Teil 1 - Master-Thesis - Analyse

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Master Thesis

Zwischen Wasser und Welterbe - Stadtteilentwicklung am Schiffbauerdamm

Between Water and World Heritage - Urban Development at the Schiffbauerdamm

Prüfer:

Prof. Dr. Matthias Kathmann

Prof. Dipl. Ing. Joachim Joedicke

Vorgelegt von: Lürbke, Damian - Matr. 247038

Geb. am: 11.02.1998

Hochschule Wismar - University of Applied Science Technology, Business and Design

Fakultät Gestaltung

Studiengang Architektur

Wismar, den 19.01.2023

Master-Thesis „Zwischen Wasser und Welterbe“

Vorwort

Diese Theoriearbeit wird im Rahmen des Architekturstudiums in dem Modul „PM06 Thesis und Kolloquium“ als Masterarbeit vorgelegt. Sie behandelt das Thema der städtebaulichen Nachverdichtung auf dem Parkplatz Altstadt / Westhafen, Schiffbauerdamm 1A, 23966 Wismar, auf dem ein gemischtes Gebäudenutzungskonzept implementiert werden soll. Die Bearbeitung dieser Aufgabenstellung erfolgt initiativ und wird rein auf theoretischer Ebene behandelt.

Danksagung

Ich möchte mich an erster Stelle bei meinen Eltern bedanken, die mich während meines gesamten Studiums unterstützt und motiviert haben.

Darüber hinaus danke ich Prof. Dr. Matthias Kathmann und Prof. Dipl. Ing. Joachim Joedicke für die engagierte und professionelle Betreuung dieser Thesis.

Damian Lürbke, Matr. 247038 Wintersemester 2022/23
Master-Thesis „Zwischen Wasser und Welterbe“ Inhalt 1 Einleitung 1 2 Problemstellung 1 3 These 1 4 Relevanz der Betrachtung 2 5 Methodik 2 6 Theoretischer Diskurs 3 6.1 Stadtentwicklung der Hansestadt Wismar 3 6.1.1 Einleitung 3 6.1.2 Sanierungsstand der Altstadt 5 6.1.3 Wohnungsleerstandsentwicklung 7 6.1.4 Verkehrsstruktur und Parkraumkonzept 8 6.1.5 Der ISEK-Maßnahmenkatalog 13 6.1.6 Definition der Entwurfsparameter 14 6.2 Genius Loci Analyse 15 6.2.1 Kartenanalyse 15 6.2.2 Fotoanalyse 18 6.2.3 Definition der Entwurfsparameter 24 6.3 Hochwasserangepasstes Bauen 26 6.3.1 Einleitung 26 6.3.2 Meeresspiegelanstieg an der Ostseeküste 27 6.3.3 Ostseesturmfluten 29 6.3.4 Hochwasserrisikokarten Wismar 31 6.3.5 Bauvorsorgestrategien im Vergleich 35 6.3.6 Bewertung der Bauvorsorgestrategien in Bezug auf das Projektgebiet 37 6.3.7 Definition der Entwurfsparameter 39
Damian Lürbke, Matr. 247038 Wintersemester 2022/23 7 Der Entwurf 41 7.1 Transformation der Entwurfsparameter 43 7.1.1 Städtebauliche Endwurfskizze 43 7.1.2 Arbeitsmodell 47 7.1.3 Nutzungsprogramm 49 7.1.4 Erschließung 51 7.1.5 Grünraum 53 7.1.6 Dachformen 55 7.1.7 Hochwasser Bauvorsorge 57 7.1.8 Fußabdruck 59 7.1.9 Lageplan 61 7.2 Grundrisse 63 7.2.1 Warft-Geschoss 63 7.2.2 Erdgeschoss 69 7.2.3 1. Obergeschoss 75 7.2.4 2. Obergeschoss 81 7.2.5 3. Obergeschoss 87 7.3 Konstruktion 93 7.3.1 Hochwasser Bauvorsorge 95 7.3.2 Materialität 95 7.3.3 Nachhaltigkeit 95 7.4 Ansichten 99 7.5 Schnitte 101 8 Grad der Zielerreichung 103 9 Fazit 104 Anhang Abbildungsverzeichnis I Tabellenverzeichnis III Literaturverzeichnis III Selbstständigkeitserklärung IV

1. Einleitung

Der vorliegende Entwurf beschäftigt sich mit der Flächenumnutzung des Parkplatzes Altstadt / Westhafen, Schiffbauerdamm 1A, 23966 Wismar. Dieser ist mit 270 Stellplätzen der zweitgrößte kostenpflichtige PKW-Parkplatz in Wismar und umfasst rund 9.000 m2. Der Standort in der Schnittstelle zwischen Altstadt und Hafen wäre nicht nur zum Parken äußerst attraktiv, wird aber aktuell nur zu diesem Zweck verwendet. Durch die Bearbeitung sollen die städtebaulichen Missstände des Ortes aufgezeigt und darauf aufbauend die Chancen zur Stadtentwicklung durch eine alternative Bebauung entwickelt werden.

2. Problemstellung

Die Formulierung der Problemstellung zum Entwurf beruht auf Beobachtungen und Erfahrungswerten zum Gebiet, die über den Zeitraum des fünfjährigen Studiums gesammelt wurden. Die Auslastung des Parkplatzes ist außerhalb der Sommermonate in der Regel gering, da die Hauptnutzergruppe maßgeblich aus Touristen besteht. Wismarer Einwohner kennen entweder Ausweichoptionen oder dürfen durch Anwohnerparken-Regelungen innerhalb der Altstadt parken. Die Nutzung der Fläche ist somit nicht nur einseitig, sondern auch unausgelastet. Würden auch andere Nutzungen zugelassen werden, könnte das die Lebensqualität für alle Nutzergruppen verbessern.

Im Hafengebiet Wismars kommt es außerdem regelmäßig zu Sturmfluten, welche den Parkplatz unter Wasser setzen und unter anderem auch die parkenden Autos beschädigen. Durch eine Reduzierung der Parkplätze zugunsten eines resilienten Hochwasserschutzes könnte dem entgegengewirkt werden.

3. These

Im Zuge des Entwurfs ist durch eine architektonische Lösung zu belegen, dass sich der Parkplatz Altstadt / Westhafen zur städtebaulichen Nachverdichtung eignet.

Master-Thesis
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„Zwischen Wasser und Welterbe“

4. Relevanz der Betrachtung

In der Entwurfsbearbeitung wird von einer zukünftigen, nachhaltigen Verkehrswende ausgegangen, durch die der Besitz eines privaten Autos für viele Menschen überflüssig werden kann, da sie genug alternative Verkehrsmittel zur Auswahl haben. Wenn diese Wende gelingt, werden insbesondere die Flächen von PKW-Stellplätzen frei für die städtebauliche Nachverdichtung. Der vorliegende Entwurf kann als Beispiel für den Umgang mit diesen Flächen gesehen werden.

Die städtebauliche Nachverdichtung ist in Wismar insofern relevant, dass der Bedarf an Wohnraum in der Altstadt immer weiter steigt, während mittlerweile die Grundstücke für Neubauten ausgehen. Dieser Thema wird in der Analyse näher beleuchtet.

5. Methodik

Zur Untersuchung der These wird ein theoretischer Diskurs durchgeführt, aus dem die entscheidenden Parameter für den Entwurf gezogen werden sollen. Für die Definition der Parameter werden Literatur- und Kartenanalysen sowie eine Vor-Ort-Analyse durchgeführt. Übergeordnet werden drei Themen behandelt:

• Stadtentwicklung in der Hansestadt Wismar

• Genius Loci

• Hochwasserangepasstes Bauen

Um die Erkenntnisse aus den analysierten Daten einfach ablesbar in den Entwurf einfließen zu lassen, werden sie nach jedem Kapitel als einzelne Entwurfsparameter zusammengefasst und nach erfolgter Transformation sinnbildlich abgehakt.

Auf die schrittweise Transformation der Parameter in Form von Piktogrammen und einem Arbeitsmodell folgen die eigentlichen Entwurfspläne mit denen die These belegt werden soll.

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6. Theoretischer Diskurs

6.1 Stadtentwicklung in der Hansestadt Wismar

6.1.1 Einleitung

Die Hansestadt „Wismar ist [...] Kreisstadt des Landkreises Nordwestmecklenburg, die sechstgrößte Stadt Mecklenburg-Vorpommerns und eines der 18 Mittelzentren des Bundeslandes. Der Landkreis Nordwestmecklenburg ist seit 2012 einer der Träger der Metropolregion Hamburg (MRH).“1 Wismar gliedert sich in acht Stadtteile, inmitten welcher sich die historische Altstadt befindet. Im Jahr 1992 wurde diese zum Sanierungsgebiet erklärt. Zuvor wurde in der DDR die städtebauliche Sanierung eher vernachlässigt und bauliche Bemühungen wurden dagegen beim Wohnungsneubau außerhalb des Zentrums angestrengt.2

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Nordwestmecklenburg Ostsee Wismar Travemünde Insel Poel M-V Schwerin Gadebusch Ratzeburg Grevesmühlen Schönberg Boltenhagen Neukloster Neubukow • Abb. 1 Wismar in Nordwestmecklenburg

Ende 2003 „[...] hat die Bürgerschaft [dann] die Festlegung des Sanierungsgebietes „Altstadt Wismar – Erweiterungsgebiet“ beschlossen. Anlass waren die städtebaulichen Missstände in nordwestlich, nördlich und nordöstlich der Altstadt gelegenen Gebieten zwischen Ulmenstraße und Schiffbauerdamm, dem Alten Hafen und den angrenzenden Bahnanlagen bis zur Rostocker Straße.“ 3 Das Gebiet wurde daraufhin förmlich als Sanierungsgebiet festgelegt. (• Abb. 2)

1 ISEK, S. 28

2 ebd.

3 ebd.

Grenze UNESCO-Welterbegebiet

Bereich Sanierungsgebiet Altstadt

Bereich Erweiterungsgebiet Altstadt

Projektgebiet

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• Abb. 2 Sanierungsgebiet & Erweiterungsgebiet Altstadt
Wismar Nord Wismar Nord Wismar Nord Wismar Nord Wismar Nord Wismar Nord Wismar Nord Wismar Nord Wismar Nord
Wismar West Wismar West Wismar West Wismar West Wismar West Wismar West Wismar West Wismar West Wismar Wismar Ost Wismar Ost Wismar Ost Wismar Ost Wismar Ost Wismar Ost Wismar Ost Wismar Ost Wismar Altstadt Altstadt Altstadt Altstadt Altstadt Altstadt Altstadt AAltstadt ltstadt Wismar Süd Wismar Süd Wismar Süd Wismar Süd Wismar Süd Wismar Süd Wismar Süd Wismar Süd Wismar Süd

6. Theoretischer Diskurs

6.1 Stadtentwicklung in der Hansestadt Wismar

6.1.2 Sanierungsstand der Altstadt

Zur Begutachtung des aktuellen Stands der Wismarschen Stadtentwicklung und -sanierung mit Fokus auf die Altstadt werden Inhalte aus dem aktuellsten ISEK Monitoring aus dem Jahr 2020 analysiert.

„ISEK ist das planerische Steuerungsinstrument für den Stadtumbau und die Stadtentwicklung. Die Fortschreibung ist Voraussetzung für eine weitere Förderfähigkeit der Stadtumbaugebiete mit Städtebaufördermitteln, sowie eine wesentliche Voraussetzung für die künftigen Zielsetzungen im Rahmen des Stadtumbau- bzw. Stadtentwicklungsprozesses in Wismar.

Allen Stadtumbaumaßnahmen muss ein städtebauliches Entwicklungskonzept zugrunde liegen. [...] ISEK ist ein strategischer Planungsansatz und soll neben planerischen Aussagen besonders den demografischen Wandel und dessen gesamtstädtische Auswirkungen zum Inhalt haben (Konzeptfunktion). Mit dem ISEK soll auch den städtebaulichen und sozialen Belangen Rechnung getragen werden (Steuerungsfunktion).

Das [...] ISEK der Hansestadt Wismar wurde im Jahr 2001 erarbeitet und 2005 erstmals fortgeschrieben.“1

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Welterbe“ 5
Wasser und
Sanierungsstand der Hauptgebäude 2001 Sanierungsstand der Hauptgebäude 2020 • Abb. 3 Entwicklung des Sanierungsstands der Altstadt

Darauf folgten noch zwei weitere Fortschreibungen (zuletzt 2020) welche zwischen den Jahren 2015-2020 ergänzende Monitorings zum Stand der Zielerreichung der aktuellsten Fortschreibung erhielten.

Als erfreulich zu betrachten ist, dass innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte die Zahl der vollständig sanierten Hauptgebäude in der Altstadt von ~49% auf ~68% gestiegen ist, während die unsanierten Objekte von ~23% auf ~5% gesenkt werden konnten. (• Abb. 3)

Neben der Gebäudesanierung wird das Stadtbild außerdem durch Baulückenschließungen in Form von Neubauten ergänzt. Neben wenigen neuen Baulücken durch Rückbauten konnte die Zahl von Baulücken in der Altstadt über den Zeitraum von 2001-2020 von 62 auf 35 reduziert werden. (• Tabelle. 1) Von den 35 bestehenden Lücken werden allerdings 27 zum Parken, zur Ver- und Entsorgung, als Spielplatz oder durch weitere Zwischennutzungen verwendet, sodass das Potenzial zur Lückenschließung in Zukunft als gering zu einzustufen ist. (• Tabelle. 2) Für zukünftige Neubauprojekte muss also langfristig auf Baufelder außerhalb der Altstadt ausgewichen werden.

1 https://www.wismar.de/Tourismus/UNESCO-Welterbe/Stadtentwicklung/

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Tabelle 1: Baulücken im Sanierungsgebiet Altstadt Tabelle 2: Baulücken (Stand 2020)

6. Theoretischer Diskurs

6.1 Stadtentwicklung in der Hansestadt Wismar

6.1.3 Wohnungsleerstandsentwicklung

Betrachtet man die Wohnungsleerstandsentwicklung, wird deutlich, dass die Sanierungen und Baulückenfüllungen der letzten zwei Jahrzehnte durchaus von den Einwohnern angenommen werden. (• Tabelle. 3) Die Leerstandsquote entwickelte sich von 17,3% (2001) kontinuierlich negativ zu 5,6% (2020).

• Tabelle 3: Wohnungsleerstandsentwicklung

Die Zahl der wohnungsnachfragenden Einwohner in der Altstadt ist seit 2001 (~6.600) zwar auch gestiegen, hat sich aber seit bereits 2005 zwischen ~7.500 und ~7.900 eingependelt. Auffälliger ist dagegen eher die Entwicklung der wohnungsnachfragenden Haushalte, denn diese ist seit 2001 kontinuierlich leicht gestiegen. So lag die durchschnittliche Haushaltsgröße in der Altstadt 2020 bei 1,55 Personen , während es 2009 noch 1,74 waren. (• Tabelle. 4)

Zusammenfassend wird ein Trend deutlich, in dem es weniger Wohnungsleerstand durch mehr wohnungsnachfragende Haushalte, doch nicht durch mehr nachfragende Einwohner in der Altstadt gibt.

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• Tabelle 4: Entwicklung der Haushaltsgrößen in der Altstadt

• Tabelle 5: Einwohner- und Haushaltsentwicklung im Vergleich

6.1.4 Verkehrsstruktur und Parkraumkonzept

Neben den Zahlen zum Sanierungs- und Wohnungsstand spielt in der Stadtentwicklung die Verkehrsstruktur eine zentrale Rolle. „Der Grundriss der Altstadt ist seit der Zeit frühesten Plandarstellungen im 17. Jahrhundert weitgehend erhalten geblieben.“1

Trotz des überwiegenden Straßenrandparken und des Nutzens von Baulücken für Parkplätze innerhalb der Altstadt hat diese aktuell nicht die Kapazitäten für den gesamten ruhenden Verkehr, den sie einzieht.

„Im Jahr 2010 richtete sich die Bürgerfraktion an die Stadtverwaltung, mit der Bitte [den Zustand von kaum noch freien Plätzen zum Parken der Fahrzeuge von Bewohnern, Gästen, Kunden oder Touristen] zu ändern. Daraufhin wurde ein Parkraumkonzept für die Altstadt beauftragt. Dieses Parkraumkonzept und das darauf aufbauende Realisierungskonzept wurden durch die Bürgerschaft in 2011 beschlossen.

Die Leitlinien des Konzeptes bestehen aus folgenden Punkten:

• Stärkere Öffnung der Altstadt für Kunden und Besucher

• Verbesserung der Angebote für Touristen

• Parken der Anwohner über spezifische Regelungen sichern

• Beschäftigte auf noch akzeptablen externen Standorten konzentrieren - Verlagern statt Verdrängen“2

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1 ISEK S. 5 2 EVB Wismar

6. Theoretischer Diskurs

6.1 Stadtentwicklung in der Hansestadt Wismar

Nachdem Mitte 2018 das erste öffentliche Parkhaus Altstadt-Hafen in Wismar in Betrieb genommen wurde, erschien Ende 2018 die aktuellste Evaluierung des Parkraumkonzepts mit besonderem Augenmerk auf den Betrieb des Parkhauses. Aus der Evaluierung wird deutlich, dass das Parkhaus Altstadt-Hafen klar unter seinen Kapazitäten genutzt wird. Verglichen mit dem Parkplatz Altstadt/Hafen und dem Parkplatz Altstadt/Westhafen (Projektgebiet) erzielt es selbst unter Anbetracht der vorhandenen Stellplätze (• Tabelle. 6) wesentlich geringere Einnahmen. (• Tabelle. 7) Der Grund dafür ist vor allem die Quote der Belegung pro Stellplatz am Tag (• Tabelle. 8) - ein Stellplatz im Parkhaus ist im Jahr 2018 pro Tag im Schnitt nur 0,47 mal belegt. Auf der Grundlage der Daten wurden verschiedene Handlungsempfehlungen aufgestellt, die vor allem auf Vergünstigungen der Parktarife für das Parkhaus Altstadt-Hafen abzielen, um dieses gegenüber den anderen Parkplätzen stärker zu aktivieren.2

Es bleibt zu erwähnen, dass die Evaluierung von Juni-Oktober im touristisch aktiveren Zeitraum stattfand, sodass die Stellplatzauslastung im Jahresschnitt niedriger einzuschätzen ist. Außerdem ist für das Park-

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• Tabelle 6: Stellplatzbilanz im Altstadtring

• Tabelle 7: Einnahmen Juni-Oktober 2018

• Tabelle 8: Belegung pro Stellplatz am Tag

haus „[...] eine Erweiterung auf insgesamt 439 Stellplätze [...] in einem II. Bauabschnitt vorgesehen.“3 Darüber hinaus gibt es seit der Evalurierung 2018 wichtige noch anhaltende verkehrstechnische Baumaßnahmen, wie den Neubau des Parkplatzes Altstadt/Turmstraße4 und die Eisenbahnüberführung an der Poeler Straße5, welche die Stellplatzsituation in Zukunft stark beeinflussen werden.

3 Lengfeld & Wilisch Architekten PartG mbB

4 EVB Wismar

5 Deutsche Bahn

6Destatis

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6. Theoretischer Diskurs

6.1 Stadtentwicklung in der Hansestadt Wismar

Für die Beurteilung der Stellplatzsituation ist außerdem wichtig, welche Nutzergruppen diese ansteuern. Pauschal lässt sich für die eben genannten bewirtschafteten Parkplätze sagen, dass diese vor allem von Touristen und Pendlern genutzt werden, da es für Anwohner genügend kostenlose Ausweichmöglichkeiten gibt. Das wird auch deutlich, wenn man die Stellplatzauslastung aller bewirtschafteten Stellplätze rund um die Altstadt außerhalb der Saison betrachtet. In diesem Szenario sind diese im Schnitt maximal zu 50%, in der Regel aber deutlich geringer, ausgelastet. (• Tabelle. 9)

Beachte: Diese Daten stammen aus dem Jahr 2016 und können sich durch die jüngsten gesundheits- und weltpolitischen Krisenentwicklungen verändert haben.

Das Pendleraufkommen in Wismar ist über die letzten zwei Jahrzehnte immer weiter gestiegen. Das belegen die Zahlen zu Einpendlern und Auspendlern in der Hansestadt. (• Tabelle. 10) Wichtig herauszustellen ist, dass es einen Überschuss von Einpendlern gegenüber Auspendlern gibt. Das bedeutet eine hohe Zahl von Menschen, die täglich nicht direkt zu Fuß, mit dem Rad oder einem innerstädtischen Bus zur Arbeit in Wismar gelangen können, sondern auf das Auto oder Bus und Bahn zurückgreifen. Zwei Drittel der 8.798 Einpendler kommen aus Nordwestmecklenburg, das übrige Drittel setzt sich aus ferneren Herkunftsorten wie Rostock, Schwerin oder Ludwigslust zusammen. (• Tabelle. 11)

• Tabelle 9: Stellplatzauslastung Altstadt außerhalb am Samstag der Saison (2016)

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Wendet man auf diese Werte die vom statistischen Bundesamt errechneten 68% der davon PKW nutzenden Pendler (gesamtdeutscher Wert) an, lässt sich grob schätzen, dass täglich knapp 6.000 Einpendler mit dem Auto nach Wismar fahren, davon gut 4.100 aus Nordwestmecklenburg.6 Erwägt man, dass diese Zahlen von PKW nutzenden Einpendlern und auch PKW nutzenden Touristen im Zuge einer langfristigen Verkehrswende reduziert werden könnten, wird eine große Chance für den Rückbau von Stellplätzen und nachhaltigeren Nachnutzungen deutlich.

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• Tabelle 11: Ein- und Auspendler nach Herkunfts- bzw. Zielgebiet im Jahr 2017 • Tabelle 10: Zahl der Ein- und Auspendler in der Hansestadt Wismar (2018)

6. Theoretischer Diskurs

6.1 Stadtentwicklung in der Hansestadt Wismar

6.1.5 Der ISEK-Maßnahmenkatalog

Im ISEK-Maßnahmenkatalog beschreibt die Stadt unter dem Leitbild „Hansestadt Wismar - WIRTSCHAFT, WISSENSCHAFT, WELTERBE und MEER“1 über 200 Einzelmaßnahmen zur Zielerreichung des integrierten Stadtentwicklungskonzepts. Diese sind nach einem Pyramiden-System ihrer Bedeutung nach geordnet, sodass übergeordnete Zielsetzungen an oberster Stelle stehen und untergeordnete Einzelmaßnahmen an unterster Stelle. Die sechs übergeordneten Zielsetzungen lauten:

• „Stärkung der Stadt als Zentrum für Bildung, Kultur, Wissenschaft, Industrie, Handwerk, Handel, Dienstleistung, Wohnen und Verwaltung unter Einbeziehung einer diverser werdenden Stadtgesellschaft

• Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der maritimen Wirtschaft und des Schiffbaus durch Förderung der Vernetzung und Unterstützung des Technologietransfers

• Grundsatz: Innen- vor Außenentwicklung - Schaffung von attraktiven Wohnbauflächen auf integrierten Standorten im Sinne des Klimaschutzes

• Schutz und denkmalgerechte Weiterentwicklung des baukulturellen Erbes der zum UNESCO-Weltkulturerbe zählenden Altstadt und nachhaltige Entwicklung kultureller und touristischer Angebote

• Ausbau der sozialen und umweltrelevanten Verkehrsinfrastruktur unter Beachtung von Barrierefreiheit, Energieeffizienz und Inklusion

• Schutz und nachhaltige Verbesserung der vorhandenen Naturräume und der Umwelt sowie Förderung der Ressourceneffizienz“ 1

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1 ISEK S. 103

Um einen Teil zur Stadtentwicklung beizutragen, sind diese Zielsetzungen in Form des Entwurfs zu unterstützen und als einzelne Entwurfsparameter mit einzubeziehen, da sie auch auf den in diesem Kapitel abgehandelten Analysen beruhen, aus denen die restlichen Parameter zur Stadtentwicklung gezogen werden. Darüber hinaus sprechen Sie auch für die im Kapitel 2 genannten Gründe, das ausgewählte Projektgebiet in dieser Form zu bearbeiten.

6.1.6 Definition der Entwurfsparameter

□ Das Projektgebiet hat anerkannte städtebauliche Missstände und gehört zum erweiterten Sanierungsgebiet Altstadt

□ Die Altstadt bietet kaum noch Potenzial für neue Baufelder

□ Das Parkplatzangebot rund um die Altstadt wurde in den letzten Jahren stark ausgeweitet und wird unter seinem Potenzial genutzt

□ Wismar möchte attraktive Wohnbauflächen auf integrierten Standorten im Sinne des Klimaschutzes schaffen (Grundsatz: Innenvor Außenentwicklung)

□ Wismar möchte das baukulturelle Erbe der Altstadt schützen und nachhaltige Entwicklungen kultureller und touristischer Angebote schaffen

□ Wismar möchte die soziale und umweltrelevante Verkehrsinfrastruktur unter Beachtung von Barrierefreiheit, Energieeffizienz und Inklusion ausbauen

□ Wismar möchte vorhandene Naturräume und die Umwelt schützen und nachhaltig verbessern sowie die Ressourceneffizienz fördern

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6. Theoretischer Diskurs

6.2 Genius Loci

6.2.1 Kartenanalyse

Im folgenden wird der Geist des Ortes in Form von Karten und Vor-OrtAufnahmen analysiert. In den Draufsichten wird in verschiedenen Maßstäben klar die zentrale Lage des Projektgebiets innerhalb Wismars deutlich. Hier treffen die Stadtteile Altstadt, Hafen und Wismar West mit jeweils sehr unterschiedlichen Gebäudetypologien, Nutzungen städtebaulichen Dichteverhältnissen aufeinander (• Abb. 4). Die Altstadt weist den denkmalgeschützten Stadtgrundriss mit einer engen Blockrandbebauung auf, während in den Hafenquartieren eher großvolumige Solitärbebauung vorzufinden sind. In Wismar West ist dagegen eine Mischung aus freistehenden Stadthäusern, kollektiven Wohnblocks und einzelnen Gewerbebauten vorhanden. Das Projektgebiet ist umringt von verschiedensten Bebauungsformen, wodurch der Ort selbst sehr undefiniert wirkt.

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Wasser und Welterbe“
• Abb. 4 Draufsicht Ausschnitt mit Altstadt und Hafenbecken

An der Verkehrskreuzung Ulmenstraße/ Schiffbauerdamm/ Am Hafen/ Fischerreihe treffen städtebauliche Sichtachsen und Erschließungswege aus allen Himmelsrichtung aufeinander. Durch die genannte Kreuzung liegt zur Rushhour viel Lärm- und Feinstaubbelastung vor.

(• Abb. 5)

Aus dem Luftbild lassen sich auch verschiedene Formen der Begrünung ablesen: Während in der Altstadt vor allem Hof- und vereinzelt Straßenbegrünung vorhanden sind, gibt es im Hafengebiet vermehrt großflächige Wiesen auf unbebauten Grundstücken.

Die südöstliche Straßenseite des Projektgebiets wird von der Baumallee der Ulmenstraße begrünt - im westlichen Bereich gibt es dagegen eine große Wiese, die leicht verwilderte Ecken mit Büschen und Bäumen aufweist. An der Nord- und Ostseite des Gebiets ist parallel zur Straße jeweils ein 1-2m tiefer Graben eingelassen. Alle Begrünungsarten im Projektgebiet sind als wertvoll und erhaltenswert einzustufen.

Bestimmt wird der Geist des Ortes aber vor allem von den abgestellten PKW und den verwendeten Oberflächenmaterialien aus Sand und Fertigbetonplatten, wie auf den folgenden Seiten zur Geltung kommt.

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• Abb. 5 Draufsicht Ausschnitt Projektgebiet

6. Theoretischer Diskurs

6.2 Genius Loci

• Abb. 6 Schwarzplan

• Abb. 7 Karte Verkehrsnetz

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6.2.2 Genius Loci - Fotoanalyse

Die Haupteingangssituation befindet sich im Nordwesten des Gebiets mit der Schrankenanlage. Hier gelangen die Hauptnutzer (PKW) auf den Parkplatz und wieder herunter. Fußläufig kann der Parkplatz ringsum über einzelne Pfade und Wege erschlossen werden. Im westlichen Bereich trennt ein Zaun das Gebiet vom benachbarten Parkplatz ab. Der angrenzende Grünraum zählt somit aktuell nicht direkt zum Projektgebiet dazu.

Gut zu erkennen ist der freie Blick auf die Altstadtsilhouette, insbesondere der St. Marienkirchturm, die St. Georgenkirche und die St. Nikolaikirche.

Auf • Abb. 10 wird die Bodenversiegelung durch Fertigbetonplatten deutlich, die den Großteil des Parkplatzes bedecken. Der Blick aus der 2022 sanierten Claus-Jesup-Straße zeigt den Fußgänger- & Radweg, der im rechten Winkel zum Projektgebiet endet und die Baumallee der Ulmenstraße.

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• Abb. 8 Eingangssituation (09.10.22) • Abb. 9 Blick von Westen (09.10.22)
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Master-Thesis „Zwischen Wasser und Welterbe“ • Abb. 11 Blick aus der sanierten Claus-Jesup-Straße (09.10.22) • Abb. 10 Bodenversiegelung (09.10.22)

• Abb. 12 Auslastung des Parkplatzes morgens (14.12.22)

• Abb. 13 Graben zwischen Parkplatz und Schiffbauerdamm (14.12.22)

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6. Theoretischer Diskurs

6.2 Genius Loci

Generell wird aus den Fotos die geringe Auslastung des Parkplatzes von abends bis morgens und in der Winterzeit deutlich. Die großen, kargen Flächen können gerade bei Dunkelheit für Unbehagen sorgen.

Prägend für den Ort ist außerdem die Blockrandbebauung mit traufseitigem Satteldach in der Ulmenstraße, der Claus-Jesup-Straße und am Hafen. Auch das denkmalgeschützte Zeughaus weist diese Dachform in Verbindung mit prägnanten Gauben auf. Dessen Kubatur aufzugreifen, könnte dabei helfen, architektonisch einen Bezug zur Altstadt herzustellen.

Die Nachbarbebauung weist in der Regel 2-4 Vollgeschosse und ein Dachgeschoss auf, wobei das Erdgeschoss meist bis zu einen Meter erhöht und mit einer größeren Geschosshöhe ausgeführt ist.

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Abb. 14 Traufseitige Satteldächer in der Ulmenstraße (09.10.22)

• Abb. 15 Blockrandbebauung in der Claus-Jesup-Straße (14.12.22)

• Abb. 16 Baudenkmal Zeughaus (14.12.22)

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Matr.

6. Theoretischer Diskurs

6.2 Genius Loci

Direkt an das Projektgebiet angrenzend befindet sich mit dem Fischerturm Denkmal, dass zum UNESCO-Weltkulturerbe gezählt wird. Er steht auf einem Grünstreifen zwischen der Straße und dem Fußweg am Schiffbauerdamm. Durch den Welterbestatus ist er für den Ort als wertvoll und unbedingt zu schützen anzusehen.

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• Abb. 17
Maritimes Denkmal Fischerturm (Foto: J.-H. Janßen)

6.2.3 Definition der Entwurfsparameter

□ Die Haupteingangssituation muss neu orientiert werden

□ Alle Begrünungsarten im und um das Projektgebiet sind als wertvoll und erhaltenswert einzustufen

□ Der 2022 fertiggestellte Fußgänger- & Radweg in der Claus-JesupStraße endet im rechten Winkel zum Projektgebiet und könnte in Verlängerung als neue Eingangssituation verwendet werden

□ Die Blockrandbebauung mit traufseitigem Satteldach aufzugreifen, könnte dabei helfen, architektonisch einen Bezug zur Altstadt herzustellen

□ Die Sichtachsen zu den drei Kirchen und den benachbarten Straßen sollten erhalten bleiben

□ Das maritime Denkmal Fischerturm, das an das Projektgebiet grenzt, muss erhalten werden

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6. Theoretischer Diskurs

6.3 Hochwasserangepasstes Bauen

6.3.1 Einleitung

Als Küstenstadt an der Ostsee wird Wismar immer wieder von Sturmfluten getroffen, die für Überschwemmungen und den damit einhergehenden Schäden sorgen können. Wie diese Analyse aufzeigt, werden die Vorkommnisse in Zukunft klimawandelbedingt immer häufiger und in höherer Intensität auftreten. Auf den folgenden Seiten wird betrachtet, welche Ausmaße zukünftige Meeresspiegelstände und Sturmfluten in den nächsten 100 Jahren in Wismar bedeuten könnten und welche Bauvorsorgestrategien getroffen werden können, um vor Gefahren für Menschen und Gebäude zu schützen. Aus den Erkenntnissen soll dann eine geeignete hochwasserangepasste Bauweise für den Entwurf gefunden und angewendet werden.

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• Abb. 18 Sturmflut auf dem Parkplatz Altstadt / Westhafen

6. Theoretischer Diskurs

6.3 Hochwasserangepasstes Bauen

6.3.2 Meeresspiegelanstieg an der Ostseeküste

Der weltweit durch den Klimawandel verursachte Meeresspiegelanstieg betrifft auch die Ostsee. „[...] Schmelzende Eismassen und eine wärmebedingte Ausdehnung des Wasserkörpers [können] langfristig auch den mittleren Meeresspiegel in der Ostsee ansteigen lassen.“1 Dieser Vorgang wird zusätzlich noch von kontinentalen Faktoren beeinflusst. Denn während es im nördlichen Teil der Ostsee zu isostatischen Erhebungen der Landmassen, also vertikalen Entlastungsbewegungen der Erdkruste seit der letzten Eiszeit, kommt, weisen die Landmassen im südwestlichen Teil der Ostsee eine isostatische Senkung auf.1 Einfach gesagt gleichen die Landmassen in Skandinavien und im Baltikum die gegebenen Meeresspiegelanstiege teilweise aus, während sie gerade an der norddeutschen Ostseeküste und insbesondere in der Lübecker und Mecklenburger Bucht dazu führen, dass sich die Landmassensenkungen mit den Meeresspiegelanstiegen addieren. „Die gemessenen Trends [der mittleren Meeresspiegelanstiege] liegen zwischen 1,5 mm pro Jahr in Eckernförde und Wismar und 0,4 mm pro Jahr in Saßnitz.“2

(• Abb.19)

Allerdings unterliegen die Ergebnisse von Projektionen für längere Zeiträume den Schwankungen der Perioden, in denen sie gemessen werden, wodurch sie zum Teil wesentlich niedriger oder höher ausfallen können.1 Es ist aber davon auszugehen, „[...] dass sich der globale mittlere Meeresspiegelanstieg bis Ende des 21. Jahrhunderts beschleunigen kann. Demnach kann sich der globale mittlere Meeresspiegel bis Ende des 21. Jahrhunderts (2081–2100) im Vergleich zur Gegenwart (1986–2005) um weitere 30–80 cm erhöhen (Church et al. 2013).“1 Auch diese Beschleunigung muss dann wiederum unter Anbetracht der vertikalen Entlastungsbewegungen der Erdkruste regional unterschiedlich interpretiert werden.

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1 R. Weiße, I. Meinke, S.80 2ebd.
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• Abb. 19 Hundertjähriger linearer Trend des relativen Meeresspiegelanstiegs (mm/Jahr) in der südwestlichen Ostsee.

6. Theoretischer Diskurs

6.3 Hochwasserangepasstes Bauen

6.3.3 Ostseesturmfluten

Wenn über den Meeresspiegelanstieg (egal ob kurz- mittel- oder langfristig) gesprochen wird, beinhalten die Zahlen noch nicht die möglichen Auswirkungen und resultierenden Pegelstände von Sturmfluten. Andersherum verhält es sich mit den Projektionen zu Sturmfluten, da für deren Berechnungen die Bedeutung des Meeresspiegelanstiegs erheblich ist. So kann man heute die Aussage treffen, „[...] dass eine Sturmflut wie am 12./13. November 1872 heute allein aufgrund des inzwischen angestiegenen Meeresspiegels etwa 5–20 cm höher auflaufen würde als damals.“1 Diese Sturmflut galt „[...] bisher als eine der schwersten Naturkatastrophen an der westlichen Ostseeküste. Mindestens 270 Menschen starben, mehrere Tausend Bewohner wurden obdachlos.“1 (• Abb. 20)

Historisch betrachtet lässt sich seit Beginn der Wetteraufzeichnung bis heute eine zunehmende Tendenz von Sturmflutereignissen an der südwestlichen Ostsee beobachten, was durch unterschiedliche Untersuchungen belegt ist.2 Beim Blick auf zukünftige Sturmflutereignisse wurde belegt, „[...] dass der Einfluss des Meeresspiegelanstiegs auf den Anstieg der Sturmflutwasserstände größer ist als der Einfluss des Windstaus. Hundertjährige Wasserstände an den Pegeln Lübeck, Koserow und Gedser würden sich demnach von 2,10 auf 2,70 m erhöhen. Da ein Meeresspiegelanstieg von 50 cm vorgegeben war, entfallen lediglich 10 cm der Wasserstandserhöhung auf den Windstau.“2 Hieraus lässt sich schließen, dass zukünftig auch bei schwankenden, kurzfristigen Wetterereignissen ein Anstieg der Pegelstände von Sturmfluten an der südwestlichen Ostsee zu verzeichnen sein wird.

2 R. Weiße, I. Meinke: Klimawandel in Deutschland - Entwicklung, Folgen, Risiken und Perspektiven (2017) (Springer Spektrum) (Meeresspiegelanstieg, Gezeiten, Sturmfluten und Seegang) (S.82) 2ebd.

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Damian
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Lürbke, Matr. 247038
• Abb. 20 Das verheerende Hochwasser an der Ostseeküste am 12./13. November 1872

6. Theoretischer Diskurs

6.3 Hochwasserangepasstes Bauen

6.3.4 Hochwasserrisikokarten Wismar

Der Blick auf Hochwasserrisikokarte mit hoher Wahrscheinlichkeit offenbart die Erkenntnis, dass das schwarz eingerahmte Projektgebiet einem hohen Überflutungsrisiko ausgesetzt ist. (• Abb. 21) Bereits in diesem Szenario ist davon auszugehen, dass das Gebiet bis zu einen Meter unter Wasser stehen würde, was in etwa auch den jüngsten Hochwasserereignissen in Wismar entspräche, wie zum Beispiel kurz nach dem Jahreswechsel 2019. (• Tabelle 12) Einzelne Bereiche direkt am

Gewässer ±0,0m Normalwasserstand

Überflutungsgebiet 0,0–0,5m

Überflutungsgebiet 0,5– 1,0m

Überflutungsgebiet 1,0–2,0m

• Abb. 21 Hochwasserrisikokarte Wismar (Status 2019) - hohe Wahrscheinlichkeit (~HQ10-30)

Master-Thesis
31
„Zwischen Wasser und Welterbe“

Projektgebiet und in der Frischen Grube am Mühlenbach könnten bis zu 1-2m unter Wasser stehen. Erwähnenswert ist, dass diese Sturmflut lediglich den achthöchsten Pegelstand seit dem Ereignis am 13.11.1872 bedeutete und dabei noch einen 92cm niedrigeren Pegel über dem Normalmittelwasser erreichte als 1872. Dennoch sorgte die Sturmflut für eine Lahmlegung des Verkehrs am Hafen. (• Abb. 22)

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• Abb. 22 Hochwasser am Hafen, Quelle: Heiko Hoffmann • Tabelle 12: Top 10 Wasserstände seit 1872 in Wismar

6. Theoretischer Diskurs

6.3 Hochwasserangepasstes Bauen

Das Hochwasserszenario von mittlerer Wahrscheinlichkeit (~HQ100) deutet bereits wesentlich größere Überflutungsgebiete mit einem häufig höheren Pegel als beim Szenario mit hoher Wahrscheinlichkeit an. Zu erkennen ist, dass die Gebiete des alten Hafens, alten Holzhafens und des Industriegebiets an den MV-Werften fast vollkommen überflutet würden. Darüber hinaus reicht das Überflutungsgebiet weit in die Altstadt, Richtung Wismar ZOB und in das umgebende Gebiet der Köpenitz bis in die Kuhweide südwestlich der Altstadt. Es beinhaltet auch das gesamte Projektgebiet und die Umgebungsbebauung. Das Projektgebiet wäre in kleinen Teilen zwischen 0,0-o,5m, größtenteils aber zwischen 0,5-2,0m überflutet. (• Abb. 23)

Bei einem Hochwasserszenario von niedriger Wahrscheinlichkeit, beziehungsweise eines Extremereignisses (≥HQ200) im analysierten Kartenausschnitt ein weiterer Zuwachs von überfluteten Gebieten zu erkennen. Erheblich ist jedoch vor allem der Zuwachs von Flächen, die verglichen mit dem mittelwahrscheinlichen Szenario einem noch höheren Überschwemmungspegel ausgesetzt wären. Große Teile der Flächen, die unter ~HQ100 betrachtet zwischen 0,0-0,5m unter Wasser standen, wären unter ≥HQ200 betrachtet zwischen 0,5-1,0m überschwemmt. Flächen, die unter ~HQ100 betrachtet zwischen 0,5-1,0m überschwemmten, wären dies unter ≥HQ200 zu großen Teilen zwischen 1,0-2,0m. Dazu zählt auch das Projektgebiet, welches überwiegend zwischen 1,0-2,0m unter wasser stünde. (• Abb. 24)

Gewässer ±0,0m Normalwasserstand

Überflutungsgebiet 0,0–0,5m

Überflutungsgebiet 0,5– 1,0m

Überflutungsgebiet 1,0–2,0m

Master-Thesis „Zwischen Wasser und Welterbe“ 33

• Abb. 23 Hochwasserrisikokarte Wismar (Status 2019) - mittlere Wahrscheinlichkeit (~HQ100)

• Abb. 24 Hochwasserrisikokarte Wismar (Status 2019) - geringe Wahrscheinlichkeit (Extremereignis ≥HQ200)

Damian Lürbke, Matr. 247038 Wintersemester 2022/23 34

6. Theoretischer Diskurs

6.3 Hochwasserangepasstes Bauen

6.3.5 Bauvorsorgestrategien im Vergleich

Nachdem der maximal anzunehmende Überschwemmungspegel bekannt ist, können die unterschiedlichen Strategien zur hochwasserangepassten baulichen Vorsorge abgewogen werden. Hierzu werden allerdings nicht nur die rein bautechnischen Aspekte erwägt, sondern auch Themen, wie die gestalterische Auswirkung, Kosten, baulicher Aufwand und Nachhaltigkeit der jeweiligen Alternative betrachtet.

„Die wichtigsten Strategien der Bauvorsorge lassen sich grundsätzlich einteilen in:

• Ausweichen (engl.: avoidance)

• Widerstehen (engl.: resistance)

• Anpassen (engl.: adaptation, resilience).“ 1

Ausweichen

Im Zusammenhang mit dem Hochwasserschutz beschreibt das „Ausweichen“ die generelle Vermeidung, dem Gebäude Berührungspunkte mit dem Hochwasser zu ermöglichen. Das kann ganz generell die Neuwahl des Standortes für das Gebäude bedeuten, allerdings kann dem Hochwasser auch durch eine Verschiebung der Nutzungseinheiten auf erhöhte Geschosse ausgewichen werden. Konkrete Beispiele hierfür sind aufgeständerte Bauweisen, wie sie vermehrt bei Privathäusern in den durch Hurricanes bedrohten Küstengebieten Nordamerikas zum Einsatz kommen, oder die klassischen Warften, die traditionell auf Halligen in der Nordsee zum Einsatz kommen und durch Erdaufschüttung errichtet werden. Aus dieser Strategie ergibt sich auch der Verzicht auf ein Kellergeschoss. 2

Widerstehen

Die Strategie des „Widerstehens“ lässt zwar unter Umständen die Berührung des Hochwassers mit der Gebäudehülle zu, verhindert aber

Master-Thesis „Zwischen Wasser und Welterbe“ 35

das Eindringen des Wassers in das Gebäudeinnere. Dazu wird die Gebäudehülle entsprechend ertüchtigt, dem Hochwasser standzuhalten. Öffnungen in der Hülle müssen also entweder aus eigener Kraft dicht halten und eventuellem Treibgut widerstehen, oder durch vorgelagerte Bauteile abgedichtet werden. Die Bauweisen dieser Strategie sind zum Beispiel:

• Abgedichtete Bauweise: Die Gebäudehülle inklusive Fassadenöffnungen wird wie oben genannt wasserdicht ertüchtigt.

• Moderne Warft-Bauweise: Das Gebäudeniveau wird künstlich bis zum anzunehmenden Hochwasserniveau erhöht und als „weiße Wanne“ ausgeführt. Die Haupterschließung sowie etwaige Wohneinheiten werden auf dieses Niveau verlagert. 3

• Deichhäuser: Auch hier wird mit einer abgedichteten Gebäudehülle gearbeitet, welche die Aufgabe des Hochwasserschutzes auch für Gebäude hinter der Deichlinie übernimmt, welche somit keine weitere Bauvorsorge mehr benötigen. Der Deich funktioniert daher auf städtebaulicher Ebene und wird in das Stadtbild integriert. 4

• Polder-Bauweise: „Mit der Eindeichung von Quartieren, die von den Gebäudeeigentümern veranlasst wurde, entstanden Poldergemeinschaften. Diese Polder sind anders als die Flut- oder Entlastungspolder nicht zur Reduktion des Scheitelwasserstandes gedacht, sondern schützen das Quartier bis zur festgesetzten Schutzhöhe (Sollhöhe) vor Hochwasser.“ 5

Anpassen

„Das „Anpassen“ als Hochwasserschutzstrategie umfasst alle Maßnahmen, die geeignet sind, ein Gebäude oder eine Infrastrukturanlage so wenig schadensanfällig wie möglich zu errichten und zu betreiben (engl.: wet-proofing). Dabei wird wasserstandsabhängig die Flutung von vorbestimmten Bereichen in Kauf genommen.“ 6 Zum „Anpassen“ als Strategie zählen die durchflutete Bauweise und die amphibische Bauweise.

1 R. Jüpner et al. Hochwasser-Handbuch S. 360

2 vgl.: ebd.

3 vgl.: ebd. S. 379

4 vgl.: ebd. S. 382

5 ebd.

6 ebd. S. 362

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6. Theoretischer Diskurs

6.3 Hochwasserangepasstes Bauen

Bei der durchfluteten Bauweise wird insbesondere das Gebäudeinnere resilient gegen eintretendes Wasser ertüchtigt, sodass auch bei Versagen der Gebäudehülle keine hohen Schäden an der Bausubstanz entstehen sollten. Hierfür muss nicht nur auf die jeweiligen Bauteilbeläge geachtet werden, sondern auch auf die Positionierung von Installationsebenen und die Auswahl und den Verbleib der Inneneinrichtung im Hochwasserfall. 7

Bei der amphibischen Bauweise handelt es sich dagegen um einzelne Gebäude, die im Hochwasserfall vom Wasserdruck gezielt mit dem Pegelstand aufschwimmen können. Sie müssen dazu in einer entsprechend leichten Bauweise ausgeführt werden und benötigen massive, sichtbare Führungselemente, die das Gebäude am Standort verankern.

6.3.6 Bewertung der Bauvorsorgestrategien in Bezug auf das Projektgebiet

Bei der Entscheidungsfindung kann auf ein gesondertes Auswahlverfahren verzichtet werden, da viele der aufgeführten Bauweisen Attribute aufweisen, durch die sie für das Projektgebiet als ungeeignet einzustufen sind. Folgende Bauweisen sind für den Standort nicht geeignet:

• Aufgeständerte Bauweise: Eine Aufständerung in Höhe von mindestens zwei Metern wäre, trotz den positiven Aspekten von geringer Verdichtung und geringem baulichen Aufwand, an der UNESCOWelterbegrenze gegenüber dem denkmalgeschützten Bestand in der Ulmenstraße und am Hafen deplatziert.

• Klassische Warft-Bauweise: Um das Geländeniveau auf die Sollhöhe von mindestens zwei Metern zu bringen, müssten unverhältnismäßige Eingriffe in die Topografie vorgenommen werden und Volumen an Erdboden errichtet werden, die am Standort nicht vorhanden sind und auch die Gestalt des Ortes maßgeblich beeinflussen würden.

• Durchflutete Bauweise: Die durchflutete Bauweise eignet sich insbesondere für öffentliche und größtenteils unmöblierte bzw. feste und hochwassersicher möblierte Räume. Da diese Faktoren sich

Master-Thesis „Zwischen Wasser und Welterbe“ 37

nicht mit dem angestrebten Nutzungskonzept am Standort vereinen lassen, kommt diese Bauweise nicht in Frage.

• Amphibische Bauweise: Die aufschwimmende Bauweise kann aus den selben gestalterischen Gesichtspunkten wie bei der aufgeständerten Bauweise nicht erwogen werden. Die Vermittlung zwischen Hafen und Altstadt wäre nicht gegeben.

Nach der Aussortierung der Bauweisen aus den Bauvorsorgestrategien „Ausweichen“ und „Anpassen“ bleiben die aufgelisteten Bauweisen der Strategie „Widerstehen“ zur Auswahl.

Es ist nicht unüblich, dass auch mehrere dieser Bauweisen als Hybrid innerhalb eines Bauvorhabens zum Einsatz kommen und einander weniger ausschließen als vielmehr die Ansprüche verschiedener Nutzungseinheiten kollektiv erfüllen können. So können durch abgedichtete Bauweisen innerhalb einer Warft auch die Räume unter dem maßgeblich zu schützenden Gebäudekörper belebt werden, indem dessen Fassadenöffnungen beispielsweise durch Dammbalken oder Schiebe- und Klapptore abgedichtet werden. Für die Entscheidung zwischen Warft-, Deichhaus- und Polder-Bauweise ist die angestrebte Gebäudetypologie entscheidend - insbesondere die Nutzung, die hinter der hochwasserschützenden Schicht im Inneren stattfinden sollte. Die Ausbildung eines Deiches ermöglicht Aufenthalts- und Erschließungsflächen auf dem Nullniveau und kann eine geringere Bodenverdichtung erzielen. Dagegen kann die Haupterschließungsebene oberhalb einer Warft zu differenzierteren Unterteilungen der Nutzungseinheiten (z.B.: PKW- & Fahrradgarage / Einzelhandel & Gastronomie / Wohnen & Arbeiten) genutzt werden.

Aus diesen Gründen wird die konkrete Bauvorsorgestrategie in einem frühen Stadium des Entwurfs unter Einbeziehung aller Entwurfsparameter festgelegt und noch einmal gesondert erläutert. Die Vorteile der hybriden Bauweise mit abgedichteten Bauteilen und die daraus resultierenden Möglichkeiten für Nutzungen innerhalb des hochwassergefährdeten Bereichs sind allerdings unverkennbar, sodass diese Bauweise in die Bauvorsorgestrategie mit aufzunehmen ist.

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7 vgl.: ebd. S. 384

6. Theoretischer Diskurs

6.3 Hochwasserangepasstes Bauen

6.3.7 Definition der Entwurfsparameter

□ Im gesamten Projektgebiet ist im Fall einer Sturmflut von einem Überflutungspegel von bis zu zwei Metern auszugehen

□ Zum Schutz der neuen Bausubstanz wird eine dem Hochwasser widerstehende Bauvorsorgestrategie angestrebt, die in hybrider Bauweise auszuführen ist.

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