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ALTE DENKWEISEN ÜBER BORD WERFEN „Eigentlich ist dieses Vorhaben für eine Stadt wie uns zu groß“, erklärt Bauamtsleiter Andre Stefan mit Blick auf die roten Fassaden der ehemaligen Produktionshallen der Baumwollspinnerei in Flöha. „Aber wer nicht wagt, der nicht gewinnt“.
Gemeint ist das Projekt zur Umgestaltung des Industriedenkmals Alte Baumwolle, für das die 10.000-Einwohner-Stadt seit den 1990er Jahren kämpft. Aus dem ehemaligen Motor der Industrialisierung bildet sich ein neues Zentrum mit einem Marktplatz heraus, den es bisher in Flöha nicht gab. Das Leben soll hier wieder pulsieren. Die Bücherei, eine der größten Kindertagesstätten Sachsens und Lebensmittelhändler sind bereits in die sanierten Gebäude gezogen. Gerade entstehen neue Eigentumswohnungen und weitere sind in Planung. Über 200 bewegte Jahre
heim oder die Verwahranstalt für Kinder, eine Art Kindergarten. Sogar eine betriebseigene Feuerwehr wurde später auf dem Gelände integriert. Zu DDR-Zeiten kümmerten sich Betriebsärzte und Versorgungsläden um die Beschäftigten und deren Angehörige. 1994 sollte schließlich zum Schicksalsjahr der Alten Baumwolle werden. Mit dem Zusammenbruch der Textilindustrie endete die Zeit der großen Produktion in Flöha, Hunderte verloren ihre Arbeit. Aber selbst in dieser schwierigen Phase keimten bereits Ideen, wie das Areal weiter genutzt werden könnte. Ein erster Investor sei schnell gefunden worden, der zunächst sehr viele nicht erforderliche Gebäude und Altlasten beseitigte, erinnert sich Stefan. „Leider ging dieser aufgrund anderer Projekte in Konkurs und es herrschte wieder Stillstand.“ Der damalige Oberbürgermeister Friedrich Schlosser und der Stadtrat wollten dabei nicht tatenlos zusehen und ergriffen die Initiative. Zum Symbolwert von einer D-Mark kauften
Foto: Ticoncept GmbH
Seit 1809 prägt die Baumwollspinnerei die Stadt. Jede Flöhaer Familie ist auf die ein oder andere Weise mit der „Baumwolle“ verbunden. Sie ist ein großes Stück Identität für die Einheimischen. Angesiedelt an der Zschopau, mauserte sich die Spinnerei nach und nach zu einem großen Arbeitgeber der Textilbran-
che. Besonders unter der Fabrikantenfamilie Clauß entfaltete sich das Areal bis etwa 1910 zu seiner jetzigen Größe von etwa 65.000 Quadratmetern. An den Gebäuden kann man diese Entwicklung sehr gut ablesen. Zunächst wurden Häuser mit sehr vielen Fenstern gebraucht, damit viel Licht in die Räume fällt. In ihnen werden gerade Eigentumswohnungen realisiert. Danach entstanden immer größere Hallen mit hohen Decken und imposanten Glasscheiben, um für Maschinen Platz zu schaffen. Von außen fällt zuerst die Klinkerstruktur ins Auge. Auch Verzierungen und der durch die Ecktürme ausgelöste kastellartige Eindruck bilden ein stimmiges Gesamtkunstwerk. „Das war kein profaner Industriebau“, bekräftigt Andre Stefan. Otto und Ernst Iselin Clauß errichteten um 1900 außerdem die Fabrikantenvilla, den heute öffentlichen Park mit Gehölzen aus den Ursprungsländern der Baumwolle, Arbeitshäuser und Sozialbauten, wie ein Ledigenwohn-
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Wirtschaftsmagazin SACHSEN 2021/2022
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