AKTUELL Mindestlohn
Tarifautonomie in Not Die Ampel baut den Mindestlohn zum „Living Wage“ aus und läutet damit einen Paradigmenwechsel ein – weg von der Sozialpolitik als Aufgabe des Staates hin zu den Tarifvertrags- und Arbeitsvertragsparteien. Mit Folgen für die Tarifautonomie.
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as Bundeskabinett hat am 23. Februar 2022 den Gesetzes entwurf zur Erhöhung des Mindestlohns gebilligt. Die politisch beschlossene Anhebung auf zwölf Euro je Stunde zum 1. Oktober 2022 wird weit über 100 Tarifverträge und viele Lohngruppen verdrängen und damit tief in die Tarifautonomie eingreifen. Dabei ist weniger das politische Ziel, den Mindestlohn zu erhöhen, ein Problem als die Art und Weise, wie dies geschieht. Nach der Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015 in Höhe von 8,50 Euro je Stunde setzt der Staat zum zweiten Mal einen politischen Lohn fest. Dies hat es zuletzt in der Weimarer Republik gegeben. Dort wurden „Staatslöhne“ im Wege der Zwangsschlichtung und der Notverordnungspolitik eingeführt.
Dr. Hagen Lesch
Foto: IW
Leiter Kompetenzfeld Tarifpolitik und Arbeitsbeziehungen, IW Institut der deutschen Wirtschaft Köln
Das schadete der Tarifautonomie, weil die ohnehin nicht besonders kooperationsfähigen Tarifpartner ihre lohnpolitische Verantwortung zunehmend auf den Staat abwälzten. Damit fielen sie in der Weltwirtschaftskrise der frühen 1930er Jahre als Stabilisator des strauchelnden politischen Systems aus. Die Bundesrepublik ist zwar demokratisch gefestigt. Aber auch heute stellt sich die Frage, welchen Einfluss der Staat und welchen die Tarifparteien im Lohnfindungsprozess noch haben sollen. Die anhaltende Organisationsschwäche der Gewerkschaften – sie organisieren gerade einmal 17 Prozent aller Arbeitnehmer – stellt dabei ein noch größeres Problem dar, als die abnehmende Bereitschaft von Betrieben, Tarifverträge anzuwenden. Durch „Staatslöhne“ wird die Notwendigkeit eines Gewerkschaftsbeitritts dort geschmälert, wo eine kollektive Vertretung von Arbeitnehmerinteressen am notwendigsten wäre. Die Hilferufe der Gewerkschaften, die selbst kein wirksames Rezept gegen ihren Mitgliederschwund finden, werden den Staat zu weiteren Eingriffen nötigen.
Durch „Staatslöhne“ wird die Notwendigkeit eines Gewerkschafts beitritts dort geschmälert, wo eine kollektive Vertretung von Arbeitnehmerinteressen am notwendigsten wäre. 30
Der robuste Arbeitsmarkt wird die Mindestlohnerhöhung von 22 Prozent vermutlich verkraften und die vor allem ab 2023 zu erwartenden mindestlohnbedingten Preissteigerungen dürften nach jüngsten Berechnungen der Deutschen Bundesbank überschaubar bleiben. Gleichwohl erhöhen sie in einem Umfeld allgemeiner Preissteigerungen die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale. Sollte der Mindestlohn Arbeitsplätze gefährden, muss politisch diskutiert werden, ob Beschäftigungsverhältnisse, denen ein Mindestlohn zugrunde liegt, subventioniert werden. Anstelle einer Aufstockung geringer Erwerbseinkommen würde dann eine Subvention auf unrentable Arbeitsplätze gezahlt. Neben der Frage nach den – vorab nur schwer prognostizierbaren – wirtschaftlichen Auswirkungen wirft
TREND 1/2 2022