Das Heft – Ausgabe Nr. 5 (2021) – Integration – Inklusion

Page 53

«Ich sehe was, was du nicht siehst…»

In ihrer Bachelor-Arbeit hat Carole Schreiber, basierend auf einem literaturbasierten Theorieteil, ein Kartenset entwickelt. Es dient dazu durch theaterpädagogische Mittel bereits im Kindergarten die Perspektivübernahmefähigkeit zu fördern. Eine Fähigkeit, die sich während des Schreibens der Arbeit als Grundkompetenz für eine antidiskriminierende Haltung herauskristallisierte. Aufgezeichnet von Marc Fischer

«

Mir war es von Anfang an wichtig, eine praxisorientierte Bachelorarbeit zu schreiben. Den Ausschlag für die Themenwahl haben schliesslich mehrere Dinge gegeben. Einerseits habe ich als Schwerpunktfach Kulturvermittlung und Theaterpädagogik gewählt und kam so immer wieder in Kontakt mit dem Ansatz der Critical Diversity Literacy. Anderseits interessiert mich persönlich, wie Differenzkategorien entstehen und in der Gesellschaft thematisiert werden. Passend dazu hatte ich ein Erlebnis in einem Praktikum: Als Vorbereitung für eine Themenwoche, musste jedes Kindergartenkind ein Fähnlein mit der Fahne seiner Nationalität bemalen, um damit die grosse Heterogenität der Schule nach aussen zu tragen – und ich glaubte zu beobachten, dass viele gar nicht wussten, weshalb sie nun nicht einen roten Wimpel mit weissem Kreuz malen durften. Basierend auf diesen Prämissen entschied ich mich, die Thematik ‹Wir und Andere› aufzugreifen, zu hinterfragen und eine möglichst partizipative Antwort zu finden, wie damit bereits auf Kindergartenstufe eine offene und antidiskriminierende Haltung gefördert werden kann. Im Theorieteil meiner Arbeit ist der Critical-DiversityLiteracy-Ansatz der rote Faden. Er hilft die Entstehung von Differenzkategorien durch eine kritische Brille zu lesen. Den Kindergarten denke ich dabei als Kontaktzone, als gemeinsam erstellten Raum in einer Migrationsgesellschaft, in dem das alltägliche Zusammentreffen stets neu und gemeinsam ausgehandelt wird. Als Schlüsselkompetenz zeigte sich dabei die Fähigkeit zur Perspektivübernahme, um bereits auf Kindergartenstufe eine Gemeinschaft mit offener Haltung zu entwickeln. Diese Fähigkeit gehört zu den überfachlichen Kompetenzen, die mit dem Lehrplan 21 vermehrt in den Fokus rücken. Während in den

Erziehungswissenschaften davon ausgegangen wird, dass die Fähigkeit zur Übernahme der Perspektive von Drittpersonen erst im Alter von sieben bis zehn Jahren entwickelt wird, beschreibt die Theaterpädagogik mimetische Vorgänge, etwa das Nachahmen von Gesten, die schon unbewusst im Kleinkindesalter stattfinden. Die Idee ist daher, mit einem theaterpädagogischen Ansatz die Perspektivübernahmefähigkeit bereits in einem früheren Alter trainieren zu können. Darauf habe ich mich im praktischen Teil der Arbeit gestützt und ein Kartenset mit dem Titel ‹Ich sehe was, was du nicht siehst…› entwickelt. Es bietet diverse Umsetzungsideen für die Kindergartenstufe von Erzähl- und Figurentheater über Pantomime bis zu musikalischer Darstellung von Emotionen. Die Karten sind mit Bilderbuchvorschlägen, Kreis- und Freispielen sowie anderen Aktivitäten auf den Kindergartenalltag ausgerichtet. Die Kinder können vergleichen und andere Sichtweisen einnehmen, ohne dass Wertungen vorgenommen oder Differenzkategorien benannt werden. Ausgangspunkt war für mich die Thematik Rassismus und ich bin überzeugt, dass das Kartenset zur Rassismus-Prävention eingesetzt werden kann, sich jedoch auch allgemein für einen Unterricht im Diversity-Kontext eignet. Ich freue mich darauf, es in unterschiedlichen Klassen auszuprobieren und möchte es auch möglichst vielen anderen Lehrpersonen zugänglich machen, um einen partizipativen Austausch darüber zu generieren. Deshalb werde ich das Kartenset wohl beim Programm ‹Neues Wir› der Eidgenössischen Migrationskommission einreichen. Darin werden partizipative Projekte gefördert, die Diskurse, Bilder, Geschichten und Räume von ‹Wir und die Anderen› hinterfragen und Alternativen dazu entwickeln.»

Carole Schreiber. zVg.

PH-Magazin Nr. 5 2021  DAS HEFT 53


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook

Articles inside

Kolumne von Amina Abdulkadir

3min
pages 56-60

Ich sehe was, was du nicht siehst…» – Carole Schreiber über ihre Bachelor-Arbeit

2min
page 53

Spiel- und Lesetipps

5min
pages 54-55

Ausschluss wegen «Geistesschwäche» – Nadja Wenger über ihre Dissertation von Virginia Nolan

2min
page 52

Kommentar: «Als man Zeugnisse machen musste, vergass man den Vorteil der Mehrsprachigkeit, glaube ich» von Sandra Bucheli

3min
pages 44-45

Sport- und Bewegungsunterricht für alle

4min
pages 46-47

Unterschiedliche Erwartungen können zu Spannungen führen» - Astrid Marty über ihre Dissertation

2min
page 51

Interprofessionelle Kooperation bereits im Studium etablieren

2min
page 50

Kommunikation baut Brücken von Virginia Nolan

3min
pages 40-41

Kinder sind Expert*innen ihrer Lernprozesse

3min
pages 42-43

Kommentar: Potenzialorientierte Förderung als Bildungsauftrag

3min
pages 48-49

Unterrichtsthema Herkunft –eine Gratwanderung

5min
pages 37-39

Behinderung und Migration in der Sonderpädagogik – einige Anmerkungen zu einem schwierigen Verhältnis von Diana Sahrai

3min
pages 16-17

Ein Schatz, den es zu Nutzen gilt von Marc Fischer

5min
pages 18-21

(Lern-)Beziehungen öffnen Türen von Michael Hunziker

6min
pages 24-27

Der Kooperationsaspekt ist ganz entscheidend» Gespräch mit Olga Meier-Popa, Marianne Stöckli und Jan Weisser von Marc Fischer

13min
pages 8-13

Bildung an Schule und Hochschule im Kontext gesellschaftlicher Diversität von Susanne Burren

3min
pages 14-15

Nachgefragt Wo erleben Sie Integration - Inklusion

2min
pages 6-7

Schulisches Lernen mehrsprachig von Simone Kannengieser

2min
pages 22-23

In der Schule Geschlechterrollen hinterfragen

6min
pages 28-31
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.