WIESBADENER*IN, Ausgabe IV/2022

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Ausgabe IV / 2022 Preis: 6,50 € Pop meets Klassik Wiesbadener Night of Music Ludwig Museum Koblenz Art after the Shoah Weltkino Wiesbaden 35. Exground filmfest Marc Chagall Welt in Aufruhr FLUT Zeugnisse einer Katastrophe Naturtransformationen Videoinstallation von StellaTinbergen Lost Place Altes Polizeipräsidium Frankfurt Runter von der Couch! Ausflugstipps für die kalte Jahreszeit 12 Wochen –3 Regionen 2. Tanuns-Kunst-Triennale 10 Jahre W!Bau GmbH Die kommunale GmbH feiert Jubiläum Wiesbadener*in Magazin für Kunst, KulTouren und Lebensfreude

Inhalt

Als im Frühjahr dieses Jahres die neuen Veranstalter der Wiesbadener Fototage ihr Motto „Unruhige Zeiten“ vorstellten, konnte man vielleicht noch nicht voraussehen, wie nachhaltig und real es sein wird.

Jetzt stehen wir mitten drin in die sem Motto. Und wie immer geht es auch diesmal um schwierige Finanzier barkeiten, fehlende Perspektiven und die Frage nach einer vielleicht nicht ganz freiwilligen Neuorientierung. Wol len wir ein Leben im ständigen Fluß?

menschen & meinungen

Starke Frauen S. 4 kultur & kreatives Kultur am Morstein S. 5 Art after the Shoah S. 6 Taunus-Kunst-Triennale S. 8 Naturtransformationen S. 10 projektraumKUNST S. 12

Tanz auf dem Eis S. 14 Pop meets Klassik S. 15 Runter von der Couch S. 16 European Youth Circus S. 18 Theaterdonner S. 22 Staatstheater Saarbrücken S. 28 Chagall S. 0 FLUT S. 1 Lost Place S. 2 PARDON – Teuflische Jahre S.  Staatstheater Darmstadt S. 4 IMF 2022 S. 6 unternehmen & märkte 10 Jahre W!Bau Gmbh S. 20 magazin KulTouren S. 24 zusammenleben CCW 2.0 S. 7 Wohnprojekt BLÜ17 S. 8

Da ist Kunst und Kultur der wahre Balsam für die Seele. Auf zwei bemer kenswerte Ausstellungen möchten wir in dieser Ausgabe hinweisen. Mit einer außergewöhnlichen Schau beendet das Ludwig Museum in Koblenz das Ausstellungsjahr 2022. Erstmals wer den die konfrontative Kunst von Boris Lurie (1924-2008) und Wolf Vostell (192-1998) unter dem Titel „Art after the Shoah. Kunst nach der Shoah“ gemeinsam gezeigt. Beide Künstler entschieden sich für eine die Realität aufbrechende Kunst, die den Betrach ter mit Fakten und Phänomenen der Gewalt konfrontiert, ihn ohne Erklärung und Sinnstiftung zurücklässt und ihn so zu einer Stellungnahme zwingt (S. 6).

Das Stadtmuseum Hofheim prä sentiert die 2. Taunus-Kunst-Triennale mit rund 100 Werken von 29 Künst lerinnen und Künstlern erneut unter schiedlichste künstlerische Positionen – dieses Mal aus dem Zeitraum der letzten drei Jahre mit dem Fokus auf das Motto Maskenball (S. 8).

Zu Weihnachten schenkt man Bücher, zum Beispiel. Zwei möchten wir unseren Leser:inn: en besonders an Herz legen. Der Wiesbadener Fotograf Eckart Bartnik hat über neun Monate die Auswirkungen der verheerenden Flut im Ahrtal vom Juli 2021 dokumentiert. Doch Bartnik ist kein klassischer Dokumentarfotograf. Seine Bilder sind eher die Bühnenbilder der Katastrophe. Seine Bilder, die er in seinem Bildband „Flut“ zusammengefasst hat, lassen aber auch ahnen, dass aus jeder Zerstörung etwas Neues entstehen kann (S. 31).

In dem Buch „Lost Place – Das alte Polizeipräsidium“ Frankfurt geht es um einen mysteriösen Ort, an dem die Zeit stehen geblieben ist. Zwischen 1904 und 2002 wurden an der FriedrichEbert-Anlage die Verbrechen der Stadt aufgeklärt. Dann, bis 2010, wurden dort Partys gefeiert - seitdem ist es ein „Lost Place“– eine morbide Ästhetik des Zerfalls, eindrucksvoll Fotografiert

Ullrich Mattner (S. 32). Das und einiges mehr bietet das vorliegende Magazin. Da wünschen wir Ihnen wir immer viel Vergnügen mit Kunst, Kultur und Kulinarik in diesen aufregenden, unruhigen Zeiten.

Anzeigenleitung: Tobias Mahlow • Vignetten: Bernd Schneider • Druck: WIRmachenDRUCK GmbH, Mühlbachstr. 7, 71522 Backnang

Redaktionsschluss für die Ausgabe I/202: 15.02.202 • Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages • alle Fotos und Logos wurden uns – wenn nicht anders dokumentiert – von den porträtierten Personen/Institutionen zur Verfügung gestellt.

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IMPRESSUM: Titelbild: Petra Straß, Hofnärrin, 2021, Fotografie auf Alu-Dibond, 70 x 50 cm, VG-Bildkunst 2022. Foto: © Petra Straß, Stadtmuseum Hofheim • Herausgeberin, Gesamtkoordination & Gestaltung: media
e •
futura
Inh. Petra Esser
Mittelstraße  • 56856 Zell/Mosel
Tel. 06542.954.00.80
Fax: 06542.954.00.79
www.media–futura.d
mail@media–futura.de
Gestaltung: Petra Esser • Redaktion: Petra Esser, Tobias Mahlow, Gesine Werner, Konstantin Mahlow
von Noch mehrere Wochen nach der Flut war dieser Campingplatz in einem Nebental der Ahr abgeschnitten. Drei Bewohner starben. Um Platz für weitere Aufräumarbeiten zu schaffen, stapelte man die zertrümmerten Wohnwagen kurzerhand. Sahrbachtal, Anfang September 2021. Foto: © Eckart Bartnik Die Flut riss Eisenbahnschienen aus ihrer Spur, verbog sie und brachte sie sogar zum Bersten. Altenburg, Ende Juli 2021. Foto: © Eckart Bartnik

Heureka! Das Staatstheater der Landeshauptstadt bekommt bald eine weib liche Führungs-Spitze. Dorothea Hartmann & Beate Heine bilden das hochkarätige Gespann, das zur Spielzeit 2024/25 vertragsgemäß für zunächst fünf Jahre das Steuer übernimmt.

Die hessische Kunst- und Kultur ministerin Andrea Dorn hatte mit Wiesbadens Oberbürgermeister Gert-Uwe Mende die Personalie Mitte November verkündet.

„Mit Dorothea Hartmann und Beate Heine haben wir zwei starke Theaterfrauen für unser Staats theater gewinnen können“, teilte die Ministerin mit. „Nicht nur ihr innovatives Konzept mit einer ausgeprägten zeitgenössischen Handschrift, einem Bekenntnis zum Ensembletheater und frischen Ideen für ein starkes Wirken in die Stadt haben uns überzeugt. Auch ihr Führungsmodell verspricht, eine gute Lösung für den Neustart und die Zukunft des Staatstheaters zu sein. Hessen hat mit der Doppel spitze m Landestheater Marburg eine Vorreiterrolle inne.“

der Deutschen Oper Berlin, eta blierte als Künstlerische Leiterin und Geschäftsführerin der Spiel stätte „Tischlerei“ eine wichtige Plattform für neues Musiktheater.

Als Dramaturgin vernetzt mit der internationalen Opernszene seit ih ren Anfängen in Mannheim & Linz, war sie an der Staatsoper Hanno ver, schrieb Libretti für Kinder- und Jugendstücke, ist Jurorin für den Theaterpreis „Der Faust“ und im Vorstand der dramaturgischen Gesellschaft.

Die Hamburgerin Beate Heine ist stellvertretende Intendantin am Deutschen Schauspielhaus der Hansestadt. Seit vielen Jahren wirkt sie in Leitungsfunktionen als Chef dramaturgin und Vize-Intendantin - vom Thalia Theater Hamburg über Staatstheater Dresden bis zum Schauspiel Köln. Studiert in Thea terwissenschaft, Germanistik und Romanistik, war sie Journalistin und Autorin, als Dramaturgin der Volksbühne am Rosa LuxemburgPlatz und an der Schaubühne am Lehniner Platz tätig.

Herzlich willkommen in Wiesbaden!

„Wir freuen uns sehr, ab 2024 das kulturelle Leben in einer so span nenden und traditionsreichen Stadt wie Wiesbaden mitzuprägen. Als Zweierteam an der Spitze des Hes sischen Staatstheaters Wiesbaden stellen wir das Prinzip des Dialogs ins Zentrum unserer Intendanz. Theater als Ort der Kommunikation, für eine diverse Stadt und Region - und im Austausch mit der interna tionalen Szene.“

Das Marburger Führungsduo Eva Lange & Carola Unser sorgt weit über die Landesgrenzen hinaus für Furore. Und am Stadttheater Gießen leiten Simone Sterr & AnnChristine Mecke die Geschicke.

Die zukünftige künstlerische Dop pelspitze führt dann mit dem Ge schäftsführenden Direktor Holger von Berg das Haus. Dorothea Hartmann, seit 2012 in der Leitung

Gesine Werner, geprüfter Mann und Diplompädagogin

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Starke Frauen stellen Prinzip des Dialogs ins Zentrum Dorothea Hartmann & Beate Heine werden Intendantinnen in Wiesbaden
menschen & meinungen
Beate Heine Dorothea Hartmann

Inmitten einer der heftigsten und herausforderndsten Zeiten für die Kultur gehen die Betreiber der Eventlocation GUT LEBEN am Mor stein in Westhofen (Rheinhessen) voran und fördern mit ihrem umfangreichen Kulturprogramm Kunst in der Region Rheinhessen. Mit Künst lern aus der Region, interessanten Entdeckungen aus anderen Ecken Deutschlands sowie großen Namen der Musik- und Kabarettszene wurde hier in kurzer Zeit ein Programm auf die Beine gestellt, das sich sehen lassen kann.

Leser:innen des Magazins WIESBADENER*IN können sich genau davon selbst überzeugen, in dem sie an unserer exklusiven Verlosung teilnehmen. Für die folgenden Termine gibt es jeweils 2 Karten zu gewinnen:

Neujahrskonzert mit dem Aris Quartett am 7. Januar 2023

Das Aris Quartett zählt zu den jungen Himmelsstürmern im Konzertgeschehen. Sonst in der Elbphilarmonie und auf den anderen großen Bühnen der Welt unterwegs, jetzt wieder ein mal im Herzen Rheinhessens, im Gewölbe am Morstein.

„Reusch rettet 2022“

– Der Jahresrückblick am 28. Januar 2023

Die Bühnenpräsenz des Kabarettisten Stefan Reusch ist en orm; beredt legt er seinen Stimmfinger auf die vielen Pannen und Peinlichkeiten des vergangenen Jahres. (Südwest-Presse 20.01.2020) „… Er ist ein absoluter Künstler der sprachlichen Vielfalt.“ (Schwäbische Zeitung)

Bitte beantworten Sie folgende Frage: An welchem Datum (Tag/Monat/Jahr) wurde GUT LEBEN am Morstein in Westhofen eröffnet?

Ihre Antwort zusammen mit Ihrer Wunschveranstaltung senden Sie bitte bis 15. Dezember 2022 an: mail@media-futura.de (Der Rechtsweg ist ausgeschlossen sowie die Mitarbeiter:innen der media futura).

Kabarett mit Stefan Waghubinger am 7. Mai 2023 Stefan Waghubinger ist der Gewinner des Kleinkunstpreises Baden-Württemberg 2021. Der Österreicher, der seit fast 0 Jahren in Korntal-Münchingen (Kreis Ludwigsburg) lebt, ist Stand-Up-Comedian. Österreichisches Jammern und Nörgeln mit deutscher Gründlichkeit ist das Motto seines Satire-Kaba retts.

Lesung alte Liebe mit Walter Sittler und Mariele Millowitsch am 28. Mai 2023

Mit klugem Witz und heiterem Ernst erzählen Elke Heidenreich und Bernd Schröder die Geschichte einer in die Jahre gekom menen Liebe. Was ist geblieben nach 40 Jahren Ehe? Und, was soll das eigentlich alles? In umwerfenden Dialogen und mit viel Selbstironie lesen Mariele Millowitsch und Walter Sittler Szenen einer Ehe, in der sich wohl ganze Generationen wie dererkennen können.

www.am-morstein.de

Mit Kultur GUT LEBEN am Morstein

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kultur & kreatives
Aris Quartett am 7. Januar 2023 Reusch rettet 2022 am 28. Januar 2023 Stefan Waghubinger am 7. Mai 2023 Sittler/Millowitsch am 28. Mai 2023

Mit einer außergewöhnlichen Schau beendet das Ludwig Museum in Koblenz das Ausstellungsjahr 2022. Erstmals werden die konfrontative Kunst von Boris Lurie (1924-2008) und Wolf Vostell (1932-1998) unter dem Titel „Art after the Shoah. Kunst nach der Shoah“ gemeinsam ge zeigt.

Die Ausstellung vergleicht erstmals die Künstler Boris Lurie und Wolf Vo stell im Zeichen ihrer gemeinsamen Auseinandersetzung mit der „Shoah“. Im gegenseitigen Austausch und in Bezug auf ihr gemeinsames Anliegen lieferten beide Künstler entschei dende Impulse für die Kunstentwick lung nach dem Zweiten Weltkrieg.

Indem sie die entsetzlichsten Bilder von Kriegsverbrechen mit oberfläch lichen Werbebildern kombinieren, richtet sich ihre Arbeit als Anklage gegen das Konsumverhalten der

Nachkriegszeit, das wieder aufge nommen wurde, ohne Rücksicht auf das Trauma, das die Juden und andere Verfolgte erlitten hatten und ohne zu reflektieren, was an Verbre chen geschehen war.

Boris Lurie wurde 1924 in Leningrad, in der Sowjetunion, geboren und wuchs in Riga, Lettland, auf. 1941 marschierten die Nazis in Lettland ein und ermordeten mehr als 40.000 Menschen, darunter auch Boris Luries Großmutter, Mutter, seine Schwester und seine Jugendliebe. Boris Lurie und sein Vater wurden inhaftiert.

Ein Jahr nach der Befreiung durch die Amerikaner wanderten Boris Lurie und sein Vater nach New York aus. Dort begann Boris Lurie künstlerisch tätig zu werden. Im Kreis weiterer Exilkünstler, bedingt aber auch durch die Freundschaft und Partnerschaft mit der Galeristin

Gertrude Stein, stabilisierte er immer selbstbewusster seine Antikunst.

Auf breiter Linie lehnte er den ober flächlichen Glanz einer auf Profit, Glamour und medialen Ruhm aus gerichteten Kunst gänzlich ab. Durch seine Freundschaft mit Wolf Vostell Anfang der 1960er Jahre erweiterte sich das Spektrum seines Werkes. 1959 gründete Boris Lurie, zusam men mit den Künstlerkollegen Sam Goodman und Stanley Fisher die „NO!art-Bewegung“.

In einer Zeit, in der die optisch an sprechendere und, Boris Luries Mei nung nach, unpolitische Pop Art en vogue war, war es das Hauptziel von „NO!art“, die Realität der Nachkriegs gesellschaft offen und ehrlich darzu stellen. Bis zu seinem Tod im Jahr 2008 war Lurie sowohl als Künstler als auch als Schriftsteller tätig. Seine Arbeiten sind in mehreren führenden Sammlungen vertreten,

Art after the Shoah – Kunst nach der Shoah

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kultur & kreatves
Wolf Vostell: „Lipstick Bomber“, 1968, Siebdruck eines Zeitungsausschnitts, Lippenstifte © VG Bild-Kunst, Bonn 2022

Wolf Vostell gilt als Pionier der In stallations- und Videokunst sowie der Skulptur im öffentlichen Raum. In den späten 1950er Jahren begann er in Paris mit dem Abreißen und Dekonstruieren von Plakaten. In den frühen 1960er Jahren wurde er zu ei ner der treibenden Kräfte von Fluxus . Berühmt wurde Vostell durch seine Happenings, die er fotografierte und auch auf Video festhielt. Unter der Maxime „Kunst = Leben“ reizte Vostell die Gegenüberstellung alltäglicher Welten des bürgerlichen Wohlstandes und des verdrängten Grauens von Krieg und Brutalität aus und fand dabei zu einer Ästhetik, die ihre Zeit wesentlich geprägt und da rüber hinaus relevant geblieben ist. Bereits seit den 1950er Jahren the matisierte Wolf Vostell in zahlreichen Werken den Holocaust. Nicht zuletzt mit seiner Kleidung – schwarzer Hut, schwarzer Mantel und Haarlocken – wollte eran die orthodoxen Juden erinnern, die einst in Deutschland zum gewohnten Stadtbild gehörten.

Boris Lurie und Wolf Vostell trafen sich vermutlich das erste Mal wäh rend des ersten Aufenthaltes von Vostell im Mai 1964 in New York. Im Zentrum ihrer künstlerischen Arbei ten steht die Auseinandersetzung mit der Realität der Massenmedien, die alle kritischen Inhalte aufsaugen und relativieren. Beide Künstler nutzten die Bildtechniken der Massenmedi en, um der permanenten Manipula tion entgegen zu wirken. Schlimmer als die erlebten Verbrechen war es für Boris Lurie, die Gleichgültigkeit

seiner Zeitgenossen zu ertragen.

Mit seinen Collagen reagierte Lurie auf den Zynismus der amerika nischen „Affluent Society“, für die alle Bedürfnisse wie Liebe und mensch liche Nähe und alle Bilder, unabhän gig von ihrer moralischen Bedeutung, zu Waren geworden waren. Beide Künstler entschieden sich für eine die Realität aufbrechenden Kunst, die den Betrachter mit Fakten und Phänomenen der Gewalt konfron tiert, ihn ohne Erklärung und Sinnstif tung zurücklässt und ihn so zu einer Stellungnahme zwingt.

Zur Ausstellung erscheint ein um fangreich illustrierter Katalog „Boris Lurie and/ und Wolf Vostell. Art after the Shoah. Kunst nach der Shoah“ im Hatje/ Cantz Verlag. Ausstellung und Katalog sind eine Kooperation des Kunstmuseums Den Haag, des Kunsthauses Dahlem, des Ludwig Museum Koblenz sowie des Ludwig Múseum Budapest und verdanken sich der maßgeblichen Förderung durch die Boris

Foundation, New York, und des Wolf Vostell Estate, Malpartida.

Boris Lurie und Wolf Vostell: Art after the Shoah – Kunst nach der Shoah bis 29. Januar 2023 Ludwigmuseum im Deutschherrenhaus Esther-Bejarano-Str. 1 56068 Koblenz

https://ludwigmuseum.org

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Lurie
kultur & kreatives
Boris Lurie, “A Jew is Dead...”, 1964, Farbe und Papier auf Leinwand, 295. x 169.5 cm. © Boris Lurie Art Foundation Wolf Vostell, Endogene Depression (Version Los Angeles), 1980. The Wolf Vostell Estate. © VG Bild-Kunst, Bonn 2022

Begonnen hat alles 2019, als es sich das Stadtmu seum Hofheim und der Kunstverein Hofheim e.V. zum Ziel gesetzt haben, die örtliche Kunsttradition in zeitgemäßer Form weiterzuentwickeln und in der Region wirkenden Kunst schaffenden ein neues Forum zu bieten.

Dies mit dem Blick auf bekannte Künstlerinnen wie Ottilie W. Roe derstein, Hanna Bekker vom Rath und Marta Hoepffner sowie etliche namhafte Kunstschaffende und Fördernde, die durch ihr Wirken in Hofheim und der Region bedeu tende kulturelle Impulse gesetzt haben. Nun geht die Ausstellungs reihe Taunus-Kunst-Triennale in die zweite Runde und regt, ganz im Sinne der Tradition Hofheims als Ort der Kunst und Inspiration, öf fentliches wie privates Engagement für die Gegenwartskunst an.

Seit dem 27. November 2022 präsentieren die Veranstaltenden in Hofheim mit rund 100 Werken erneut unterschiedliche künstlerische Positionen – dieses Mal aus dem Zeitraum der letzten drei Jahre mit dem Fokus auf dem Motto Maskenball. Mit dem Thema spielen die Verantwortlichen nicht nur auf die Ausnahmesituation der vergangenen Jahre an, sondern auch auf die vielbezüglichen Vexierspiele, die ein Maskenball ebenso ermöglicht wie eine Gruppenausstellung. Eine vierköpfige, unabhängige Jury wählte aus 80 Bewerbungen insgesamt 29 Künstlerinnen und Künstler, darunter ein KünstlerDuo, aus, deren Werke noch bis zum 19. Februar 202 im

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12 Wochen – 3 Regionen: Maskenball im Taunus Das Stadtmuseum Hofheim präsentiert die 2. Taunus-Kunst-Triennale mit rund 100 Werken von 29 Künstlerinnen und Künstlern für den Main-Taunus-Kreis, dem Hochtaunuskreis und dem Rheingau-Taunus-Kreis 27. November 2022 bis 19. Februar 2023
kultur & kreatives
Christian Paulsen, Weißes Gold, 2021, Öl auf Leinwand, 120 x 80 cm. Foto: Herbert Fischer

Stadtmuseum Hofheim und den Außenstellen Café Momento (Hof Ehry) und der Scheune in der Bärengasse (Atelier Haindl) gezeigt werden. Außerdem ziert das Freihand-Graffiti MASKENBALL des Street-Art-Künstlers BOMBER eine Garagenwand in der Hattersheimer Straße.

Dabei haben sich die im Rahmen der Taunus-Kunst-Triennale 2 präsentierten Künstlerinnen und Künstler den Ereignissen der ver gangenen drei Jahre ganz unter schiedlich genähert, auch wenn es sich wiederholende Themen gibt. Ein Hauptmerkmal der Pandemie wird auch in den Kunstwerken the matisiert: die Einschränkung sozi aler Kontakte in Form persönlicher Begegnungen. Ob Vereinsamung, Suche nach neuen Formen des sozialen Austausches oder kon templative Einkehr – die Bandbrei te der individuellen Reaktionen und Umgangsweisen auf die Notwen digkeit des „social distancing“ wird in den Kunstwerken reflektiert. In dem Diptychon „Game Over“ von Joko von Wolf blickt man auf einen leeren Tenniscourt. Ein neongelber Tennisball, übrig geblieben von einer bereits zu Ende gegangenen Partie, liegt verloren auf dem Spiel feld. Der leere Tennisplatz kann als Sinnbild für das still stehende öffentliche und gesellschaftliche Leben gesehen werden. Motivisch prägt die Maske viele der eingerei chten Arbeiten.

Aber auch Verhaltensweisen wäh rend der Pandemie werden zum Bildmotiv, wie das offenbar typisch deutsche Phänomen, sich mit Toilettenpapier zu bevorraten. Be gleiterscheinungen der Pandemie werden ebenfalls thematisiert: So greift Verónica Aguilera Carrasco in ihrer Arbeit „Handschaufel, Bürste und Lehmstaub“ den Umstand auf, dass die Pandemie zu einem Rück fall in traditionelle Rollenmuster geführt hat. In den meisten Fällen waren es die Frauen, die – neben ihrem Beruf – zu einem großen Teil die Kinderbetreuung und die Haus arbeit übernommen haben.

Auch die spezielle Situation der Kunstschaffenden, die nicht zur Gruppe der sogenannten system relevanten Berufe gezählt wurden, wird vereinzelt angesprochen, so in der Ansicht leerer Ausstellungs räume in der Radierung „geschlos sen“ von Heinz Wallisch oder in

Joko von Wolf, Game Over, Diptychon (Ausschnitt), 2021, FineArt Druck auf Papier, kaschiert auf Forex, je 91 x 61 cm. Foto: © Joko von Wolf

der Figur der Hofnärrin in den Selbstinszenierungen von Petra Straß.

Für die Teilnahme an der zweiten Taunus-Kunst-Triennale konnten sich erstmalig Kunstschaffende aus den Landkreisen Main-Tau nus-Kreis, Hochtaunuskreis und Rheingau-Taunus-Kreis bewerben. An der Ausstellung beteiligen sich die Künstlerinnen und Künstler Verónica Aguilera Carrasco, Doris Bardong, Ann Besier, Petra Ehrn sperger, Barbara Heier-Rainer, Anne Killat, Judita Lampe, Kathrin Lieske, Christian Paulsen, Clau dia Pense, Angela Preijs, Marlies Pufahl, Usch Quednau, Michaela

Ruppert, Sigrid Schauer, Marlene Schulz, Helge Steinmann, Helma Steppan, Youngwha Song, Brigitte Sterz, Petra Straß, Jörg Strobel, Simon Tresbach, Dimitri Vojnov, Manfred Walch, Heinz Wallisch, Kai Wolf und das Künstlerduo Joko von Wolf.

Die zweite Taunus-Kunst-Triennale will Räume öffnen für ästhetische Erfahrungen und für ein gemein sames Nachdenken und lädt dazu ein, miteinander ins Gespräch zu kommen.

Mehr dazu unter: www.hofheim.de/kultur/Stadtmuseum/

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NATURTRANSFORMATIONEN

Videoinstallation von Stella Tinbergen zu Arbeiten von Ulla Reiss, Titus Grab und Horst Reichard

Vom 12. bis 25. November 2022 wurde in der Englischen Kirche St. Augustine of Canterbury in Wiesbaden, die Videoinstallation NATURTRANSFOR MATIONEN von Stella Tinbergen gezeigt.

Stella Tinbergen ist Dokumentarfil merin und Bildende Künstlerin. Das Magazin WIESBDENER*IN hat im vergangenen Jahr über den Film „Kunst als Schlüssel zur Existenz – Die Künstlergruppe50 Wiesbaden“ berichtet. In dem Do kumentarfilm begleitete Stella Tin bergen eine der ältesten städtischen Künstlergruppen Deutschlands bei ihrem Schaffen.

Die neueste Arbeit von Stella Tin bergen, die Videoinstallation „Na turtransformationen“ begleitet die drei Wiesbadener Künstler*innen Ulla Reiss, Titus Grab und Horst Reichard auf der Suche nach ge eigneten Materialien für ihre Instal lationen.

Dabei enthüllt Sie nicht das Ge heimnis der Werke, deren Entste

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kultur & kreatives
Totale Installation, Horst Reichard

Stella Tinbergen, für ihre Arbeit mehrfach mit Preisen geehrt, hat 201 auch das Christa MoeringStipendium erhalten. Sie studierte an der Höheren Technischen Bundeslehranstalt Graz, Fachrichtung Audiovisu elle Medien, und an der Film hochschule Wien.

Der Schwerpunkt ihres filmischen Schaffens liegt in den Bereichen Kunst und Psycho logie.

Unter den Anerkennungen findet sich auch ein Journalistenpreis im Jahr 2006 zum Thema „Schi zophrenie und Stigma“ für den Film „Siegfried – Geister, die ich rief“. Unter den Dokumentarfil men auch „Hanna Bekker vom Rath – Botschafterin der Kunst“, eine Arbeit, die sie dank des Moering-Stipendiums anging. Oder etwa „Marianne von Werefkin – Ich lebe nur durch das Auge“ sowie „Poeten des Tanzes – Die Sacharoffs“.

Stella Tinbergen widmet sich außerdem der Objektkunst, so entstand das „Bekenntnis des Tänzers Alexander Sacharoff“ oder zusammen mit Horst Reichard (Gruppe50) die Instal lation „Stirb und Werde“.

Mehr unter: www.tinbergen.de

hung sie begleitet, sondern präsen tiert als besonderen Kunstgriff – stattdessen die Werke zeitgleich mit ihrer Installation.

Stella Tinbergen dazu: Die Ästhetik der Arbeitsvorgänge meiner drei Künstlerkolleg*innen hat mich so beeindruckt, dass ich mich für meine Installation auf genau die sen Aspekt ihres Kunstschaffens konzentriert habe: auf das Finden und Fügen, auf den respektvollen Umgang mit der Natur und darauf, das Gefundene auf eine neue Ebene zu bringen. Dieser Prozess entspricht im übertragenen Sinne meiner Arbeit als Dokumentarfil merin.

All diese Prozesse habe ich in ge trennten Videofilmen dokumentiert und in einer Installation aus drei Monitoren zusammengeführt. Frag mentarisch gewissermaßen stehen hier Momente aus den Schaffensprozessen von Ulla Reiss, Titus Grab und Horst Reichard, gleichbe rechtigt neben den Werken, die wir ausgestellt haben.

Um die Besonderheit dieser Mo mente sichtbar zu machen, habe

ich die drei Monitore in Form eines Triptychons angeordnet.

Dreifach gefaltet erweckt es so – ganz bewusst – die Assoziation eines Andachtsbildes. So erlaubt die dreiteilige Videoinstallation auch Brückenschläge zu den un terschiedlichen und doch sehr ähn lichen künstlerischen Haltungen.

Für diese Videoinstallation habe ich mit Marc Nordbruch zusam mengearbeitet. Uns verbindet seit mehr als 20 Jahren eine fruchtbare Zusammenarbeit, und er zeichnet bei meiner Videoinstallation für Bildgestaltung und Montage ver antwortlich.

Der Installation wurde die Natur sinfonie von Cornelius Hummel unterlegt.

Während der Vernissage führte Cornelius Hummel seine neueste Komposition vor: „In die Tiefe des Raumes“, die wie Stella Tinbergens aufwendige Videoinstallation Naturtransformationen durch ein Projektstipendium der Hessischen Kulturstiftung Wiesbaden (2020) ermöglicht wurde.

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kultur & kreatives
Ulla Reiss: Objekt aus Lieschgras

Ausstellung im QUARTAL

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Künstlerinnen aus der Schweiz und aus Deutschland begegnen sich im projektraumKUNST

Im Oktober 2020 eröffnete die Künstlerin Angela Cremer in der ehemaligen Metzgerei einen neuen Ort für Künstler*innen und Kunstinteressierte.

Konzeptionell sind die Ausstellungen so angelegt, dass pro Quartal pro fessionell Kunstschaffende ihre Werke zusammen präsentieren und sich und ihre Arbeiten selbst ver treten, wobei ein monatlicher Aus tausch der Kunstwerke stattfindet. Der monatliche Wechsel der Arbei ten soll das Schaffen der Künstler gruppe in den Vordergrund stellen und den Diskurs um die jeweiligen Arbeiten anheizen.

Wie bereits in den ersten beiden Monaten des vierten Quartals 2022 stellen auch im dritten Teil der Quartalsausstellung die vier Künst lerinnen Iris Kaczmarczyk (DE – Wiesbaden), Heike Röhle (CH - Konolfingen), Katharina Tebbenhoff (DE - Bad Vilbel), und Angela Cremer (DE-Wiesbaden) aus. Die Kunstwerke werden vom 1.12. – 0.12.2022, wie bereits in den vorangegangenen Monaten unter einem anderen Konzept von den Kunstschaffenden zusammengestellt.

So lohnt es immer, mindestens einmal im Monat die Produzentengalerie zu besuchen.

Es ist nun schon eine gute Gewohn heit, dass die Künstlerinnen selbst während der Öffnungszeiten des projektraumKUNST anwesend sind und sich auf Gespräche und einen lebendigen Diskurs freuen.

Wie in vorangegangenen Ausstel lungen zielt das Konzept darauf ab, ein Treffen zwischen Künstlerinnen und Besuchern in einem bewusst locker gehaltenen Rahmen zu er möglichen und das Augenmerk im wahrsten Sinne des Wortes auf die Arbeiten zu legen.

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Angela Cremer, Arbeit 2, Foto: © Angela Cremer
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Katharina Tebbenhoff, work in progress, Bronzedraht, Foto: © Katharina Tebbenhoff

Bis zum 0.12.2022 können die Kunstwerke in einer Auktion erworben werden.

Allgemeine Öffnungszeiten: donnerstags, freitags und samstags von 12 bis 18 Uhr

Infos zur Quartalsausstellung: 01.10.22 18 Uhr: Eröffnung Ausstellung I 0.11.22 12 Uhr

Wechsel der Werke - Ausstellung II 01.12.22 12 Uhr: Wechsel der Werke - Ausstellung III bis 0.12.22 18 Uhr: Auktion Ausstellung III

ProjektraumKUNST

Atelier Angela Cremer Saalgasse 16 6518 Wiesbaden

KONTAKT: Angela Cremer www.angelacremer.de info@angelacremer.de

kultur & kreatives
Iris Kaczmarczyk, Die Symmetrie der Wahrnehmung 2, Foto: © Iris Kaczmarczyk Heike Röhle, Arbeit 1, Foto: © Heike Röhle

Faszination mit Suchtpotenzi al. Mucksmäuschenstille im Großen Haus des Wiesbadener Staatstheaters. Die barocke Pracht der Bühneneinrahmung erscheint tiefschwarz. Das Tuch fällt, gibt den Blick frei auf 100 Quadratmeter weiße Schräge. Die „Bühne“ von Jim Hodges & Carlos Marques da Cruz ist eine 35 Grad steile Rampe bis in den Orchestergraben hinunter.

Alles total schräg hier. Vom ersten Au gen-Blick an zieht ein Faszinosum, von ausgefeiltem Licht- und Schattendesign illuminiert (Joakim Brink) mit sugge stiver Kraft hypnotisch in den Bann. Das Publikum sitzt auf der Stuhlkante und atmet kaum.

Der Doppelabend „V/ertigo“ mit Cho reografien von Damien Jalet und den Geschwistern Imre & Marne van Opstal startet mit dem grandiosen Spektakel „Skid“, das einen Teil des japanischen Rituals „Onbashira“ der “heiligen Holz säulen“ zitiert. Akrobatische Tanzkunst vom Feinsten.

Einzeln, zu zweit oder im Pulk stem men sie sich in rutschfester Montur (Jean-Paul Lespagnard) der Erdanzie hungskraft in stetem Fluss entgegen. Sie marschieren aufrecht und rutschen, kreiseln, klettern hoch und schleudern runter, stürmen einen alpinen Gipfel, trotzen dem Sturm, kleben wie Tropfen an der Steilwand. Die Poesie des Wi

derstands. Hoch hinauf und sich fallen lassen. Einmal ansehen ist zu wenig. Einzigartig. Furios.

Der zweite Teil des Abends „I`m afraid to forget your smile“ als berührende Choreografie der Geschwister van Op stal kommt zum a capella-Gesang des “V/ertigo“-Kammerchores (Schierstei ner Kantorei, Bachchor & Co.) mit Cho ralmusik von Arvo Pärt und Kollegen leise daher. Leben und Tod, Sein und Vergehen. Faust-Preisträger Ramon John und das fünfköpfige Ensemble fesseln mit prägnanten Körperbilder bis zu einer Pièta. Lautstarker Beifall.

Ballettdirektor Bruno Heynderickx, international erfahren und bestens vernetzt, setzt auch im Team mit Mousonturm-Chefin Anna Wagner auf Hochkaräter. Zum beliebten Dauer brenner entwickelt sich das Tanzfe stival Rhein-Main. Vom Kulturfonds Frankfurt-Rhein-Main „im siebten Jahr“ als phantasiereiches Projekt unter dem Motto „re:shape“ mit Überzeugung gefördert, wie Fonds-Geschäftsführerin Karin Wolff zur Eröffnung in der Darm städter Eissporthalle betonte.

Die athletische Kufen-Compagnie „Le Patin Libre“ („der freie Eisschuh“), 14 Personen starke Eistanz-Crew aus Kanada, brachte mit „Murmuration“ die ausgefeilte Choreografie des StarenFluges aufs Eis. Phantastisch, wie der Tanzschwarm schwebt, Eishockey-

Assoziationen weckt, Kampfparteien bildet, ein Mitglied mobbt und wieder integriert, Militärparaden imitiert. Pirouetten, Pas de deux und Sprünge inklusive. Magische Virtuosität.

„10 Jahre Tanztag Rhein-Main“ - ein Jubiläum wurde zelebriert. Die ivo rische Choreografin Nadia Beugré ist die Spotlight-Künstlerin, die mit ihrem rasanten Tanzstück „Entre deux“ (ein „Schwesterwerk“ zu Mozarts „Don Giovanni“) den Verführer-Mythos ohne eurozentrischen Blick energiegeladen gegen den Strich bürstet.

Achtung Tango-Fans: Gabriel Sala bittet mit La Chan Chan Quinteto & Nacha Daraio am 2. Dezember zum Salón TANGO ins Prunkfoyer. Zuschauen & Tanzbein Schwingen erbeten.

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Text und Fotos: Gesine Werner
steiler Schräge
Eis Das Hessische Staatsballet bietet als Zwei-Städte-Kompanie hochkarätige Tanzkunst – auch auf halsbrechericher Rampe
Faszination auf
und auf dem
kultur & kreatives
Die Schwerkraft hat ausgedient. Die Augen können es kaum glauben: „Skid“ zieht als hypnotischer Tanz auf halsbrecherischer Rampe in den Bann. Das Hessische Staatsballett in Höchstform.

Wenn bei allen Beteiligten gejubelt wird und die Proben nun endlich beginnen, dann heißt es Showtime. Denn die Musiker und Solisten musizieren es schon seit Wochen von den Dächern.

Die Wiesbadener Night of Music 2022, ein musikalisches Highlight im Dezember, klopft an die Tür.

Am 16.12. und 17.12.2022 wer den die Konzerte unter dem Motto „POP MEETS KLASSIK“ im Wiesbadener Kurhaus zelebriert.

Viele haben schon darauf gewartet, dass die NoM wieder stattfindet.

Nicht nur weil hervorragende Solisten aus Wiesbaden und der Region auf der Bühne stehen. Vielmehr werden das 60-köpfige Wiesbadener Sinfonieorchester un ter der Leitung von Frank Segner, sowie ein stimmgewaltiger Chor und die Night of Music Band diesen vorweihnachlich-rockpopigen Spirit im schönsten Kurhaus Deutsch lands verbreiten.

Ein garantiert unvergesslicher Abend mit buntem Programm und

Pop meets Klassik

– und das zum 9. Mal bei der Wiesbadnener Night of Music 2022!

zahlreichen musikalischen wie optischen Highlights. Übrigens: Jubeln, Tanzen und Mitsingen ist absolut erwünscht!

Und wenn am Ende die Gäste mit einem seligen Lächeln den Weg nach Hause antreten, dann wird bereits Großartiges für die 10. Jubiläumsausgabe nächstes Jahr geplant.

Seien Sie gespannt!

Alle bereits erworbenen Karten aus den letzten zwei Jahren be halten ihre Gültigkeit.

Tickets gibt es an den bekannten Vorverkaufsstellen und online unter: www.wiesbaden-nightofmusic.de

wiesbadener*in I/2022 15 IV/2022
kultur & kreatives

Ausflugstipps für Rheinhessen – auch wenn der Himmel weint

Das Leben ist zu kurz, um auf der Couch zu versacken. Auch bei schlechtem Wetter kann man Ausflüge machen und es sich gut gehen lassen. Zum Beispiel in Rheinhessen, dem weiten Land zwischen Bingen, Mainz und Worms. Hier gibt es viel zu entde cken. Also, nichts wie rein in die Regenjacke und los geht’s!

Unterirdisch gut und immer eine Reise wert ist das „Oppenheimer Kellerlabyrinth“. Kaum zu glauben, aber wahr: Die gesamte Altstadt des Weinortes ist unterkellert.

Zwei spannende Rundwege führen über mehrere Stockwerke hinweg durch historische Gänge, uralte Wein keller und Lagerräume, die Rätsel aufgeben. Die Stadt unter der Stadt kann im Rahmen von Führungen be sucht werden. Sie geben Einblick in verganene Zeiten, und unglaubliche Geschichten machen die Runde. Ein echtes Erlebnis!

Die Welt bleibt draußen – das gilt auch für das Escape Room Spiel „Grape Escape“ im Rotweinkeller des Weinguts Domhof in Guntersblum. Hier müssen die Gäste das Geheim nis des Kellermeisters lüften und seinen neu kreierten Tropfen stehlen, der gut versteckt in den Tiefen des Fasskellers lagert. Und natürlich darf der Wein im Anschluss auch verko stet werden.

Keller gehören zu Rheinhessen wie die Trauben zum Weinstock. Was uns die Menschen dazu aus ihrem Leben erzählen können, das erfährt man in der multimedialen Weinerlebnis-Aus stellung „Kellergenossen“ im Wein gewölbe des Ingelheimer Winzer-kel lers. Mit Filmen, sensorischen Erfah rungen und interaktiven Exponaten lernt man das Handwerk Weinbau hautnah kennen – an historischem Ort. Denn der Winzerkeller ist ein Stück Ingelheimer Weinbaugeschich te. Er prägt bis heute das Gesicht der

Stadt und ist ein Kulturdenkmal, das neben dem Hauptgebäude durch sei ne faszinierenden Keller beeindruckt. Immer hoch hinaus geht’s in der Klet terhalle in Mainz. In der „Clip n‘ climb“ sind jede Menge aufregende Kletter abenteuer mit über 0 ausgefallenen Linien zu bewältigen.

Ein großer Spaß für Jung und Alt ist auch das Indoor-Einlochen bei den „Schwarzlichthelden“ in der Mainzer Altstadt. Neonlichter, eindrucksvolle Graffitis und D-Effekte, die durch Spezialbrillen erlebbar gemacht wer den, beamen die Besucher in eine andere, faszinierende Welt. Da macht das das gute alte Minigolf plötzlich wieder so richtig Laune.

Wir bleiben in Mainz, denn wo sonst könnte es ein Museum wie dieses geben? Das im Magazin des Pro viantamts beheimatete Fastnachts museum erzählt die Geschichte der Meenzer Fassenacht, informiert über

16 wiesbadener*in IV/2022
kultur & kreatives
Nibelungemuseum Worms, © Dominik Ketz

Symbole und Bräuche, Straßen fastnacht und Garden, Prinzen und Prinzessinnen. Es zeigt Schwellköpp, Narrenkappen, Zugplakettscher, Or den und alles, was zur fünften Jah reszeit gehört.

Im Nibelungenmuseum in Worms wird die berühmte Sage, die eng mit der Stadt Worms verbunden ist, lebendig. Geschickt integriert in die staufische Stadtmauer ist es allein schon deshalb einen Besuch wert. Als „begehbares Hörbuch“ konzipiert, begleiten Audioguides den Besucher treppauf und treppab. Als I-Tüpfel chen bringt kein Geringerer als Mario Adorf den Besuchern das Nibelun genlied nahe. Dann strahlen die Gesichter – selbst wenn es draußen Bindfäden regnet.

Wem das alles zu museal vorkommt, kann natürlich auch in einem der rheinhessischen Spas abtauchen, auf Vinothekentour gehen oder sich durch die Kuchentheken der kleinen Cafés naschen. Glückspilze, die sich auch mal wochentags frei machen können, bummeln durch die gemüt lichen Städtchen, stöbern in den kleinen Geschäften, besuchen die Hofläden der Bauern oder fliehen in die Gewächshäuser des Botanischen Gartens in Mainz und hören dort den Regentropfen zu, wie sie auf die Glasdächer prasseln.

Weitere Infos unter: Reiseziel Rheinhessen: www.rheinhessen.de Oppenheimer Kellerlabyrinth: www.stadt-oppenheim.de/erfahren

Grape Escape: https://weingut-domhof.de/ weinerleben/ Kellergenossen: www.ingelheimer-winzerkeller.de/ ausstellung-kellergenossen

Clip n‘ climb: www.clipnclimb-mainz.de Schwarzlichthelden – Minigolf: www.schwarzlichthelden.de Fastnachtsmuseum: www.mainzer-fastnachtsmuseum.de Nibelungenmuseum: www.nibelungenmuseum.de

wiesbadener*in IV/2022 17
kultur & kreatives
Oppenheimer Kellerlabyrinth, © Rheinhessen-Touristik Schwellköpp, Mainzer Fastnachtsmuseum, © Kristin Berschet

Zum „Gold“-Jungen wird das Küken Gabriel dell `Àcqua, der mit perfekter Handstandakrobatik für sich einnimmt.

Atemberaubend, wie Ukrainerin Mariia Shevchenko (Goldpreis und Preis der Herzen) nur mit einem Fuß oder mit dem Hinterkopf hoch oben in Strapaten hängt

Hochkarätige Luftnummern ohne Netz und doppelten

Boden

European Youth Circus entfacht nach Pandemiepause Begeisterung

Eine Sensation – das gab es beim European Youth Circus noch nie: Die Fachjury des Artistik-Festivals um ihren erfahrenen Sprecher, Tiger Palast-Gründer Johnny Klinke aus Frankfurt, vergab jeweils zwei Festivalpreise in Gold und in Silber.

Ausstrahlung, Persönlichkeit, das „ans Herz Gehen“ und natürlich artistische Qualität wurden bewer tet. Überraschung: Das Festival selbst bekam den „Zukunftspreis“ der Gesellschaft der Circusfreunde Deutschlands zur Förderung des Artistennachwuchses. Und Kultur amtsleiter Jörg Uwe Funk bekannte: „Ich bin platt“.

Das Wiesbadener Artistik-Festival ist unter Fachleuten international renommiert, gilt als eine „Quelle der Inspiration“ ist für Variete-Direktor Klinke „ein großer Diamant“. Der Etat liegt bei 467.000 Euro laut Kul turdezernent Axel Imholz und wird mit 100.000 Euro vom Kulturfonds Rhein-Main gefördert.

Nach vier Jahren Pandemiepause kamen über 100 Bewerbungen. 25 Darbietungen aus 14 Ländern von Belgien, Dänemark, Holland, Schweiz, Ungarn, Israel, Spanien bis Polen, Italien und die Ukraine ließ die Jury an den Start. Der künstlerische Leiter Sebastiano Toma bot mit dra maturgischem Pfiff zwei hochkarätige Gala-Shows.

Akrobatik und Cyr-Rad, Diabolo und Fahrrad-Artistik, Strapaten, Rola Rola und Equilibristik vom Feinsten – Eleganz, Dynamik, Kraft. Immer wieder stockt der Atem, die Augen glauben kaum, was sie sehen. Es rieselt Gänsehaut.

Einzigartig, wie sich die Italienerin Asia Perris (Preis des Club Amici del Circo) scheinbar mühelos aus dem Spagat elegant in den Stand hochstemmt. „Nee!“ entfährt es der Sitznachbarin, im Zelt raunt es, als Stefan Dvorak hüftschwingend hoch oben balanciert, Seil springt (!) und mal eben mit Keulen jongliert. Spe cialpreisträger! Und jetzt im Tigerpa last Frankfurt zu erleben.

Atemberaubend, wie Ukrainerin Mariia Shevchenko (Goldpreis und Preis der Herzen) nur mit einem Fuß oder mit dem Hinterkopf hoch oben in Strapaten hängt. Grandios, wie die Ungarin Sara Nagyhegyi durch die Manege wirbelt.

Zum „Gold“-Jungen wird das Küken Gabriel dell `Àcqua mit perfekter Handstandakrobatik.

Höllisch gut macht der Niederländer Ezra Veldman (Schweizer Preis) Dia bolos zu Leuchtkörpern, die irrwitzig rasant zu Flugobjekten bis unter die Circuskuppel werden. Verdientes Silber für eine furiose Luftnummer – der Hessenbub Johann Prinz „fliegt“ an Strapaten durch die Manege, macht atemlos. Mit akrobatischem Charme auf dem Fahrrad betört die Französin Fleuria ne Cornet (Bronze).

Anna Levina (Bronze) gibt akroba tisch den clownesken Maurerlehrbub. Schwester Daniela Levina „schlän gelt“ sich unendlich biegsam auf einer Sanduhr.

18 wiesbadener*in III/2022
kultur & kreatives

Sprunggewaltig - auch mit Augenbinde - ist der 15jährige Spanier Gerardo Segura Macias, der für den spektakulären Drahtseilakt den Preis der CircusfreundeGesellschaft bekommt. Gold-Mädels sind Angelina & Oleksandrqa

Er ließ den Atem stocken und errang den Preis von Jurysprecher Johnny Klinke und ist jetzt im Tigerpalast Varieté Frankfurt engagiert: Stefan Dvorak balanciert hüftschwingend unter der Circuskuppel und jongliert mal eben mit ein paar Keulen.

(Ukraine), begeistern mit origineller Partnershow. Zum Finale brachte es Jurysprecher Johnny Klinke auf den Punkt und Tigerpalast-Mitgründerin Margarete Dillinger nickte beifällig: „Unser Circus-Festival ist gelebte Solidarität mit der Ukraine.

Wir lieben Euch und sind auf Eurer Seite! Es gibt den Frieden!“ John Lennons „Imagine“ ertönt. HandyKerzen erleuchten das Chapiteau.

Text und Fotos: Gesine Werner

Verdientes Silber für eine furiose Luftnummer: Der Hessenbub Johann Prinz „fliegt“ an Strapaten durch die Manege und macht atemlos.

Das breite Spektrum des Schulbaus in allen Facetten

„Der Schulbau in Wiesbaden brummt!“ strahlte Gert-Uwe Mende beim ersten Spatenstich für das neue Gymnasium in Dotzheim. Auf Vorschlag des Oberbürgermeisters trägt der erste Gymnasiums-Neubau seit 50 Jahren den Namen von Grundgesetzmutter Elisabeth Selbert und soll 2024 stehen.

In dem fünfzügigen Neubau plus einer Zwei-Feld-Sporthalle werden 1200 Schulkinder unterrichtet. Das Pädagogik-Konzept mit flexiblen Lernzonen setzt auf Digitalisierung und Nachhaltigkeit. Der Bau ist auf gut 75 Millionen Euro veranschlagt und „das größte Bauvorhaben in der Historie der W!Bau“, laut Andreas Guntrum.

Chapeau. Pralle fünf Monate vor dem Zeitplan wurde im September der Grundstein eingemauert. „Eine wirklich tolle Leistung“, lobte W!BauBoß Guntrum den Tempo-Rekord, in dem der Rohbau in die Höhe ge schnellt war. Als „Stargast“ war mit

Susanne Selbert eine Nachfahrin der Namenspatin aus Kassel angereist. Die Direktorin des Landeswohlfahrt verbands Hessen und der Oberbür germeister sind langjährige Bekannte und konnten Erinnerungen austau schen. Über die Würdigung ihrer Großmutter zeigte sich die Enkelin

hoch erfreut. Namenspatronin Elisabeth hatte als Mitglied des Parlamentarischen Rats erfolgreich dafür gekämpft, die Gleichberechti gung im Grundgesetz zu verankern. Enkelin Susanne ermunterte Lehr kräfte und Schulkinder, sich für Gleichberechtigung zu engagieren.

20 wiesbadener*in IV/2022
Die kommunale W!Bau GmbH feiert Jubiläum und ist seit zehn Jahren auf Erfolgskurs
„Ein besonderes Projekt in jeder Beziehung“: Bei der Grundsteinlegung des Elisabeth Selbert-Gymnasiums mit OB Gert-Uwe Mende, dem Schulleiter, WiBau-Chef Andreas Guntrum, Parlaments-Chef Dr. Gerhard Obermayr, Stadtrat Axel Imholz und Susanne Selbert (von links) legte Enkelin Susanne ein Foto ihrer Großmutter Elisabeth in die Zeitkapsel. Foto: Gesine Werner Das Parkhaus Klarenthaler Straße steht als eher untypisches Projekt für die breite Palette der WiBau. Beim ersten Spatenstich packen Baudezernent Andreas Kowol, Bauausschuß-Chefin Christa Gabriel, OB Gert-Uwe Mende, Ortsvorsteherin Dorothée Rhiemeier, WiBau-Chef Andreas Guntrum, Projektleiter Sven mitan WiBau-Technki leiter Christoph Golla. Foto: Gesine Werner Ein äußerst ansehnlicher Neubau ist die von der WiBau errich

„Bis zum Sommer 2025 wird die W!Bau Projekte für 41 Millionen Euro bearbeitet haben“, dankte Geschäftsführer Guntrum für das Vertrauen „bei der Umsetzung von Schulbaumaßnahmen“.

Der Wissbadener Bub merkt ein persönliches Schmankerl an: „Alle vier Schulen meines Lebens sind mir bei der WiBau wiederbegegnet: Ernst Göbel-Schule, Blücherschule, Fritz Gansberg-Schule und Martin Niemöller-Schule, deren Erweite rungsbau läuft.“

Im Dezember 2021 wurde mit der Schulgemeinde und Leitungen be nachbarter Schulen das „Baufest hoch Drei“ der Friedrich Ebert-Schule gefeiert. 2014 und 2016 errichtete die WiBau hier ein Werkstattge bäude. Jetzt werden 46,7 Millionen Euro investiert. Steht das Gebäude, verschwindet der Altbau und auf dem unteren Areal wird im Auftrag des Sportamts eine neue Drei-FeldSporthalle errichtet.

Das Richtfest zum Neubau der Ver waltung und Erweiterung des ganz tägig arbeitende G9-Gymnasiums am Mosbacher Berg wurde Ende 2021gefeiert. Denn im Sommer 2022 brauchte der erste G9-Jahrgang im 1. Schuljahr mehr Klassenräume und einen Mehrzweckraum.

Die W!Bau GmbH ist ein Erfolgs modell und konnte bislang in he rausragender Weise im Zeit- und

Budgetrahmen bleiben. Aktuelle Entwicklungen ändern das zukünftig, berichtet Andreas Guntrum. „Wir haben ein tolles Team entwickelt“, ist der Chef des 7 Personen starken Kollegiums des Lobes voll. Beson ders zu erwähnen ist Christoph Golla, als Technischer Leiter und Prokurist für alle Bautätigkeiten ver antwortlich. Der WiBau-Mann der ersten Stunde war zuvor bei der SEG in selbiger Funktion tätig.

Am 29. Juni 2012 wurde die W!bau als Ausgründung der SEG vom Stadtparlament beschlossen, am 22. August 2012 ins Handelsregister eingetragen und ging mit 12 Per sonen an den Start. Seit 2014 bildet die WiBau aus. Das Baumanage ment führte zunächst SEG-Projekte wie Schlachthof und Stadtbibliothek weiter, die Projektleitungen blieben in ihren Büros. Insgesamt 16 Bau aufgaben wurden im ersten Jahr realisiert und 15 Schulprojekte waren in Planung. Die „gigantischen“ Inve stitionen an den Wiesbadener Schu len „sind nur möglich, weil sehr viele Projekte im Rahmen von „Mieten macht Schule“ realisiert werden.“ Die W!Bau errichtet das Gebäude, be treut es über 0 Jahre und vermietet es der Kommune.

Die „Jubilarin“ betreut aktuell mehr als 50 Projekte für Budgets von 20.000 Euro bis 80 Millionen Euro. Auf der beeindruckenden Liste ste hen diverse Schulen und Sporthal

len, auch „untypische“ Projekte wie Kfz-Zulassungsstelle und das Georg Buch-Haus. Im Tattersall wird seit Ende 2020 Brandschutzsanierung realisiert.

Auch eher untypisch für die W!Bau ist ein lange diskutiertes Projekt, das als „Mobility-Hub“ mit 600 Ladepunk ten für E-Fahrzeuge durch erhoffte Zuschüsse von Land und Bund zum bundesweiten Pilotprojekt werden soll. Mit dem ersten Spatenstich an der Klarenthaler Straße ging das ambitionierte Projekt der Quartiers garage mit acht Ebenen und 40 Stellplätzen für Pkw und Fahrräder an den Start. Parken auf dem Elsäs ser Platz war gestern. Die Fahrzeuge werden in der Kiezgarage dann „ge stapelt“.

Zukunftsmusik: 202 wird die W!Bau größer. Die Stadt ordnet ihre Immobiliengesellschaften um. Woh nen, Stadtentwicklung sowie Bau, Betrieb, Sonderimmobilien sind die Säulen der Wiesbaden Holding WVV (Wohnen, Versorgung Verkehr). Die W!Bau übernimmt nach der Fusion die operativen Aufgaben der GWI Gewerbeimmobilien-GmbH und des WIM-Liegenschaftsfonds.

Möge die Übung gelingen.

wiesbadener*in IV/2022 21
Text: Gesine Werner
unternehmen & märkte
Auch der lang ersehnte Neubau der Schulturnhalle der historischen Blücher-Schule im Westend wurde als WiBau-Projekt realisiert. Foto: WiBau-Archiv tete Fritz Gansberg-Schule, die 2021 in Betrieb gehen konnte. Foto: WiBau-Archiv

Ein Sommernachtstraum mit Turandot und Struwwelpeter

Wenn Don Giovanni im Sommernachtstraum von Fidelio auf Prinzessin Turandot und Hiob trifft, ist Struwwelpeter nicht weit. Auf hessischen Brettern wird feinste Bühnenkunst geboten.

In Wiesbaden hat die renommierte Wagner-Sängerin Evelyn Herlitzius, 2017 hier als Brünnhilde gefeiert, die Pferde gewechselt und Beetho vens Befreiungsoper „Fidelio“ strin gent inszeniert. Die Titelpartie sang sie vor zehn Jahren, jetzt glänzt Sopranistin Barbara Haveman.

Gegen Gefangenschaft und „Verschwindenlassen“ engagiert sich Amnesty International im Foyer und im Programmheft. Die Regie-Debütantin zeigt packende Bilder. Orchestral berückend agiert der Klangkörper unter Dirigent Will Humburg. Von Chordirektor Albert Horne perfekt einstudiert, beeindruckt der Opernchor.

Im Staatsgefängnis (Bühne/ Kostüm: Frank Schlößmann) glänzt vokales Edelmetall. Marco Jentzsch, Claudio Otelli, Dimitry Ivashchenko, Anastasia

Intensiv berührende Szenen um eine biblisch anmutende familiäre Schicksalsgemeinschaft offeriert Henriette Hörnigk. Joseph Roths „Hiob“, von „I Giocosi“ akzentuiert begleitet mit Livemusik von Ako Karim, Jens Mackenthun & Harald Becher, fasst an bis zum Schluss gesang von Hiob: „Zehn Brider sin wir gewesen.“

Das bravouröse Ensemble spielt sich die Seele aus dem Leib, allen voran Uwe Kraus als Titelfigur und Lina Habicht als behinderter Sohn Menuchim. Anne Lebinsky, Lukas Schrenk, Christoph Kohlbacher in mehreren Rollen und Florence Schüssler bieten Charakterstudien. Langer Beifall für Bühnenkunst

Nachhall.

„Let love rule“ in der Orwell-Dikta tur. Tilo Nest setzt auf ein brillantes Ensemble: Michael Birnbaum, Paul Simon, Martin Plass, Tobias Lutze, Maria & Klara Wördemann, Rainer Kühn, Lena Hilsdorf & Noah L.

22 wiesbadener*in IV/2022
Taratorkina, Ralf Hachenbauer und Christopher Bolduc bieten einen großen Opernabend. mit Am Staatstheater Darmstadt wird das exzellente Ensemble der „Turandot“-Inszenierung von Valentin Schwarz für seine Spitzenleistung mit standing ovations bedacht TheaterDonner auf den Brettern in Wiesbaden und Darmstadt Großer Applaus für eine exzellente Ensembleleistung: Joseph Roths „Hiob“ (Uwe Kraus) hat Henriette Hörnigk mit Livemusik von Ako Karims Trio „I Giocosi“ als intensiv berührendes Bühnenereignis inszeniert.

Perktold sind hinreißend. Poesie war gestern. Mit Endzeit-Karacho und SciFi-Optik (Bühne Robert Schweer, Kostüm Anne Buffetrille/ Mirjam Ruschka) wird aus Shake speares „Sommernachtstraum“ eine Dystopie mit Ver-Falls-Er scheinungen.

Obermatscho Theseus ist die Nummer 1 (M. Birnbaum, auch Oberon) und wird es nicht bleiben. In Athen und im Wald geht`s rund. Ingrid Domann, Eingeweihten aus der Leininger-Ära bekannt, ist als „Petra“ Squenz einsame Klasse. Matze Vogel berührt als Zettel und als Esel, der - barfuß bis zum Hals - von Christina „Titania“ Tzatzarakis (Hippolyta 811) mit szenischem Witz gezähmt wird. Rainer Kühns Puck ist ein ruppiger Troll. Köstlich.

Blick nach Darmstadt

„Stell Dir vor“ ist das Spielzeitmotto im goldisch jubilierenden Staatstheater Darmstadt. Hausherr Karsten Wiegand (Regie, Bühne, Video) eröffnete die Saison mozärtlich mit einem fesselnden „Don Giovanni“, baut auf ein exzellentes Ensemble und den furiosen Julian Orlishausen als Allzeit-Verführer.

Das Orchester ist in Höchstform unter dem packenden Dirigat von GMD Daniel Cohen. Mit vokaler Intensität und prägnanter Figurenzeichnung berühren Georg „Leporello“ Festl, „Komtur“ Zelotes Edmund Toliver, Megan Marie Hurt (Dona Anna), David Lee (Don Ot tavio), Solgend Isalv (Dona Elvira),

Juliana Zaras Zerlina und Eric „Masetto“ Ander in Judith Adams Prachtkostümen. Große Oper, großer Applaus.

„Nessun Dorma“. Schon vor der Pandemie war „Abschied von den Helden“ angesagt und die glanz volle Inszenierung von Valentin Schwarz samt Terracotta-Armee brachte mit Puccinis letzter Oper „Turandot“ als reines Fragment das Haus zum Beben. Das 1000 Jahre alte persische Narrativ der eiskal ten „Turan-docht“ (also „Tochter aus der Region Turan“) spielt in China und behielt die Commedia dell ´arte-Figuren Ping, Pang und Pong bei. Der Schluss mit dem Suicid Lius und Timurs Trauer geht an die Nieren. Andrea Cozzis spek takuläre Bühne, Pascal Seibickes grandiose Kostüme, Jan Croonen broeks wunderbar feinfühliges Diri gat und Schöngesang in Perfektion ziehen in den Bann: Anhaltend starker Applaus für „Turandot“ Soo jin Moon, „Calaf“ Aldo di Toro, „Liu“

Cathrin Lange, „Timur“ Johannes S. Moon, die Minister Ping (Julian Orlishausen), Pang (David Lee) und Pong (Michael Pegher), „Altoum“ Lawrence Jordan und Myong-Yong Eom als Mandarin. Prädikat: Klasse.

„Shockheaed Peter“, das fetzige Grusical der „Tiger Lillies“, war als schrecklich bizarre Familienaufstellung der Schwarzen Pädagogik á la Heinrich Hoffmann 2017 in Wiesbaden der Hit. Pink Floyd meets Bob Wilson, Addams Family & Tim Burton im TarantinoStyle. Frank Alexander Engels & Kerstin Schmidt machen sich mit sadistischer Personage & Puppen, Schattenspiel & Schwellkopp einen tiefschwarzen Jux. Martin Vogel als Peter mit den Scherenhänden, Edda Wiersch, Karin Klein, Juliane Schwabe & Hubert Schlemmer sind erkennbar lustvoll rabiat. Manche mögen`s makaber.

Die Kammerspiele als Unterhaus-Moritatenbühne: „Shockheaded Peter“ bietet mit Heinrich Hoffmanns sadistischer Personage rabenschwarze Pädagogik mit Axt & Machete, Schwellkopp & Kopfab-Attitüde. Der groteske Jux is nix für schwache Nerven.

wiesbadener*in IV/2022 2
Text und Fotos: Gesine Werner
kultur & kreatives
Tilo Nest holt Shakespeares „Sommernachtstraum“ mit spektakulärer SciFi-Optik, „einstürzenden Bauten“, mit Endzeit-Karacho und einem brillanten Ensemble in die nähere Zukunft.

„Be crazy and be fast!“

Deutscher Musical-Preis zum Jubiläum des Jugend-Club-Theaters – Hessisches Staatsmusical

GratulARTion! Kaum sind 5 Jahre engagierten Kultur schaffens vorbei, gibt es in Hamburg den Deutschen Musical-Preis. Dieser Sonderpreis wurde neben Auszeichnungen in 14 Kategorien vergeben für au ßergewöhnliche Kontinuität und Nachhaltigkeit der Nachwuchsförderung im eigenen Haus. Der legendäre Intendant Claus Leininger hatte zur Spielzeit 1987/88 mit dem leitenden Schauspieldramaturgen Dr. Winrich Schlicht das „jugend-club-theater“ gegründet. Ambi tionierter Bühnennachwuchs kam unter Leitung von Schauspieler Frank Schuster auf die Bretter. Erst Inten dant Uwe Eric Laufenberg verfügte die Umbenennung in „Junges Staatsmusical“. Der Dauerbrenner ist eine sichere Bank.

„Be crazy and be fast!“ Aus dem Ausruf der Bühnen legende Jerome Savary, 199 zur Premiere seines Werks „Zazou und die Swing Boys“ aus Paris ange reist, wurde die Devise der Talentschmiede. Seit 2000 leitet die ausgebildete Tänzerin Iris Limbarth die allseits beliebte Institution, war als echtes Eigengewächs schon 1990 beim zweiten Stück „Lysistrate“, dunkel haarig mit Reinhard Friese und Percy Brauch, als Titel figur dabei.

Das Erfolgsmodell brachte Größen hervor wie Britta Hammelstein, Jasna Fritzi Bauer und Tobias Bode, Benjamin Rufin, Marc Schöttner oder HR-Moderator Klaus Krückemeier, auch für eigenes Radio-Theater bekannt. Jede Menge Talente werden an renommierten Schauspielschulen angenommen von Folkwangschu le bis Ernst Busch in Berlin. TV-Sender fragen an. In Musicals von „Mamma Mia“ bis „Kein Pardon“, auch in Produktionen der Staatstheater Darmstadt und Wies baden sind frühere Mitglieder mit von der Partie.

Mit „Was heißt`n hier Liebe?“, dem Kultstück der „Roten Grütze Berlin“, fing alles an. Diplom-Designerin Elke Pflugradt, Reinhard Friese (heute Intendant in Hof), Diana Stein, Gerard Naziri (heute Videokünstler) sowie Percy Brauch spielten im Kleinen Haus und das Publikum saß mit auf der Bühne. Ein Jahr Probezeit, im Januar 1989 war Premiere,  Aufführungen an Schu len der Region folgten. 2015 war für Regie & Choreografie ihr Stück „Super Hero“ nominiert, 2022 gab es jetzt den Deutschen Musical-Preis für Iris Limbarth.

https://iris-limbarth.de

Text und Foto: Gesine Werner

Die Sehnsucht der Mignon

Inspiriertes Programm im Hinterhof-Palazzo

Der Hinterhof-Palazzo kommt aus dem Feiern nicht raus. Die 198 gegründete „Werkstatt für Gesang, Spiel und Sprache“ steuert auf das Jubiläum des 40jährigen Wirkens zu. Eine ausgefeilte Doppel-Hommage an Pau line Viardot - Sängerin, Komponistin, Pädagogin, Sa lonnière und Freundin von George Sand und Turgenjew - ist geplant mit Texten, Tönen, Tanz.

In den Westend-Kulturtagen lud Sopranistin Mary Lou Sullivan-Delcroix, als wichtige Zeitzeugin in das oral history-Projekt des Stadtarchiv-Fördervereins eingebun den, zu „Mignon und die Sehnsucht“ in ihr Domizil ein. Goethes „Wilhelm Meister“ kauft „das wunderbare Kind“ Mignon von Gauklern frei, will sie „an Kindes Statt sei nem Herzen einverleiben“.

„Mignon“ begleitet die Sopranistin mit dem Faible für Historie seit ihrem Studium in Boston. Sie gastierte mit Mignon-Liedern in London mit Alistair Cameron.

„Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?“ ist ein geflügeltes Wort. „Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide“ wird gern zitiert. Komponistinnen wie Helene Liebmann und Josephine Lang, sogar Annette Droste-Hülshoff („Wer nie sein Brot mit Tränen aß“) und Kollegen wie Beethoven, Liszt, Schubert, Schumann, Tschaikowsky und Hugo Wolf vertonten die Gedichte. In Polen ist Stanislaw Moniuszkos „Wezwanie do Neapolu“ bekannt.

Dem kürzlich verstorbenen Ausnahmeschauspieler und Regisseur Michael Delcroix war der exquisite Abend, der unbedingt wiederholt werden sollte, gewidmet. Das Pu blikum „stand auf den Stühlen“ und feierte die feinfühlig begleitende Pianistin Ute Körner. Veronika List, Uta Mül ler, Erik Struß, Lucie Melville, Ingrid Ujj-Conrad, Barbara Menges und Ortwin Trapp berührten als seelenvolle Goldkehlchen. Schauspieler Sebastian Kroll („Exekutor 14“) empfahl sich mit ausdruckstarker Lesung.

Um „Frauenzauber und die Kraft der Stimme“ geht es am 25. und 26. Februar 202. Chansons und Musical songs huldigen Barbra Streisand, Julie Andrews, Audrey Hepburn und Hildegard Knef. Konzertpianist Wolfgang Stifter begleitet Ute Hilgenberg, Romina Lehmann, Mia Bieker & Claudia Muhl. Regie führt Christine Brieger. info@hinterhof-palazzo.de

24 wiesbadener*in IV/2022
Text und Foto: Gesine Werner Nach der Generalprobe freut sich das Ensemble auf die „Mignon“-Premiere: Mary Lou Sullivan-Delcroix, Ute Körner, Veronika List, Uta Müller, Erik Struß, Lucie Melville, Ingrid Ujj-Conrad, Barbara Menges und Sebastian Kroll (von links).
KulTouren
Mit „historischem“ Requisit freut sich Iris Limbarth, langjährige Leiterin des jugend-club-theaters und des Jungen Staatsmusicals, über die Auszeichnung mit dem Deutschen Musical-Preis 2022.

Neuer Bau und neuer Name

Schlüsselübergabe beim Römisch-Germanischen Zentralmuseum, dem künftigen LEIZA

Neuer Bau und neuer Name - beides „nicht von der Stange“. Seit 170 Jahren im Kurfürstlichen Schloss zu Mainz angesiedelt, geht das Römisch-Germanische Zentralmuseum, Leibniz-Forschungszentrum für Archä ologie (RGZM) forschen Schrittes in Richtung Zukunft. Mit 80 Gründungspfählen und 60 Millionen Euro Bau kosten - 16,6 Millionen Euro vom Bund, 11 Millionen Euro stemmt die Stadt Mainz, der „Rest“ kommt vom Land - ist es keine Baustelle wie jede andere.

Erster Spatenstich September 2015, Grundsteinlegung Mai 2017, Richtfest August 2017. Nach sieben Jahren Bauzeit wurde der symbolische Riesenschlüssel von Finanz- und Bauministerin Doris Ahnen („ein wunder schöner Bau“) und LBB-Geschäftsführer Holger Basten („markant und zurückhaltend funktional“) an RGZMGeneraldirektorin Prof. Dr. Alexandra W. Busch feierlich überreicht.

Die Hausherrin freute sich mit Wissenschaftsminister Clemens Hoch und Oberbürgermeister Michael Ebling („Meilenstein für die Stadt“) über den „Beginn einer neuen Ära“ und den „Dialog mit der Bevölkerung“. Das künftige LEIZA, Leibniz-Zentrum für Archäologie, bietet Raum zum Forschen, Verweilen, Entdecken auf drei Kontinenten. Der neue Name spiegelt die Bandbreite mehrerer Forschungsstandorte, Speziallaboratorien und Museen.

Bis zur LEIZA-Eröffnung im März 202 ziehen 220.000 Objekte um. 202 ist die „Neue Haltestelle Stadtpark“ als „Kunst am Bau“ geplant. Das neue „Ludwig Lindenschmit-Forum“ braucht jedoch eine klimataugliche Lösung. Das mit Betonplatten versiegelte Areal bietet „Baustellen-Optik“. Das Landesgrundstück soll partiell mit dem Gebäude der früheren Neutorschule an die Stadt rückübertragen werden. Mobile Grünelemente und versenkbare Wasserspiele wären klimafreundliche Optionen für den Platz. Die „Plattenwüste“ macht die stellvertretende Altstadt-Ortsvorsteherin Renate Ammann „überhaupt nicht glücklich“.

und Foto: Gesine Werner

Schatztruhe gelebter Geschichte(n)

Ein Wiesbaden-Buch mit Erinnerungen von Bekannten & weniger Bekannten Erinnerung – sprich! Rechtzeitig vor Weihnachten gibt der Verein zur Förderung des Stadtarchivs Wiesbaden e.V. im ortsansässigen Verlag Edition 6065 ein mit vielen Fotos angereichertes Buch heraus. Das mehr jährige oral history-Projekt baut auf die „Balance des Vertrautmachens und Fremdlassens“.

Die Generationen verbindende Schatztruhe persön licher Erinnerungen ist gelebte Historie über ein rundes Jahrhundert und blickt hinter viele Kulissen. Internatio nale Brückenschläge und Sparten verbindende Bezüge werden offeriert. Überraschende Querverbindungen tauchen immer wieder auf.

„Gesine Werner hat 50 Wiesbadenerinnen und Wiesbadener interviewt und 42 Texte verfasst, in denen sie die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen in der ihr eige nen lebendigen Art porträtiert“, ist auf dem Umschlag zu lesen. Begegnungen mit Bekannten und weniger Bekannten, die vertrauensvoll ihr Herz öffnen und „frei von der Leber weg“ erzählen. 22 Frauen & 28 Män ner kommen in ihrem individuellen Zungenschlag zu Wort. Einzelpersonen, Paare, Familien spiegeln den Alltag und besondere Situationen. „Eingeborene“ und „Hargeloffene“ blättern Stadt-Historie als persönliche Geschichte auf.

Der Bogen ist weit gespannt: Kunst & Kultur, Gastronomie & Medizin, Kirche & Fassenacht, Literatur, Pädagogik, Politik & Sport sind vertreten. Wiesbadens Ehrenbürgerin Christa Moering, „Don Tango“ Gabriel Sala, die Velvets, Hinterhof-PalazzoChefin Mary Lou Sullivan-Delcroix, CCW-Gartenzwerg Suresh Soni & CCW-Gummibärchen Hannelore Soni, Fluxus-Legende Ben Patterson, „Vater des Lichts“ Werner Bardenhewer, Miriam Schmetterling, Dr. Enno von Rintelen, Zygmunt Apostol, Eike Wilm Schulte und GMD Siegfried Köhler erzählen.

„Erst die Lektüre vollendet das Werk“. Ingeborg Bachmanns Erkenntnis empfiehlt das Buch allen Interessierten.

26 wiesbadener*in IV/2022
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Die symbolische Schlüsselübergabe im künftigen LEIZA, Leibniz-Zentrum für Archäologie, zelebrierten Oberbürgermeister Michael Ebling und Gene raldirektorin Prof. Dr. Alexandra W. Busch als Hausherrin mit Finanz- und Bauministerin Doris Ahnen (von links) im „wunderschönen Bau“. Text: Sabeth Sager Gabriel Sala, als ewig junger „Don Tango“ bekannt, blickt als Zeitzeuge hinter die Kulissen seiner langjährigen Tanz-Karriere. Am 2. Dezember lädt Gabriel Sala wieder zum „Salon Tango“ ins Prunkfoyer des Musentempels. Foto: Gesine Werner

Von der Sackgassenhaftigkeit des Lebens

Projekt „Der tote Punkt“ wird in der Wartburg uraufgeführt

Wie schön, und so gar kein „toter Punkt“. Es war ein genüssliches Wiedersehen mit zwei Publikumslieblingen der Ära Beilharz. Die Schauspielprofis Franziska Geyer und Hanns Jörg Krumpholz hatten in den diversen Spiel stätten des Musentempels Furore gemacht. Jetzt freuten sich Eingeweihte in der ausverkauften Wartburg über eindrückliche Figurenzeichnung, gemeinsam mit dem jugendlichen Publikum, das anhaltend applaudierte.

Für ihr „Werk.Statt.Stück“ auf der Probebühne der Wart burg bekamen die „Theatermacher:innen“ Sebastian Faber, Coco Brell & Paul Schletter ein Projektstipendium der Internationalen Maifestspiele 2022: „Ans Licht“ war die Devise.

Ebenso wie Paul Schletter mit dem Leonardo-SchulAward ausgezeichnet, brachte Sebastian Faber jetzt sein neues Stück „Der tote Punkt“ auf die leergeräumte Bühne der Wartburg (Marie Rost), die sich zum Flucht punkt verengt.

Schlechte Wegführung. Die namenlosen Eins (Coco Brell) und Zwei (Paul Schletter) als ratloses Pärchen in Joggingklamotten mit Rucksack „sind da, wo er uns hin geschickt hat. Hier stehen wir und können nicht weiter“. Abraham (H.J. Krumpholz) ist auch keine Hilfe: „Wenn ich atme, atme ich“ ist sein Credo, die angedeutete Yogahaltung behält er bei. Franziska Geyers „Denkerin“ ist das Kabinettstückchen einer Existenzphilosophin, die am „toten Punkt“ wie vor einem Abgrund stoppt und als „geistige Hebamme“ laienhaftes Therapiegebaren zeigt. David Rothe gibt als Siegfried den hübsch frühreifen Terminjunkie von der Firma Schlau &Wichtig mit einem Hauch Paranoia und Ausrastern á la Rumpelstilzchen.

„Menschliche Geworfenheit“ in der „Sackgassenhaf tigkeit des Lebens“ eben. Beckett meets Buddhismus, Warten auf Godot im Modus von Verschwörungsmythen.

Ein prima Fall für „extra-3“ wie die Brücke ins Nichts oder das Fahrradparkhaus ohne Tür.

Lesekultur mit Suchtpotential

Schauspieler Uwe Kraus und Pianist Tim Hawken brillieren im Foyer

„So steht es geschrieben“ war der Titel eines Kleinods, das als berührende Lesung von Joseph Roth-Erzäh lungen wie „Barbara“ und „Karriere“ mit Klavierbeglei tung das Publikum in den Bann zog. „Auf der Straße ging der Abend herum und leuchtete mit einem Stern zum Fenster hinein.“

Ungemein vielseitig bespielt Schauspieler-Regisseur Uwe Kraus-Fu viele Bühnen. Derzeit geht sein Dorfleh rer Mendel Singer als Titelfigur in Henriette Hörnigks eindrücklicher Roth-Inszenierung „Hiob“ ebenso wie sein geblendeter Gloucester in „König Lear“ tief unter die Haut.

„So schwammen die Jahre im Dunst der schmutzigen Wäsche.“ Pathos liegt ihm fern, ausdruckstarke Stim me und Gestik genügen. „Inzwischen aber taumelte Barbara, unverstanden und verständnislos, hinüber in die Ewigkeit“

Musikalisch feinfühlig begleitete Pianist Tim Hawkens, der die vom Publikum gebannt verfolgte Lesung mit ausgewählten „Ländlichen Tänzen“ von Alexander Zemlinsky auf das Feinste abrundete. Der exquisite Opernkorrepetitor und Tenor aus dem südenglischen Reading ist die perfekte Ergänzung. Wie bei früheren Erfolgs-Projekten wie „Der Zitronentisch“ von Julian Barnes heimste das eingespielte Duo tüchtigen Ap plaus ein.

Seit 15 Jahren ist Uwe Kraus mit diversen Projekten die „Pflege der Lesekultur“ ein Anliegen. Die Palette reichte schon von der „Traumnovelle“ über „Studio Meins“ und Thomas Manns „Wälsungenblut“ zum „Ring des Nibelungen“ von Intendant Uwe Erik Laufenberg bis zu Sam Shepards „Stimmen“, ein exquisites Projekt mit Schlagwerker Edzard Locher.

Zum Weihnachtskammerkonzert, das heuer mit Blech blasmusik von Roland Vanecek & Friends ziemlich „alpenländisch gefärbt“ daherkommt, bittet Uwe Kraus am 10. Dezember sowie am 11. und am 18. Dezember ins Foyer.

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Text und Foto: Gesine Werner Text und Foto: Gesine Werner Im Prunkfoyer berührten Schauspieler Uwe Kraus und Pianist Tim Hawken mit ihrer fein austarierten Lesung von Joseph RothErzählungen das gebannt lauschende Publikum.
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Wer am „toten Punkt“ ankommt, macht unverhoffte Bekanntschaften, wie Hanns Jörg Krumpholz, Coco Brell, David Rothe, Paul Schletter und Franziska Geyer (von links) in der Wartburg zeigen.

Laboratorium für neue kreative Ideen

Saarländisches Staatstheater Saarbrücken bietet eindrückliche Bühnenereignisse

Ring frei! Am Staatstheater Saarbrücken wird der Aufruf in die Tat umgesetzt. Nach 30 Jahren „Abstinenz“ inklusive pandemiebedingter Verschiebung wird mit dem „Rheingold“ der “Vorabend“ einer höchst bemer kenswerten Version auf die Bühne gebracht.

Im Mai hatte das weibliche RegieDuo Magdolna Parditka & Alexandra Szemerédy hier mit Wagners „Tristan und Isolde“ überzeugt. Jetzt ist für sie der Wagnersche Götterkosmos nicht mehr unantastbar. Beim „Ring“ geht es um das Menschliche im Göttlichen und das Göttliche im Menschen.

Doppelhelix, eiskalte Laborästhetik und die Grenzen der „schönen neuen Welt“, im Programmheft zitiert. Gän sehaut garantiert.

Generalintendant Bodo Busse, in Wiesbaden aus seiner Zeit als beliebter Operndramaturg der Ära Beilharz noch bestens erinnerlich, sieht Theater als „ein Laboratorium für neue, kreative Ideen“ an. „Wir wollen ein Echoraum für Fragen,

Ängste und Hoffnungen sein.“ Bei der „Königsdisziplin eines jeden Opernhauses, das überregionale Strahlkraft haben will“, setzt der Hausherr auf feminine Sicht und für den opulenten Wagner-Klang auf einen Hochkaräter am Pult.

Antikes Drama mit Versatzstücken germanisch-nordischer Mythologie samt Göttern, Riesen, Menschen und Fabelwesen, mit Inzest, Mord, Krieg und Weltenbrand. Immer hängt alles zusammen. „War – Ist – Wird“ signalisiert der Bühnenvorhang. Die bildkräftige Inszenierung des Regieteams, das auch für Bühne & Kostüm steht, bietet SciFi-Anklänge und einen Hauch Courrèges. Ein Bühnenereignis mit langem Nachhall.

Vorzügliches leistet das Saarländische Staatsorchester. Mit opulenten Klangbildern sorgt GMD Sébastien Rouland für BayreuthFormat. Starke Stimmen - prägnante Darstellung. Die „Fülle des Wohllauts“ des exzellenten Opernensembles gehen unter die Haut: Peter „Wotan“ Schöne,

Stefan „Donner“ Röttig, Algirdas „Loge“ Drevinskas, Judith „Fricka“ Braun und Elizabeth „Freia“ Wiles, Daria „Erda“ Samarskaya sowie Werner van Mechelens hübsch fieser „Alberich“, der Mime Paul MacNamara und die „Riesen“ Markus Jaursch & Hiroshi Matsui, nicht zuletzt die Rheintöchter Bettina Maria Bauer, Valda Wilson & Melissa Zgouridi werden vom Publikum ausdauernd und mit lang anhaltendem Beifall gefeiert.

„Die kritische Kraft szenischen Schreibens“. Mit sechs druckfrischen Stücken zeigte sich die frankophone Dramatik beim 16. Festival Primeurs inklusive Symposium Primeurs PLUS auf der Höhe der Zeit.

„Sie alle formulieren Wünsche an eine plurale Gesellschaft der Teilha be“. Werkstatt-Inszenierungen und Live-Hörspiele in Saarbrücken und Forbach wirken quicklebendig.

„Die Szene: Ein Gericht. Das Publi kum: Die Schöffen“. Ferdinand von Schirachs Gerichtsdrama „Terror“

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kultur & kreatves
So farbenreich wie die Illumination des Musentempels ist auch die Palette der Bühnenereignisse am Staatstheater Saarbrücken - von Oper bis Familienstück.

wurde in packenden Szenen von Jonas Knecht in die Alte Feuer wache gebracht. Hier wagt das Saarländische Staatsballett wieder „Aufbrüche“ in Choreographien von

Moritz Ostruschnjak & Marioenrico D`Angelo. „Hinter verzauberten Fen stern“ zeigen Regisseurin Katharina Schmidt & Musiker Pär Hagström im Großen Haus einen lebendigen

Adventskalender. Die geheimnisvolle Geschichte ist ein Familienstück von Cornelia Funke.

www.staatstheater.saarland.de

Text und Fotos: Gesine Werner

kultur & kreatives
Ring frei für „das Rheingold“! Großer Applaus für ein hervorragendes Ensemble. Nach über 0 Jahren bringt das Staatstheater Saarbrücken Wagners Opus Magnum in der Sicht des weiblichen Regieduos Magdolna Parditka & Alexandra Szemerédy wieder auf die Bretter.

In Marc Chagalls (1887–1985)

Werk scheinen der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Er gilt als einer der eigenwilligsten Künstler der Moderne.

Die Schirn Kunsthalle Frankfurt widmet dem Maler nach 15 Jahren erstmals wieder eine groß angelegte Ausstel lung in Deutschland. „Chagall. Welt in Aufruhr“ beleuchtet vom 4. November 2022 bis zum 19. Februar 202 eine bislang wenig bekannte Seite seines Schaffens: Chagalls Werke der 190erund 1940er-Jahre, in denen sich seine farbenfrohe Palette zunehmend verdunkelt. In der Zusammenschau ermöglicht die Schirn eine neue und äußerst aktuelle Perspektive auf das

Œuvre eines der wichtigsten Künstler des 20. Jahrhunderts.

Als jüdischer Maler war Chagall immer wieder existenziellen Bedrohungen ausgesetzt, die sich prägend auf sein Leben und sein Werk auswirkten. In den frühen 190er-Jahren themati sierte er in seiner Kunst den immer aggressiver werdenden Antisemitismus und emigrierte 1941 aufgrund der Verfolgung durch das nationalsozialis tische Regime schließlich in die USA. Sein künstlerisches Schaffen in diesen Jahren berührt zentrale Themen wie Identität, Heimat und Exil.

Mit rund 60 eindringlichen Gemälden, Papierarbeiten und Kostümen der

190er- und 1940er- Jahre zeichnet die Ausstellung die Suche des Künstlers nach einer Bildsprache im Angesicht von Vertreibung, Verfolgung und Emi gration nach. Sie präsentiert wichtige Werke, in denen sich Chagall vermehrt mit der jüdischen Lebenswelt beschäf tigte, zahlreiche Selbstbildnisse, seine Hinwendung zu allegorischen und biblischen Themen, die bedeutenden Gestaltungen der Ballette Aleko (1942) und Der Feuervogel (1945) im USamerikanischen Exil, die wiederkehren de Auseinandersetzung mit seiner Hei matstadt Witebsk und Hauptwerke wie Der Engelsturz (192/19/1947). An diesem programmatischen Werk der 190er- und 1940er-Jahre lässt sich in der Ausstellung anhand von Skizzen die Entwicklung der Bildelemente, die Verdunklung der Farbpalette und Chagalls intensive Auseinandersetzung besonders eindrücklich nachvollziehen. Der Künstler selbst bezeichnete das Gemälde nach 1945 als „das erste Bild der Serie von Vorahnungen“.

Das Ende des Zweiten Weltkriegs zeigt sich im Werk von Chagall ambivalent. In Gemälden wie Die Seele der Stadt (1945) oder Selbstbildnis mit Wanduhr (1947) thematisierte er den neuen Lebensabschnitt, ebenso aber seine Zerrissenheit aufgrund der persön lichen Situation. Das Thema der Shoah bleibt ein fester Bestandteil in Chagalls späteren Arbeiten.

Im August 1948 verließ Chagall sein US-amerikanisches Exil und kehrte gemeinsam mit seiner neuen Partne rin Virginia Haggard nach Frankreich zurück. Chagall

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– Welt in Aufruhr bis 19. FEBRUAR 2023 Schirn Kunsthalle Römerberg 60311 Frankfurt am Main www.schirn.de
kultur & kreatives
Chagall – Welt in Aufruhr
Marc Chagall, Bonjour Paris, 199–1942, Öl, Pastell, Gouache und Tusche auf Karton, 62 x 46 cm, Privatsammlung, © VG Bild-Kunst, Bonn 2022, Foto: Archives Marc et Ida Chagall

Monate nach der Überschwemmung hat sich die Natur den Fluss zurückerobert, doch noch immer finden sich Trümmer. Dernau, Oktober 2021

Seine Bilder malen keine Drohkulisse, aber sie er zeugen ein diffuses Klima von Bedrohung und Untergang. Der Fotograf Eckart Bartnik hat über neun Monate die Auswirkungen der verheerenden Flut im Ahrtal vom Juli 2021 doku mentiert. Das katastrophale Ereignis mit 134 Toten ist für ihn ein untrügliches Zeichen dafür, dass der menschengemachte Klimawandel auch in unserem persönlichen Umfeld angekom men ist.

Seine Fotografien verdichten die Katastrophe in emotional-sym bolhafter Weise. Bartnik ist kein klassischer Dokumentarfotograf. Seine Bilder sind eher die Büh nenbilder der Katastrophe. Man ahnt, welche schrecklichen Szenen sich in dieser Flutnacht abgespielt haben müssen und welche unge heure Wucht die Flut gehabt haben muss. Das Licht, in das er seine Bilder taucht, beleuchtet die Land schaft und die Gegenstände, die auf den Bildern zu sehen sind, auf dramatische Weise – wie stummen Zeugen der Katastrophe. „Wir sind der schlimmste Jahrgang“, schei nen die schlammverschmierten

FLUT

Zeugnisse einer Katastrophe

Flaschen in einem herausgeris senen Fenster zu schreien.

Die Fotografien sind bei sechs Ex kursionen entstanden. Zum ersten Mal war Eckart Bartnik am 29. Juli im Ahrtal, fünfzehn Tage nach der Flut. Die Ortschaften wimmelten damals von Polizei, Feuerwehr, THW und Bundeswehr. Schlamm verschmierte Anwohner und Helfer schleppten Schlamm aus ihren Kellern und Wohnungen. In der Luft knatterten Hubschrauber. Es dauerte eine Weile bis er seine „stummen Zeugen“ sehen konnte: Mit Stofffetzen und Plastikteilen umwickelte Laternenpfähle, aus der Verankerung gerissene und aufgetürmte Eisenbahnschienen und von einem Kran aufeinander gestapelte Wohnwagen.

Seine Bilder, die er zu der Serie „Flut“ zusammengefasst hat, las sen aber auch ahnen, dass aus jeder Zerstörung etwas Neues

entstehen kann. Deshalb gehören zu der Serie atmosphärische Land schaftseindrücke, auf denen die Spannung zwischen der Zerstö rung und dem Neuanfang spürbar wird. Die Serie war auch bei den diesjährigen Wiesbadener Fototagen zu sehen.

Ein Katalog kann über die Web seite von Eckart Bartnik bestellt werden (Maße: 29,7 cm x 21,0 cm, 72 Seiten mit 2 Abbildungen, Softcover mit Mattfolie, Auflage 150, signiert und nummeriert, ISBN 987--00-07260 ).

www.eckart-bartnik.com oder Bestellung per E-Mail an contact@eckart-bartnik.com

wiesbadener*in IV/2022 1
kultur & kreatives

Die Faszination und Mystik im Alten Polizeipräsidium in Frankfurt ist groß. Ein „Lost Place“, ein mysteriöser Ort, an dem die Zeit stehen geblieben ist.

Das von 1911 bis 1914 noch in der Kaiserzeit gebaute Präsidium liegt mitten in der Frankfurter Innen stadt, auf halbem Weg zwischen Hauptbahnhof und Messegelände. Ein wertvollen Gelände, mit viel Entwicklungspotential, das sich in Kürze komplett verändern wird, vom „Lost Place“ zum lebendigen, städtische Quartier.

In den Anfangsjahren hieß der imposante Bau im neobarocken Stil „Neues königliches Polizeiprä sidium am Hohenzollernhof“, heute befindet sich das Gebäude in der Friedrich Ebert-Anlage und ist ein beliebtes Fotomotiv. Das Hauptge bäude wurde erbaut, als Frankfurt zu Hessen-Nassau und somit zu

Lost Place

Preußen gehörte, als Polizisten noch Pickelhaube trugen und die Gebäude nicht funktional, sondern prunkvoll und repräsentativ waren.

Zwischen 1904 und 2002 wurden an der Friedrich-Ebert-Anlage die Verbrechen der Stadt aufgeklärt. Dann, bis 2010, wurden dort Par tys gefeiert - seitdem ist es ein „Lost Place“. Endlose Gänge, eine labyrinthartige Struktur, Graffiti an den Wänden, zerschlagene Türen, leere Büroräume, ein Verhörraum und zwölf Gefängniszellen – eine morbide Ästhetik des Zerfalls.

Seit 2010 steht das Gebäude je doch (nahezu verbarrikadiert) leer und wartete lange Zeit auf einen neuen Investor, der schließlich gefunden wurde. Nun wird der denkmalgeschützte Teil des Kom plexes revitalisiert, der andere Teil komplett abgerissen, um Platz zu schaffen für ein neues, durch mischtes urbanes Quartier.

Das alte Polizeipräsidium Frankfurt

Damit dieser “Lost Place“ nicht völ lig aus dem kollektiven Gedächtnis verschwindet, haben die Autoren Ulrich Mattner (Fotografie), Christian Setzepfandt, Andreas Gerlach und Fred Bauer die Ge schichte und die Geschichten dieses mystischen Ortes in dem Bildband „Lost Place“ festgehalten, bevor das Präsidium demnächst zu großen Teilen der Abrissbirne zum Opfer fallen wird. Doch bis es so weit ist, werden die Autoren wie bisher vor Ort spannende Lost Place-Führungen durch das seit 2002 leerstehende alte Polizeiprä sidium anbieten.

„Lost Place im Verlag Henrich Editionen, Frankfurt; Hardcover, 22 x 22 cm, 120 Seiten, ISBN 978-3-96320-060-1, 22,00€ inkl. Verpackung & Versand

Die Führungen können unter www.frankfurter-stadtevents. de/Themen/FFM-Inside-SecretPlaces/Lost-Places-FFM_ 20017477/ gebucht werden.

2 wiesbadener*in IV/2022
kultur & kreatves
Altes Polizeipräsidium Frankfurt

Längst ist PARDON, die vor 60 Jahren gegründete „deutsche satirische Monatsschrift“, Legende. Die Ausstellung im Caricatura Museum macht nachvollziehbar, warum das Frankfur ter Blatt so erfolgreich war und innerhalb kürzester Zeit mit über 300.000 verkauften Exemplaren zur größten Satirezeitschrift Europas aufstieg. Gleichzeitig wird in der Jubiläumsausstellung “Teuflische Jahre“ deutlich, wie prägnant sich in dem Satiremagazin die bewegte Geschichte der Bundesrepublik in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts spiegelt.

Gegründet wurde die Zeitschrift 1962 in Frankfurt von Hans A. Nikel zusam men mit Hans Traxler, Chlodwig Poth und Kurt Halbritter. Schnell entwi ckelte sie sich zum Zeitgeist-Magazin des Aufbegehrens der Jugend gegen den Muff der Adenauerzeit und seiner Autoritäten. PARDON eckte immer wieder an, wurde mit Prozessen überzogen, legte sich mit den meist klerikalen Sittenwächtern an, agitierte gegen die weitverbreitete Prüderie und bürgerliche Doppelmoral der frühen Bundesrepublik. Dies führte von Anfang an zu Verbotsanträgen, Zensurversuchen und Verkaufsbe schränkungen.

PARDON bezog Stellung, ergriff Partei. Das Konzept, Humor, Komik und Satire mit engagierten Texten und Reportagen zusammenzubrin gen, kam an. Karikaturen standen neben bissigen Polemiken, Fotomon tagen neben Buchbesprechungen,

PARDON – Teuflische Jahre

ernsthafte Reportagen neben leichtfüßigen Parodien. Bald war das Magazin erste Adresse für junge Karikaturisten, entwickelte sich zum Karrieresprungbrett für journalistische Berufsanfänger wie Günter Wallraff, Alice Schwarzer, Wilhelm Genazino oder den späteren “Stern“-Repor ter Gerhard Kromschröder. Auch Eckard Henscheid begann dort seine Karriere.

Die große Jubiläumsausstellung “Teuflische Jahre“ dokumentiert auf den vier Ebenen des Museums in Originalzeichnungen, Fotos und Gerichtsakten den Werdegang des Magazins. Der Versuch des PAR DON-Verlegers Hans A. Nikel, in den späten 70er Jahren die Zeitschrift für New-Age-Themen zu öffnen, beschleunigte den personellen

Aderlass. Wichtige Mitarbeiter setzten sich ab, ein Teil firmierte fortan als “Neue Frankfurter Schule“ (NFS).

Die Gruppe, zu der auch die Texter von Otto Waalkes, Robert Gernhardt, Peter Knorr und Bernd Eilert ge hörten, gründete schließlich 1979 das Konkurrenzblatt “Titanic“. 1982, unter ihrem letzten Chefredakteur Henning Venske, wurde PARDON eingestellt.

In seiner 20jährigen Geschichte hatte sich das Magazin als stilprägend für Medienschaffende erwiesen, dessen Einfluss bis heute nachwirkt.

PARDON – Teuflische Jahre bis zum 19. März 2023

Caricatura Museum, Weckmarkt 17, 60311 Frankfurt am Main

https://caricatura-museum.de/

wiesbadener*in IV/2022 

Ein kolossaler Möglichkeits-Raum

Es darf gefeiert werden! Am 2. Oktober 1972 war die Schlüsselübergabe des Darmstädter Theaterneubaus von Rolf Prange. Und „Fidelio“ ging am 6. Oktober als Eröffnungspremiere über die Bühne des „ambitionierten Theaterneubaus der Republik“.

Mehr als 1000 Premieren und 50 Jahre später - unzählige Mitwir kende auf und hinter der Bühne waren für Millionen von Theaterbe geisterten engagiert - wurde eine zünftige Festwoche zelebriert.

Ein „Tag der offenen Tür“ bot Ein blick in alle Gewerke. Das gesamte

Vorderhaus wurde zum „foyer public“, sämtliche Sparten präsen tierten Schmankerl. Premieren im Schauspiel („Drei Kameradinnen“), im Musiktheater („Don Giovanni“) und Tanz („Entre Deux“) wurden gefeiert.

Am Kaminabend „Schönes bleibt“ erinnerten sich mit Günther Beelitz und John Dew zwei frühere Haus herren an ihre Ägide.

Gründungs-Intendant Beelitz zitierte den Slogan „Betonschüssel“. Ein veritables BüchnerJubiläum mit unvergesslichen In szenierungen hatte Intendant Dew verantwortet.

Was für eine Vorstellung – in dop peltem Sinne. Die „rauschende“ Jubiläums-Gala „50 Jahre Staats theater“ wurde vergnüglich vom Ur-Darmstädter mit südhessischer Zunge kredenzt: „Was fer en Zer kus! Und Suppemusigg gibt´s hier aach“ Der Datterich, alias Mathias Znidarec, irrlichterte in Katakom

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kultur & kreatves
Kleider machen Leute: Echte Bühnenkostüme konnten Groß und Klein im Foyer anziehen und die Wirkung ausprobieren.
zelebriert
Staatstheater Darmstadt
ein „rauschendes“ Goldjubiläum auf allen Bühnen
„Wild wollen wir feiern!“ Beim Gala-Abend zum Goldjubiläum unter Kronleuchtern und XXL-Festtafel mit Prominenz und Vertretungen aller Gewerke wird Bühnenzauber geboten.

ben und Werkstätten und schnorrte sich durch bis zur XXL-Tafel an der Rampe mit Festgästen aus allen Gewerken und Prominenz.

Erfreulich kurze Anmerkungen der Offiziellen: Kulturministerin Angela Dorn bekundete in „Räumen, die Mut machen“ ihren „Respekt vor dem ganzen Team“. Oberbürger meister Jochen Partsch lobte das Theater, das „immer mehr ins Herz der Stadt gerückt“ sei.

Intendant Karsten Wiegand insze nierte parallel einen hochkarätigen „Don Giovanni“ und dankte für den „kolossalen Möglichkeitsraum“ im Riesengebäude. Ein „Souper“ nicht ohne Walküren-Ritt: Exquisit in Form begeisterte das Staatsorche ster Darmstadt unter feinfühliger Stabführung von Kapellmeister Jan Croonenbroeck mit Bernd Alois Zimmermanns „Roi Ubu“.

Augenzwinkernd moderierte Haus herr Wiegand den zweiten Akt der Gala mit der Choreografie „I“m afraid to forget your smile“ von Imre & Marne van Opstal aus dem Doppelabend „V/ertigo“.

Viel Applaus für das hessische Staatsballett unter Bruno Heyn derickx..Daniel Scholz und Jörg Zirnstein beeindruckten mit einer Szene aus „Peer Gynt“.

Hervorragend auch der Opernchor unter Ines Kaun, der sich mitten im Saal platzierte. Nadia Beugrés Tanzstück „Entre deux“ ging als Kurzversion unter die Haut.

Mit GMD Daniel Cohen am Pult hatte es die „Zugabe“ erst recht in sich: Kurz vor der Premiere bril lierte ein klangschöner Julian Or lishausen als Don Giovanni. Dem narzisstischen Charmeur liegt das

Das Jubiläum macht´s möglich: Auf dem Vorbau konnte das Publikum wie auf einem Balkon lustwandeln und die Aussicht genießen.

ganze Haus zu Füßen: „Fin ch`han dal vino“. Der Applaus überflutet die Bühne.

www.staatstheater-darmstadt.de

Nadia Beugrés Tanzstück „Entre deux“, eine fulminante Ergänzung der aktuellen „Don Giovanni“-Inszenierung geht auch in der temperamentvollen Kurzversion unter die Haut.

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kultur & kreatives
Text und Fotos: Gesine Werner Intendant Karsten Wiegand, Regisseur und Hausherr des Musentempels am Büchner-Platz, bildet ein Dreamteam mit Michael Pegher. Bislang ist der beliebte Opernsänger als ausdruckstarker Tenor vieler Publikumserfolge wie „Tosca“ oder „Cabaret“ bekannt und hat das Terrain gewechselt. Seine „ministerielle“ Partie in „Turandot“ singt er weiter.

Ein Wonnemonat wie im Rausch. Das Jubiläum „125 plus 1“ der Internationalen Maifestspiele mit begleitender Sonderschau „Vorhang auf!“ und umjubelter Urauf führung („Babylon“) reihte die Highlights auf wie Perlen auf die Schnur.

lernder Version der Dreigroschen oper unter musikalische Leitung von Levi Hammer. Im grandiosen Ensemble trumpfen auf: Tilo „Peachum“ Nest, Constanze Celia P. Becker, Nico „Mackie“ Holonics (auch „Filch“), „Polly“ Cynthia Mi cas, Kathrin „Brown“ Wehlisch (Ho senrolle!), Spelunkenjenny Bettina

Ein Wiedersehen mit dem wand lungsfähig-ausdruckstarken Schauspieler Matthias Brandt, in den Neunzigern hier im Ensemble, beschert das zweite BE-Gastspiel: Frischs „Mein Name sei Ganten bein“ fesselt an den Stuhl. Das hingebungsvoll gebannte Publikum feiert mit Ausdauer den mitgerei sten Regisseur Oliver Reese und seinen kongenialen Schauspielvir tuosen Brandt.

Erstmals konnte Kammersänger Thomas de Vries als musikalischer Gesamtleiter mit Francesco Caval lis „L´Ormindo“ eine Barock-Ent deckung im Kleinen Haus zeigen. Das „Ensemble Mattiacis“ leistete in Pascal Jordans etwas statischer Inszenierung Vorzügliches. Coun tertenor Filippo Mineccia, die Soprane Josefine Göhmann und Mayan Goldenfeld sowie Tenor Ron Silberstein verströmen voka len Glanz.

Die IMF war wieder „ein Fenster zum Osten“: Das umjubelte Finale der IMF kam mit dem Teatr Wielki aus dem polnischen Poznan, So pranistin Ruslana Koval ist eine Entdeckung. Das „Gespenster schloss“ von Regisseurin Ilana Lanzino, der EOP-Gewinnerin des Wiesbadener Vereins Camerata Nuova, wartet mit queerem Spuk und aktuellen Protestzeichen aus Polen wie Kleiderbügel, schwarze Schirme auf. Ein bildkräftiges Ver gnügen und würdiger Abschlussa bend.

Mit den Hochkaräter-Gastspielen„MAM“ aus Irland und dem Double Bill mit „Hole in Space“ aus Italien/ Deutschland plus „Me, My non-Self and I“ aus Armenien - sorgte die Tanzsparte für Furore.

Diego Tortelli entwickelte das atem beraubende „Hole in space“, das „Menschen verbindet ohne Sinn für geografische Grenzen“ mit drei Paaren, die sich nicht kannten, im Lockdown. Das Livepublikum ist fasziniert. Die mehrfach aus gezeichnete Armenierin Rima Pipoyan legt in „Me, My non Self an I“ hoch emotionale Bindungen mit teils befremdlichen szenischen bondage-Motiven offen.

„Ja, mach nur einen Plan…“ Tosender Jubel dankte dem Berliner Ensemble für das rasante Gastspiel mit Barry Koskys schil

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Hoppe. Rebecca Ringst fordert akrobatisches Können für ihr Bühnenbildgerüst ein. Text und Fotos: Gesine Werner
Mailights mit hochkarätiger Vielfalt Spätlese der Internationalen Maifestspiele 2022 kultur & kreatives
Schlicht als „Steps“ avisiert, setzten Daniel Brandt, Jan Brauer & Paul Frick das Kleine Haus unter Strom. Das Publikum war atemlos gebannt. „Die sind ja echt die Wucht in Dudde!“ war die Sitznachbarin aus dem Häuschen. Neben Keyboard und der gut ausgestatteten „Schießbude“ war das ausgefeilte Lichtkonzept Teil der gefeierten Show. Da capo! Ein Edelstein der IMF 2022:war das fulminante Gastspiel des Teatro Petrozzelli in Bari unter musikalischer Leitung von GMD Giampaolo Bisanti. Ausdauernde Ovationen bekamen Primadonna Leah Crocetto, die in der Titelpartie der äthiopischen Königstochter „Aida“ mit warm timbriertem Gänsehaut-Pianissimo betörte, und ihr Radamés Roberto Aronica.

„Fassenacht wird wieder schee – wir starten durch beim CCW 2.0“ ist das „nachhaltige“ Kampagnenmotto. Die Großfamilie des Carne valclubs Wiesbaden 1954 e.V. startet mit ex quisitem Programm in die Session. 111 Leute an Bistro-Vierertischen waren – erstmals im Zais-Saal der Gudd Stubb – närrisch aufgelegt. Grandseigneur Bernd Hans Gietz rollt den ge pflegten Musik-Teppich aus. Clubpräsi Andreas Guntrum & Sitzungspräsi Michael Wink sind das eingespielte Moderatoren-Duo. Promis aus Stadt, Land & Bund sind auch da. Der Erste Bürger Dr. Gerhard Obermayr, Amtsvorgängerin Christa Gabriel & OB Gert-Uwe Mende schun keln mit Staatsminister Prof. Dr. Alexander Lorz sowie MdB Ingmar Jung.

Gefeiert werden langjährig Aktive wie Theo Corves und Daniela von Falz-Fein und „runde“ Geburtstage im Dutzend. Ehrensitzungspräsi Klaus Groß und Gemahlin Ella ernten Standing Ovations, Andreas Guntrum auch.

Carmen als Boogie Woogie: Sattes Gebläse, Kon trabass mit fliegenden Schlägeln und Gitarre mit „Schnuckulele“ serviert das „grüne Gemüse auf sechs Beinen“: Jule Balandat, Sinje Schnittker & Tina Werzinger mischen als „Zucchini-Sistaz“ aus Münster den Saal auf und sind der Knüller. Da capo! Zeichen der Zeit erkannt: „Die Fassenacht muss weiblicher werden.“ Boygroup war gestern. Ladypo wer für die Mannen vom Komitee, die zünftig ver eidigt sind: Ute Baudet, Petra Boxberger & Claudia Schütz sind die ersten „Komitäterinnen“ des CCW. Der TV-bekannte „Hesse-Män“ Jürgen Leber aus Bad Offenbach ließ Lachtränen kullern. Für RostraBeben sorgten Luzie Mae Schwartz, Alexandra Weinerth & Olivia Back.

Überraschung! Der Clou zum Finale: Vizechefin Petra Neumeister bat zwei CCW-Urgesteine auf die Bühne: Volker Kaiser und Andreas Guntrum sind frisch gebackene CCW-Erzschelme. Chapeau!

Vorschau: Die Närrische Riesling-Gala & Wein bittet am 27. Januar 2023 in die Gudd Stubb, am 28. Januar ist in der Großen Kostümsitzung des CCW der Schwa nengesang der CCW-Gartenzwerge zu erleben.

Also: Tränentüchlein mitbringen.

Info: www.carneval.club Karten: karten@ccw-info.de Text

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und Fotos:
Mit Ladypower und neuen Erzschelmen in die Zukunft Carnevalclub Wiesbaden startet mit furios-närrischem Dinner-KonzertEmpfang in die Session zusammenleben
Gesine Werner
Eine neue Ära bricht an. Die Boygroup vom Komitee wird mit Ladiepower hoch drei verstärkt: Ute Baudet, Petra Boxberger & Claudia Schütz sind erste Komitäterinnen im CCW Jule Balandat, Sinje Schnittker & Tina Werzinger setzten als „Zucchini-Sistaz“ aus Münster den vierfarbbunten Zais-Saal unter Strom. Überraschung! Petra Neumeister konnte mit Volker Kaiser & Andreas Guntrum zwei neue CCW-Erzschelme in der Rostra begrüßen.

Füreinander statt Nebeneinander

20 Jahre „Genossenschaft Gemeinschaftlich Wohnen“

Gemeinschaftlich in einer Genossenschaft anstatt in anonymen Mietverhältnis sen wohnen – in der Blücherstraße 17 in Wiesbaden funktio niert das seit gut zwanzig Jahren. Das Magazin WIESBADENER*IN hat sich das Projekt im Westend genauer angesehen.

Es steckt weit mehr hinter der Altbaufassade in der Blücherstraße, als man von außen wahrnehmen kann. Doch das Gelände mit seinen zwei Innenhöfen, den gemeinschaftlichen Nutzflächen und nicht zuletzt den 22 unterschiedlich geschnittenen Wohn-

einheiten wirkt fast wie ein Hofgut inmitten der Innenstadt und nicht bloß wie ein klassisches Mietshaus. Udo Schläfer (Vorstandsmitglied) und Anna Bieler (Bewohnerin der ersten Stunde) fungieren an diesem kühlen Novembertag als unsere Touristenführer und begleiten uns durch die verwinkelte Anlage, in der man sich spätestens im geräumigen Keller auch leicht verlaufen könnte.

Betreut wird das Projekt von der Genossenschaft Gemeinschaft lich Wohnen, die 200, also vor knapp zwanzig Jahren, in Wiesba den gegründet wurde. Ziel war und

ist es, ein „anderes Wohnen in der Stadt“ zu realisieren – mit Erfolg: 2005 konnte die Liegenschaft des 1905 errichteten Gebäudes erwor ben werden, seit 2007 existiert das Wohnprojekt Blü17. 51 Mitglieder zählt die Genossenschaft heute, die Hausgemeinschaft in der Blücher straße besteht aus 2 Erwachse nen und 11 Kindern im Alter von 1 bis 82 Jahren aus sieben verschie denen Nationen.

Die Initiative Gemeinschaftlich Wohnen entstand bereits Mitte der Neunziger Jahre. Bis das Gelände in der Blücherstraße zu dem Ort umgestaltet werden konnte, der er heute ist, mussten erst viele gescheiterte Projekte an andern Standpunkten begraben werden. Die „Entdeckung“ der Blücherstraße 17 erfolgte 2001. Mit Un terstützung der Lokalen Agenda 21 der Stadt Wiesbaden konnte das Gebäudekomplex auf seine Eignung für die Umsetzung des Wohnprojekts geprüft werden, die Bausubstanz bewertet und der finanzielle Rahmen abgeschätzt werden. Ein Jahr später gewann die Genossenschaft für ihre Pla nungen den ersten Preis eines bun desweiten Wettbewerbs, den die Dresdner Bank und die Zeitschrift Capital zum Thema „Wohnen in der Innenstadt“ ausgeschrieben hatten. Nach dieser weiteren Initialzündung kam es schließlich 200 zur Grün dung der Genossenschaft und zu den ersten Kaufverhandlungen mit dem städtischen Liegenschaftsamt. Am 7.März 2005 wurde endlich der

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zusammenleben
Vorderansicht Wohnprojekt Blücherstraße

Kaufvertrag abgeschlossen und umgehend mit der Sanierung des altehrwürdigen Gebäudes begon nen, die zwei Jahre später beendet wurde.

Heute beherbergt die Blücherstraße ein erstaunlich vielfältiges und modernes Wohnkonzept, das sich einem so richtig erst beim zweiten Hinsehen offenbart. Die Genossenschaft legt Wert darauf, das Zusammenleben von Men schen in unterschiedlichen Lebens formen und mit verschiedenen sozial-kulturellen Hintergründen in einer selbst gewählten Nachbar schaft zu ermöglichen. Kein ano nymes Nebeneinander, wie es nur allzu oft die Regel ist, sondern ein soziales, verbindliches Füreinander steht hier im Mittelpunkt. Die Mit glieder der Hausgemeinschaft tra gen eine bestimmte Verantwortung und Solidarität untereinander.

Dazu kommt die Förderung eines nachhaltigen Wohnens, etwa durch ökologisches Bauen, En ergie sparende und Ressourcen schonende Lebensweise und einer gemeinschaftlichen PKW-Nut zung. Als Gremium der im Projekt Wohnenden dient die Projektver sammlung, in der gemeinsam und selbstbestimmt über alle wichtigen Belange sowie der Organisation und Gestaltung des Zusammenle bens entschieden wird.

Wie das alles in der Realität aus sieht, zeigen uns Udo Schläfer und Anna Bieler nicht ohne Stolz auf unserem kleinen Rundgang. Das Gelände besteht aus einem Vorder-, Mittel- und Hinterhaus und nimmt eine Grundfläche von 960 qm ein. Alle gemeinschaftlichen Flächen, insgesamt zehn Prozent der Anla ge, wurden gewinnbringend für die Gemeinschaft umgestaltet, kein Fleckchen Erde fristet ein unge nutztes Dasein. Es gibt eine große Waschküche, einen geräumigen Fahrradparkplatz, einen Kinderund Jugendraum, einen Kinder spielplatz im Hof, eine Werkstatt und ein Nähzimmer sowie das ver meintliche Herzstück des Wohnpro jekts, der Gemeinschaftsraum. Hier finden nicht nur die als „legendär“ betitelten Gemeinschaftsabende der Hausbewohner samt Kochen und sit together statt, sondern auch Deutschunterricht für Geflüchtete oder Proben für ein Improvisations theater. Auch zwei Gewerbe, das

Cafe ANDERSWO und das Land schaftsarchitekturbüro von exedra, sind auf dem Gelände angesiedelt.

Auch um eine ökologische Nut zung wird sich in der Betonwüste Wiesbaden nach allen Kräften bemüht: Geheizt wird im Keller mit Holzpellets, ein großer Teil des Wasserverbrauchs stammt aus der eigenen Regenwasseranlage. In den Innenhöfen wurde zum Teil Flä chen entsiegelt und begrünt. Auch die Fassade und insbesondere die großflächige, von allen Bewohnern bequem per Fahrstuhl zu errei chende Dachterrasse wird für Nutzund Zierpflanzen beschlagnahmt. Das alles hat natürlich seinen Preis: Kauf und Sanierung der Blücher straße 17 wurde mit dem vorhan den Eigenkapital der Genossen schaft und Bankdarlehen finanziert und zusätzlich von der Stadt Wies baden gefördert. Die Mitglieder des Wohnprojekts tätigen heute eine finanzielle Einlage, die sich nach der Wohnungsgröße richtet und darüber hinaus ein Nutzungsentgelt sowie Betriebskosten enthält. Fünf der insgesamt 22 Wohneinheiten sind als öffentliche geförderte So zialwohnungen für Menschen mit geringem Einkommen reserviert.

Blü17 ist nicht das einzige Projekt der Genossenschaft Gemeinschaft lich Wohnen – aber aktuell das erfolgreichste. Und sicherlich eins, das Nachahmer verdient hätte. Denn Wohnprojekte wie dieses sind in Zeiten wachsender Unsicher heiten, Wohnungsnöten und unsoli darischen Wohnraumspekulationen eine echte und vor allem soziale Alternative, die jeder Stadt gut ste hen würde.

Nun wird die Genossenschaft in Wiesbaden 20 Jahre alt und wird das Jubiläum über das Jahr 202 verteilt mit verschiedenen Akti onen, Veranstaltungen und Events gebührend feiern. Das Magazin WIESBADENER*IN wird die Akti onen in 202 medial begleiten; es lohnt sich die Augen nach kommen den Ankündigungen auf zu halten oder sich direkt auf der Webseite der Genossenschaft umzusehen – mitmachen erlaubt!

Alle Infos unter www.gemeinschaftlich-wohnen.de

Text: Konstantin Mahlow Fotos & Logo: Wohnprojekt Blü17

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Rückansicht/Innenhof Vorderhaus vor der Sanierung Rückansicht Vorderhaus/Innenhof nach der der Sanierung Gemeinschaftsdachterrasse Hinterhaus

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