstlerische Leitung. 2006 wird er mit dem NRW Förderpreis für die Produktion ­Geschichten+ ausgezeichnet. Verbandsarbeit im Vorstand der Kooperative freier Theater NRW (heute NRW Landesbüro Freie Darstellende Künste) von 2002 bis 2008. Am Theater Bonn ist er von 2007 bis 2009 künstlerischer Leiter des Club der Utopisten. Die Uraufführung von Zwei Welten, ebenfalls am Theater Bonn, wird zum NRW Theatertreffen 2010 eingeladen. Von 2011 bis 2014 war Frank Heuel Mitglied der Künstlerischen ­Leitung der Schaubühne Lindenfels in Leipzig. Von 2016 bis 2019 ist er im Rahmen des Artist-in-Residence-Programms der Kunststiftung NRW immer wieder in Istanbul. Viele seiner Arbeiten sind im internationalen Kontext e­ ntstanden – neben den Istanbul-Projekten sind dies Arbeiten in Ghana, Burkina Faso, Polen, Lettland, den Niederlanden und der Schweiz. www.frank-heuel.de

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Autor*innen

Constantin Hochkeppel ist Theatermacher im Bereich Physical Theatre: Er realisiert eigene Werke, erarbeitet Choreografien für ­ ­Theaterstücke an Stadt- und Staats­theatern und ist Tänzer und Schauspieler. Die Produktionen, an denen er beteiligt ist, wurden bereits mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Seit 2021 ist er Stipendiat der Kölner KunstSalon Stiftung und im August 2021 wurde ihm auf Vorschlag des Regisseurs und Intendanten Ulrich Greb der Förderpreis der Sparkassen Kulturstiftung Rheinland verliehen. Neben KimchiBrot Connection ist er Mitglied der Tanztheatercompany performing:group. www.constantinhochkeppel.de Ariane Koch, geboren 1988 in Basel, studierte u. a. Bildende Kunst und Interdisziplinarität. Sie schreibt – manchmal in Kollaboration – Prosa-, Theater- und Performancetexte. Zuletzt erschien ihr Debütroman Die Aufdrängung, der mit dem aspekte-Literaturpreis 2021 und einem Schweizer Literaturpreis 2022 ausgezeichnet wurde. Zusammen mit der Theaterautorin Hannah Zufall hat sie die Initiative The Golden Age gegründet, die sich für mehr ältere Frauen* am Theater einsetzt. www.arianekoch.ch Alexandra Kolb ist Professorin für Tanz an der University of Roehampton, London. Sie hat zahlreiche wissenschaftliche Artikel und drei Bücher veröffentlicht: Performing ­Femininity: Dance and Literature in German Modernism (2009), den Sammelband Dance and Politics (2011) und zuletzt Dancing Europe: Identities, Languages, Institutions (2022, Mitherausgeberin mit Nicole Haitzinger). Sie ist Trägerin des Marlis Thiersch Prize, des Gertrude Lippincott Award, eines Harry Ransom Fellowship und einer Gastprofessur an der Universität Grenoble. Derzeit schreibt sie an einer Monografie über Dancing the E ­ veryday: ­Choreographies of the Ordinary and their Corporeal Politics. Gerda König gründete 1995 die DIN A 13 tanzcompany, die heute weltweit zu einem der führenden mixed-abled-Tanzensembles zählt. Von Beginn an ist ihr choreografischer Werdegang geprägt von der Vision, die Bewegungsqualität »anderer Körper« zu nutzen, um neue ästhetische Ansätze einer zeitgenössischen Tanzsprache zu entwickeln. Als künstlerische Leiterin und Tänzerin des Ensembles inszeniert sie zahlreiche abend­füllende Produktionen, die auf internationalen Tanzfestivals in Europa, in Nord- und Südamerika gastieren. Im Rahmen der Tanzplattform Deutschland 2006 wurde Gerda König durch das Internationalen Theaterinstitut (ITI) als eine wichtige Vertreterin des zeit-

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Autor*innen

genössischen Tanzes in Deutschland ernannt. www.din-a13.de Lisa Lucassen wurde 1969 in Düsseldorf geboren und lebt in Berlin. Sie studierte von 1990 bis 1995 am Gießener Institut für Angewandte Theaterwissenschaft, wo sie in zahlreichen Produktionen auf der ­ »­Probebühne« stand. Sie ist Performerin und Gründungsmitglied der Gruppe She She Pop. Außerdem war sie als Gastperformerin, z. B. beim Labor für Kontrafaktisches Denken und andcompany&Co. zu sehen. www.sheshepop.de Dorothea Marcus, geboren 1969, hat Germanistik und Geschichte in Berlin studiert und ist heute Kulturjournalistin, Radioautorin und Theaterkritikerin in Köln. Sie arbeitet u. a. für DLF, WDR, Theater heute, nachtkritik.de. Sie hat in NRW das Portal Kritik-gestalten mitgegründet, das an neuen Formen der Theaterkritik forscht. Sie moderiert kulturpolitische Podiumsdiskussionen und hat Lehraufträge an der Universität zu Köln und der Deutschen Sporthochschule Köln. Sie war und ist Mitglied diverser Theaterjurys, u. a. des Berliner Theatertreffens. www.kritik-gestalten.de Susanne Martin (PhD) performt, erforscht und unterrichtet zeitgenössischen Tanz. Schwerpunkte sind Improvisation, Contact Improvisation und Methoden der künstlerischen Forschung. In ihrer Dissertation Dancing Age(ing) untersuchte sie, wie Tanz kritisch in unsere Alter(n)skultur intervenieren kann. Zurzeit erforscht sie an der EPFL (Schweiz) das Potenzial von Tanzimprovisation für die Lehr-, Lern- und Forschungskultur an technischen Universitäten. www.susannemartin.de Madeline Ritter ist ausgebildete Volljuristin, Kulturmanagerin und Coach für Veränderungsprozesse. Von 2004 bis 2019 konzipierte und leitete sie innovative Tanzförderprogramme für die Kulturstiftung des Bundes (Tanzplan Deutschland, Tanzfonds Partner, Tanzfonds Erbe). Für wegweisende Maßnahmen zur Sicherung des Tanzerbes erhielt ihre gemeinnützige Organisation Diehl+Ritter den wichtigsten Kulturerbepreis der ­ Europäischen Union, den Europa Nostra Award. Diehl+Ritter setzt mit der Initiative Dance On ein kulturpolitisches Signal gegen Altersdiskriminierung und stärkt mit den Bundesförderprogrammen TANZPAKT Stadt-Land-Bund und TANZPAKT Reconnect nachhaltig Strukturen im Tanz. Madeline Ritter ist u. a. Mitglied im Auf-

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Autor*innen

sichtsrat der Kulturfabrik Kampnagel und Vorsitzende des Beirats der Pina Bausch Foundation. www.bureau-ritter.de www.dance-on.net Inge Katharine Sehnert erhielt ihre Tanzausbildung bei Mary Wigman in Berlin. 1962 Mitgründerin der Studiogruppe für Neuen Tanz »Motion« Berlin. Nach ihrer Tätigkeit als Tänzerin und Assistentin bei Pina Bausch am Folkwang Tanzstudio Essen Wechsel nach Frankfurt. 1976 Gründung der Gruppe »Mobile«, 1978 Preisträgerin beim Internationalen Choreografen-Wettbewerb in Paris. 1982 eröffnete sie den TANZRAUM Köln als Unterrichts- und Aufführungsstätte, gründete 1986 die Gruppe »Kontinuum«, erhielt 1994 den Kölner Tanzpreis und 2009 den Ehrentheaterpreis der Stadt Köln. Freischaffend tätig als Choreografin, Performerin und Pädagogin sowie als Tanzcoach, wobei der Schwerpunkt auf der Erarbeitung von Rekonstruktionen der Choreografien Mary Wigmans und der Vermittlung ihrer pädagogischen Prinzipien liegt. www.katharinesehnert.com Kathrin Tiedemann, Theaterwissenschaftlerin und Dramaturgin, ist seit August 2004 künstlerische Leiterin und Geschäftsführerin des FFT Düsseldorf. Das FFT (Forum Freies Theater) ist ein deutschlandweit und international agierendes Produktionshaus für ­Theater und Performing Arts. Zuvor war Kathrin Tiedemann Dramaturgin auf ­Kampnagel in Hamburg, Mitbegründerin und Kuratorin des Festivals reich & berühmt in Berlin und arbeitete als Redakteurin und Autorin u. a. für die Wochenzeitung Freitag (Redakteurin für Theater, Film, Medien) und Theater der Zeit. Sie ist Mitherausgeberin der Reihe Postdramatisches Theater in Portraits, die seit 2020 im Auftrag der Kunststiftung NRW im Alexander Verlag Berlin erscheint. www.fft-duesseldorf.de Helena Waldmann versteht Tanz als eine politische Kunst. Ihre Choreografien entstehen und touren seit 1993 weltweit. Es dominieren Arbeiten in Auseinandersetzung mit Zensur (Letters from Tentland – Iran), Unterdrückung (BurkaBondage – Kabul/Tokio), der sozial geächteten Rolle des Vergessens (revolver besorgen – Berlin), der Ausbeutung in der Textil- und Kulturindustrie (Made in Bangladesh – Dhaka) und dem Pass als ersten Repräsentanten des Nationalismus (Gute Pässe Schlechte Pässe). www.helenawaldmann.com 212


Autor*innen

Franziska Werner ist seit 2011 künstlerische Leiterin der Sophiensæle Berlin. Ihre ­Themen sind Arbeitsethik sowie macht- und diskrimi­ nierungssensibles Arbeiten, die Verknüpfung von Humor und Feminismus und von performativer, sozialer und urbaner Praxis. In den Sophiensælen co-kuratierte sie u. a. Festivals wie Berlin del Mar (2011), Männer in Garagen (2014), The Future is F*E*M*A*L*E (2017), Das OstWest-Ding (2019) und Coming of Age (2021). Sie ist in Jurys, Mentor*­ innenprogrammen und kulturpolitischen Kontexten aktiv, u. a. im Rat für die Künste Berlin (seit 2012). www.sophiensaele.com Hannah Zufall studierte Szenische Künste, promovierte in Literaturwissenschaften und arbeitet als freie Autorin für Theater, Oper und Film. Nach Auftragsarbeiten u. a. für die Philharmonie Jena, das Orchestre National Tunisien, die Kammerphilharmonie Bremen, das Deutsche Theater Göttingen sowie das Zimmertheater Tübingen folgen demnächst Uraufführungen am Deutschen Theater Göttingen sowie Premieren am Landestheater Schwaben und an der Oper Leipzig. Zuletzt hat sie an der Fernsehserie Warten auf’n Bus des RBB mitgeschrieben. www.hannah-zufall.de

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Zitatnachweise Die hervorgehobenen Zitate sind den jeweiligen Textbeiträgen der Autor*innen aus ­diesem Band entnommen: S. 26: S. 44: S. 54: S. 74: S. 82: S. 108: S. 118: S. 140: S. 152: S. 178: S. 190:

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Constantin Hochkeppel Katharine Sehnert Gerda König Constantin Hochkeppel Franziska Werner Kathrin Tiedemann Helena Waldmann Gerda König Katharine Sehnert Katharine Sehnert Helena Waldmann


Recherchen 1 3 4 6 7

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Maßnehmen: Die Maßnahme . Kontroverse Perspektive Praxis Brecht/ Eislers Lehrstück Adolf Dresen – Wieviel Freiheit braucht die Kunst? . Reden Briefe Verse Spiele Rot gleich Braun . Brecht-Tage 2000 Zersammelt . Die inoffizielle Literaturszene der DDR Martin Linzer – »Ich war immer ein Opportunist …« . 12 Gespräche über Theater und das Leben in der DDR, über geliebte und ungeliebte Zeitgenossen Jost Hermand – Das Ewig-Bürgerliche widert mich an . Brecht-Aufsätze Die Berliner Ermittlung von Jochen Gerz und Esther Shalev-Gerz – Theater als öffentlicher Raum Friedrich Dieckmann – Die Freiheit ein Augenblick . Texte aus vier Jahrzehnten Brechts Glaube . Brecht-Tage 2002 Hans-Thies Lehmann – Das Politische Schreiben . Essays zu Theatertexten Manifeste europäischen Theaters . Theatertexte von Grotowski bis Schleef Jeans, Rock & Vietnam . Amerikanische Kultur in der DDR Szenarien von Theater (und) Wissenschaft Die Insel vor Augen . Festschrift für Frank Hörnigk Falk Richter – Das System . Materialien Gespräche Textfassungen zu »Unter Eis« Brecht und der Krieg . Brecht-Tage 2004 Gabriele Brandstetter – BILD-SPRUNG . TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien Johannes Odenthal – Tanz Körper Politik . Texte zur zeitgenössischen Tanzgeschichte Carl Hegemann – Plädoyer für die unglückliche Liebe . Texte über Paradoxien des Theaters 1980 – 2005 VOLKSPALAST . Zwischen Aktivismus und Kunst. Aufsätze Brecht und der Sport . Brecht-Tage 2005 Theater in Polen . 1990 – 2005 Politik der Vorstellung . Theater und Theorie Das Analoge sträubt sich gegen das Digitale? . Materialitäten des deutschen Theaters in einer Welt des Virtuellen Stefanie Carp – Berlin / Zürich/ Hamburg . Texte zu Theater und Gesellschaft Durchbrochene Linien . Zeitgenössisches Theater in der Slowakei Friedrich Dieckmann – Bilder aus Bayreuth . Festspielberichte 1977 – 2006 Sire, das war ich . Lessings Schlaf Traum Schrei Heiner Müller Werkbuch Sabine Schouten – Sinnliches Spüren . Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater Die Zukunft der Nachgeborenen . Brecht-Tage 2007

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Autor*innen

Joachim Fiebach – Inszenierte Wirklichkeit . Kapitel einer Kulturgeschichte des Theatralen Angst vor der Zerstörung . Der Meister Künste zwischen Archiv und Erneuerung Strahlkräfte . Festschrift für Erika Fischer-Lichte Martin Maurach – Betrachtungen über den Weltlauf . Kleist 1933 –1945 Im Labyrinth . Theodoros Terzopoulos begegnet Heiner Müller Kleist oder die Ordnung der Welt Helene Varopoulou – Passagen . Reflexionen zum zeitgenössischen Theater Elisabeth Schweeger – Täuschung ist kein Spiel mehr . Nachdenken über Theater Theaterlandschaften in Mittel-, Ost- und Südosteuropa Anja Klöck – Heiße West- und kalte Ost-Schauspieler? . Diskurse, Praxen, Geschichte(n) zur Schauspielausbildung in Deutschland nach 1945 Vasco Boenisch . Krise der Kritik? . Was Theaterkritiker denken – und ihre Leser erwarten Theater in Japan Sabine Kebir – »Ich wohne fast so hoch wie er« Steffin und Brecht Das Angesicht der Erde . Brechts Ästhetik der Natur . Brecht-Tage 2008 Go West . Theater in Flandern und den Niederlanden Reality Strikes Back II . Tod der Repräsentation per.SPICE! . Wirklichkeit und Relativität des Ästhetischen Radikal weiblich? . Theaterautorinnen heute Frank Raddatz – Der Demetriusplan . Oder wie sich Heiner Müller den Brechtthron erschlich Müller Brecht Theater . Brecht-Tage 2009 Falk Richter – Trust Woodstock of Political Thinking . Im Spannungsfeld zwischen Kunst und Wissenschaft Die Kunst der Bühne . Positionen des zeitgenössischen Theaters Working for Paradise . Der Lohndrücker. Heiner Müller Werkbuch Die neue Freiheit . Perspektiven des bulgarischen Theaters B. K. Tragelehn – Der fröhliche Sisyphos . Der Übersetzer, die Übersetzung, das Übersetzen Macht Ohnmacht Zufall . Aufführungspraxis, Interpretation und Rezeption im Musiktheater des 19. Jahrhunderts und der Gegenwart Die andere Szene . Theaterarbeit und Theaterproben im Dokumentarfilm

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Adolf Dresen – Der Einzelne und das Ganze . Zur Kritik der Marxschen Ökonomie Wolfgang Engler – Verspielt . Schriften und Gespräche zu Theater und Gesellschaft Magic Fonds . Berichte über die magische Kraft des Kapitals Das Melodram . Ein Medienbastard Dirk Baecker – Wozu Theater? Rimini Protokoll – ABCD Rainer Simon – Labor oder Fließband? . Produktionsbedingungen freier Musiktheaterprojekte an Opernhäusern Lorenz Aggermann – Der offene Mund . Über ein zentrales Phänomen des Pathischen Ernst Schumacher – Tagebücher 1992 – 2011 Theater im arabischen Sprachraum Wie? Wofür? Wie weiter? . Ausbildung für das Theater von morgen Theater in Afrika – Zwischen Kunst und Entwicklungszusammenarbeit . Geschichten einer deutsch-malawischen Kooperation Roland Schimmelpfennig – Ja und Nein . Vorlesungen über Dramatik Horst Hawemann – Leben üben . Improvisationen und Notate Reenacting History: Theater & Geschichte Dokument, Fälschung, Wirklichkeit . Materialband zum zeitgenössischen Dokumentarischen Theater Theatermachen als Beruf . Hildesheimer Wege Parallele Leben . Ein DokumentarTheaterprojekt zum Geheimdienst in Osteuropa Die Zukunft der Oper . Zwischen Hermeneutik und Performativität FIEBACH . Theater. Wissen. Machen Auftreten . Wege auf die Bühne Kathrin Röggla – Die falsche Frage . Theater, Politik und die Kunst, das Fürchten nicht zu verlernen Momentaufnahme Theaterwissenschaft . Leipziger Vorlesungen Italienisches Theater . Geschichte und Gattungen von 1480 bis 1890 Infame Perspektiven . Grenzen und Möglichkeiten von Performativität und Imagination Vorwärts zu Goethe? . Faust-Aufführungen im DDR-Theater Theater als Intervention . Politiken ästhetischer Praxis Hans-Thies Lehmann – Brecht lesen Du weißt ja nicht, was die Zukunft bringt . Die Expertengespräche zu »Die Schutzflehenden / Die Schutzbefohlenen« am Schauspiel Leipzig

125 Henning Fülle – Freies Theater . Die Modernisierung der deutschen Theaterlandschaft (1960 – 2010) 126 Christoph Nix – Theater_Macht_Politik . Zur Situation des deutschsprachigen Theaters im 21. Jahrhundert 127 Darstellende Künste im öffentlichen Raum . Transformationen von Unorten und ästhetische Interventionen 128 Transformationen des Theaters in Ostdeutschland zwischen 1989 und 1995 . Umbrüche und Aufbrüche 129 Applied Theatre . Rahmen und Positionen 130 Günther Heeg – Das Transkulturelle Theater 131 Vorstellung Europa – Performing Europe . Interdisziplinäre Perspektiven auf Europa im Theater der Gegenwart 132 Helmar Schramm – Das verschüttete Schweigen . Texte für und wider das Theater, die Kunst und die Gesellschaft 133 Clemens Risi – Oper in performance . Analysen zur Aufführungsdimension von Operninszenierungen 134 Willkommen Anderswo – sich spielend begegnen . Theaterarbeiten mit Einheimischen und Geflüchteten 135 Flucht und Szene . Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden 136 Recycling Brecht . Materialwert, Nachleben, Überleben 137 Jost Hermand – Die aufhaltsame Wirkungslosigkeit eines Klassikers . Brecht-Studien 139 Theater der Selektion . Personalauswahl im Unternehmen als ernstes Spiel 140 Thomas Wieck – Regie: Herbert König . Über die Kunst des Inszenierens in der DDR 141 Praktiken des Sprechens im zeitgenössischen Theater 143 Ist der Osten anders? . Expertengespräche am Schauspiel Leipzig 144 Gold L’Or . Ein Theaterprojekt in Burkina Faso 145 B. K. Tragelehn – Roter Stern in den Wolken 2 146 Theater in der Provinz . Künstlerische Vielfalt und kulturelle Teilhabe als Programm 147 Res publica Europa . Networking the performing arts in a future Europe 148 Julius Heinicke – Sorge um das Offene . Verhandlungen von Vielfalt im und mit Theater 149 Julia Kiesler – Der performative Umgang mit dem Text . Ansätze sprechkünstlerischer Probenarbeit im zeitgenössischen Theater 150 Raimund Hoghe – Wenn keiner singt, ist es still . Porträts, Rezensionen und andere Texte (1979–2019)


Recherchen

Autor*innen

151 David Roesner – Theatermusik . Analysen und Gespräche 152 Viktoria Volkova – Zur Konstituierung der Kunstfigur durch soziale Emotionen 153 Wer bin ich, wenn ich spiele? . Fragen an eine moderne Schauspielausbildung? 154 Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung . ­Fragen an Heiner Müller 155 TogetherText . Prozessual erzeugte Texte im Gegenwartstheater 156 Ästhetiken der Intervention . Ein- und Übergriffe im Regime des Theaters 157 Theater in Afrika II – Theaterpraktiken in Begegnung 158 Joscha Schaback – Kindermusiktheater in Deutschland 159 Inne halten: Chronik einer Krise 160 Heiner Goebbels – Ästhetik der ­Abwesenheit . Texte zum Theater . ­ Erweiterte Neuauflage 161 Günther Heeg – Fremde Leidenschaften Oper . Das Theater der Wiederholung I

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Aufgrund der sich verändernden Altersstruktur unserer Gesellschaft verändert sich auch die Perspektive auf den Begriff „Alter“. Welchen Einfluss hat das Alter(n) auf die Darstellenden Künste? Welche Herausforderungen stellen sich den Künstlerinnen und Künstlern, egal ob sie am Anfang einer Karriere stehen oder etabliert sind? In welchem Verhältnis stehen Alter und Kunst zueinander? Wie wirkt sich das Alter eines Künstlers bzw. eines Werks auf die Akzeptanz im Kulturmarkt aus? Wie steht es um die sozioökonomische Realität und Alterssicherung? Welche strukturellen Hindernisse und Diskriminierungen gilt es zu überwinden und wie sehen generationengerechte Lösungen und Förderkonzepte aus? Aus Anlass des 25-jährigen Jubiläums ihres Projektes x-mal Mensch Stuhl, das den alten Menschen in der Gesellschaft ins Zentrum stellt, entwickelte das Künstlerduo Angie Hiesl + Roland Kaiser die Idee, sich mit diesen Fragen in einer Interviewreihe und einem Symposium diskursiv zu befassen. Dieser Band greift die Themen des Symposiums auf und führt sie mit weiteren Fachbeiträgen fort.

978-3-95749-406-1 www.theaterderzeit.de


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