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Wohnen

Hier nicht erwĂŒnscht

Wer nicht der Norm entspricht, hat es schwer auf dem Wohnungsmarkt

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Strassenmagazin Nr. 544 17. Feb. bis 2. MĂ€rz 2023 Bitte kaufen Sie nur bei VerkĂ€ufer*innen mit offiziellem Verkaufspass davon gehen CHF 3.–an die VerkĂ€ufer*innen CHF 6.–

SOZIALE STADTRUNDGÄNGE

ERLEBEN SIE BASEL, BERN UND ZÜRICH AUS EINER NEUEN PERSPEKTIVE.

Menschen, die Armut, Ausgrenzung und Obdachlosigkeit aus eigener Erfahrung kennen, zeigen ihre Stadt aus ihrer Perspektive und erzÀhlen aus ihrem Leben. Authentisch, direkt und nah.

Buchen Sie noch heute einen Sozialen Stadtrundgang in Basel, Bern oder ZĂŒrich. Infos und Terminreservation: www.surprise.ngo/stadtrundgang

Eine «wilde Horde von Queers und trans Personen», wie sie sich selbst bezeichnet, besetzte vor einigen Wochen vorĂŒbergehend ein Haus im gutbĂŒrgerlichen Basler Gellertquartier. In einem PressecommuniquĂ© schrieben die Hausbesetzer*innen: «Weitgehend unsichtbar bleibt, dass gender-nonkonforme und trans Personen besonders mit Wohnungslosigkeit zu kĂ€mpfen haben.» Wir haben Hausbesetzer*in Jay getroffen und uns von den Erfahrungen bei der Wohnungssuche erzĂ€hlen lassen. Es liess uns grundsĂ€tzlicher darĂŒber nachdenken, wie eng Wohnen und Norm verknĂŒpft sind. Ab Seite 8.

Vor einiger Zeit fragte ich bei der Stadt ZĂŒrich nach, ob es eigentlich wirklich kein stĂ€dtisches Plastikrecycling gebe. Doch, gibt es, in zwei entlegenen Recyclinghöfen, die Plastikflaschen mĂŒssen «sortenreines» PE oder PP sein (oder PET, aber da weiss ich, wohin ich es bringen soll). Mein Problem – Joghurtbecher, FrĂŒchteschalen und dergleichen – sei allerdings «sehr schwer zu identifizieren», die stoff­

liche Verwertung stosse an technische Grenzen. Nun, ich bringe mein Plastik jetzt zu einer Migros­Sammelstelle, und was die damit macht, entzieht sich meiner Kenntnis. Die Handhabe beim Plastikrecycling in der Schweiz ist ein seltsames Konstrukt. Dass es dabei auch um unterschiedliche Interessen geht, war mir nicht klar. Ab Seite 14.

Es ist klar, was Hunger – richtiger Hunger –  ist und was er mit den Menschen macht. Im Detail beschreibt es Ibrahim Liban, Arzt im Norden Somalias, ab Seite 20. Trotzdem ist es eine politische Entscheidung, ob und wann in einem Land eine Hungersnot ausgerufen wird.

Es ist ein weiteres Konstrukt, in dem das Leben eines Menschen und die ĂŒbergeordneten Rahmenbedingungen wenig miteinander zu tun haben. Eines, das besonders tragisch ist.

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Editorial Konstrukte
4 Aufgelesen 5 Na? Gut! Willkommen zurĂŒck!
Gericht Profit zulasten der Ärmsten
VerkÀufer*innenkolumne
ein Sturz
Sozialzahl Schampar unbequem
Wohnen Queere Hausbesetzung – was sie mit Diskriminierung zu tun hat
Reproduzierte Normen
Wiederverwertung Wege unseres MĂŒlls
Somalia Politik des Hungers
Audiofestival Vertonung eines Lebens 26 Veranstaltungen
Tour de Suisse Pörtner in Thun
SurPlus Positive Firmen
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Internationales VerkÀufer*innen­PortrÀt
Kinder sollen es besser haben» TITELBILD: MELANIE GRAUER
29 Wir alle
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«Meine
DIANA FREI Redaktorin

Auf g elesen

News aus den ĂŒber 90 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 LĂ€ndern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Kunst als Empowerment

Über Kunst werden immer wieder Visionen einer anderen, auch besseren Welt erdacht, vermittelt und debattiert. Dass Kunst fĂŒr manche auch einen ganz konkreten Zugang zu unserer existierenden Welt darstellen kann, ist möglicherweise etwas weniger offensichtlich. Organisationen wie Studio A und Big hART aus Australien nutzen Kunst und das Kunstschaffen, um strukturell diskriminierten, benachteiligten Personen und deren Gemeinschaften zu mehr Sichtbarkeit und Teilhabe zu verhelfen. Gerade im Umgang mit First Nations, den Ureinwohner*innen des Kontinents, lassen sich durch das Gehört-, Gesehen- und AnerkanntWerden im besten Falle Heilungsprozesse erwirken. Es geht dabei um die Darstellung ihrer eigenen Sicht auf ihre Erfahrungen und Geschichten – und um die Gewalt, die ihnen ĂŒber so lange Zeit angetan wurde und wird.

1 Lisa Tindall, Moonlight Starbone, 2020, Acryl auf Leinwand, 30 × 30 cm. Mit Genehmigung der KĂŒnstlerin und Studio A.

2 Catherine McGuiness, Rosary with the Seagull, 2022, Acryl auf Leinwand, 121,8 × 91,5 cm. Mit Genehmigung der KĂŒnstlerin und Studio A.

3 Thom Roberts, A portriff of Adam (Shane Simpson AM), 2021, Acryl auf Leinwand, 101,5 × 101,5 cm. Mit Genehmigung des KĂŒnstlers und Studio A.

MĂ€nnliche Erfindungen

Die meisten Erfindungen stammen von MĂ€nnern. In Deutschland kommen gerade mal 10 Prozent aller patentierten Erfindungen von Frauen, in Österreich sind es bloss 8 Prozent. Der Grund dafĂŒr liege auf der Hand, sagt Cornelia Rudloff-SchĂ€ffer, PrĂ€sidentin des Deutschen Patent- und Markenamts: «Wir lassen einen erheblichen Teil unseres Innovationspotenzials ungenutzt, weil Frauen in Forschung und Entwicklung nicht angemessen zum Zug kommen.»

Als Argument fĂŒhrt sie LĂ€nder an, in denen der Anteil an Absolventinnen in den entsprechenden wissenschaftlichen Disziplinen vergleichsweise hoch ist –und damit auch der Prozentsatz von Erfinderinnen: Lettland (30,6 Prozent), SĂŒdkorea (28,3) oder Portugal und China (beide 28,6).

Hunderttausende ohne festes Obdach

In Deutschland haben 263 000 Menschen kein festes Obdach. Die Bundesregierung hat erstmals einen Bericht zur Lage der Wohnungslosen in Deutschland vorgelegt. Die ZĂ€hlung erfasst die in der Wohnungsnotfallhilfe Untergebrachten (178 000), verdeckt Wohnungslose, die bei Freund*innen oder Bekannten unterkommen (49 000), sowie die insgesamt mehr als 37 000 ungeschĂŒtzt auf der Strasse lebenden Obdachlosen.

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HINZ & KUNZT,
BODO, BOCHUM/DORTMUND
HAMBURG
BIG ISSUE AUSTRALIA, MELBOURNE
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Willkommen zurĂŒck!

Wo werden Sie in 43 Jahren stehen, haben Sie schon darĂŒber nachgedacht? Ich weiss nicht, welche kĂŒhnen TrĂ€ume Sie haben, aber was die Erde angeht, wissen wir nun: Sie sollte bis 2066 auch ĂŒber der Antarktis wieder von einer Ozonschicht umgeben sein. Wie sie es 1980, vor dem Ozonloch und den Fluorchlorkohlenwasserstoffen (FCKW), war.

Schon 2045 soll sich die Ozonschicht ĂŒber der Arktis erholt haben und 2040 ĂŒber dem Rest der Welt. Dies halten das UN-Umweltprogramm (Unep) und die Weltorganisation fĂŒr Meteorologie (WMO) in einem Bericht fest. Dass die Ozonschicht, die zehn bis fĂŒnfzig Kilometer ĂŒber uns liegt, sich erholen kann, liegt am Verbot der FCKW. Diese chemischen Substanzen, die frĂŒher in Haarsprays, Klimaanlagen oder KĂŒhlschrĂ€nken waren, fĂŒhrten seit den 1970er-Jahren dazu, dass die Ozonschicht ultraviolette Sonnenstrahlen durchliess, die sie – da krebserregend – von uns fernhalten sollte.

Dann kam 1987 das Montreal-Protokoll zum Schutz der Ozonschicht, und FCKW wurden verboten. 2016 wurde das Protokoll ergÀnzt, nun durften auch viele Fluorkohlenwasserstoffe (FKW) nicht mehr produziert werden. Die UNO schÀtzt, dass dies eine Erderhitzung von 0,3 bis 0,5 Grad bis 2100 vermeidet.

Blicke in die Zukunft sind selten so prickelnd, wie wenn der WMOGeneralsekretĂ€r Petteri Taalas sagt: «Der Schutz der Ozonschicht wird zum Vorbild fĂŒr den Klimaschutz.»

Dieser Erfolg zeige, was möglich sei, um den Temperaturanstieg zu begrenzen. Umso hoffnungsvoller machen wir uns schon mal bereit, um bald zu rufen: Willkommen zurĂŒck, liebe Ozonschicht! LEA

Profit zulasten der Ärmsten

Erinnern Sie sich an die ZĂŒrcher GammelhĂ€user? Als 2015 ein MultimillionĂ€r aufflog, der im Langstrassenquartier lottrige Wohnungen an «RandstĂ€ndige» vermietete? Zu horrenden Preisen, nah am Maximum, das Sozial- und Asylbehörden BedĂŒrftigen fĂŒr Unterkunft gewĂ€hren? DafĂŒr wurde er vom Bezirksgericht ZĂŒrich 2020 mit zwei Jahren Freiheitsstrafe bedingt bestraft.

Höher fiel die Strafe desselben Gerichts im Fall einer Vermieterin 2021 aus: 33 Monate, wovon sie 11 hĂ€tte absitzen mĂŒssen. Auch sie, eine 59-jĂ€hrige Ingenieurin, war wegen gewerbsmĂ€ssigem Wucher verurteilt worden. Sie habe von 2010 bis 2017 in drei Liegenschaften in ZĂŒrich und Spreitenbach möblierte Zimmer ĂŒberteuert vermietet – gezielt an Menschen, die aufgrund ihrer gesellschaftlichen und finanziellen Stellung auf dem Wohnungsmarkt kaum Chancen haben. Am Obergericht fordert die Frau nun resolut einen zweitinstanzlichen Freispruch. Sie weist die VorwĂŒrfe als Unsinn zurĂŒck. «Sie haben doch Jus studiert», ermahnt sie den Gerichtsvorsitzenden keck, «Sie wollen doch keine unschuldigen Menschen ins GefĂ€ngnis stecken.»

Fest steht jedoch, dass es sich bei ihren ehemaligen Mieter*innen mehrheitlich um AuslĂ€nder*innen ohne Sprach- oder Ortskenntnisse handelte. Bis auf wenige Ausnahmen bezogen alle Sozialhilfe. Erwiesen ist auch, dass sie der Besitzerin bis zu 1100 Franken inklusive bezahlten – fĂŒr ein 7,2 m2 kleines Zimmer in einer Siebenzimmerwohnung, in der sie sich Bad und KĂŒ-

che mit bis zu 11 Personen teilten. Estrich oder Keller gab es nicht, die WÀsche wuschen sie in der Wohnung und hÀngten sie im Flur auf. Die hygienischen ZustÀnde in den GemeinschaftsrÀumen sei wegen Schimmelbefall teils gesundheitsgefÀhrdend gewesen, so die Anklage.

Der von den Anklagebehörden beauftragte Gutachter kam zum Schluss, dass fĂŒr das oben genannte Zimmer ein Mietzins um die 600 Franken angemessen gewesen wĂ€re. Die Staatsanwaltschaft errechnete, dass die Frau mit solchen Wucherpreisen insgesamt 660 000 Franken zu viel erwirtschaftet hat.

Davon will die aber nichts wissen. Das Problem sei nicht sie gewesen – sondern die Mieter*innen. Ratten habe es nur gehabt, weil diese ihren MĂŒll mit Essensresten auf den Balkon gestellt hĂ€tten. Schimmel, weil sie nie lĂŒfteten. Wieder erklĂ€rt sie den Richtern das Recht: «Begeht jemand in der Schweiz einen Mord, können Sie ja auch nicht den Bundesrat zur Rechenschaft ziehen.»

Die Oberrichter blieben unbeeindruckt. In den 43 untersuchten FĂ€llen hĂ€tten die Betroffenen die ZustĂ€nde fast einhellig als desolat beschrieben. Sie habe Menschen aus dem schwĂ€chsten sozialen Umfeld skrupellos ausgenutzt. Die von der Vorinstanz verhĂ€ngte Strafe erachten die Richter allerdings als zu hoch: Sie erhĂ€lt wie der eingangs erwĂ€hnte «Berufskollege» zwei Jahre bedingt. Ob das aber genĂŒgt, um kĂŒnftig solche widerlichen FĂ€lle von Abzocke zu verhindern, ist im heutigen ausgetrockneten Wohnungsmarkt mehr als fraglich.

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Vor Gericht
ILLUSTRATION: PRISKA WENGER
Na? Gut!
YVONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin in ZĂŒrich.

VerkÀufer*innenkolumne

Nur ein Sturz

Es war an einem Sonntag im FrĂŒhling 2004, als ich den Notfall des UniversitĂ€tsspitals ZĂŒrich aufsuchte, weil sich mein Ellbogen entzĂŒndet hatte. ZunĂ€chst wurde ich dafĂŒr gerĂŒgt, dass ich erst so spĂ€t gekommen war. Es habe sich so viel Eiter angesammelt, wurde mir gesagt, dass es möglicherweise zu spĂ€t sei, den Arm noch zu retten. Ich wĂŒrde gleich am nĂ€chsten Morgen als Erste operiert werden. «Okay», sagte ich, «dann komme ich morgen frĂŒh wieder.» Diese Idee wurde aber vehement abgelehnt.

Man gab mir ein Beruhigungsmittel und sagte, ich wĂŒrde auf ein Zimmer verlegt. Ich schlief ein. Als ich wieder aufwachte, fragte ich mich: Wo bin ich hier?

Mir wurde bewusst, dass ich noch immer auf dem Operationstisch lag. Ja nicht bewegen, dachte ich.

Ich schaute nach rechts in den Raum, da standen drei Ärzte in langen weissen Kitteln und drehten mir den RĂŒcken zu. Ich schaute nach links: Wieder drei Ärzte, auch die drehten mir den RĂŒcken zu. Sie schauten Röntgenbilder an.

Nun war ich langsam so wach und auch empört, dass ich laut sagte: «He, hallo, wo bin ich hier ĂŒberhaupt, was ist passiert und was machen Sie da?» Was nun

geschah, behalte ich wohl bis ins hohe Alter in amĂŒsanter Erinnerung: Alle sechs Ärzte drehten sich gleichzeitig um. Einige sogar mit offenem Mund, dann sprachen sie alle gleichzeitig und fielen einander ins Wort.

Die Informationen, die ich bekam, waren folgende:

«Es ist ein Wunder, dass Sie noch am Leben sind. Wir durften Sie ja nicht an die lebenserhaltenden Maschinen hĂ€ngen, darauf hat Ihr Mann bestanden. Er ist ĂŒbrigens schon lange hier mit Ihrer Tochter.»

«Sie waren wÀhrend fast 20 Stunden im Koma.»

«Wir haben Sie ĂŒberall geröntgt und auch durch die Röhre geschickt. Sie haben fast keine Verletzungen, unglaublicherweise. Nur Ihr rechter Fuss, die Ferse, ist in ĂŒber zwölf Teile zertrĂŒmmert.»

«Sie werden nie mehr gehen können.»

Und dann die Frage: «Wollten Sie Selbstmord begehen?»

Das UniversitĂ€tsspital wurde zu der Zeit renoviert, ein Rohbau wurde erstellt. Man sehe genau, aus welcher BalkontĂŒr

ich gestĂŒrzt sei, sie lĂ€ge im obersten Stock. Die Plastikplane sei weggerissen gewesen. Der Securitas habe mich auf seinem letzten Rundgang unter diesem Balkon auf dem Rasen gefunden. Wie ich denn ĂŒberhaupt in den Rohbau gekommen sei? Diese Frage kann bis heute niemand beantworten. Ich bin aber frĂŒher schon hin und wieder Schlaf gewandelt.

Es war Herbst, ein halbes Jahr spÀter, als ich aus dem USZ austrat.

Heute denke ich nicht mehr oft an diesen Unfall. Zum GlĂŒck habe ich körperlich alles hinter mir gelassen, denn ich gehe wieder. Das Einzige, was blieb, ist das GefĂŒhl vom GlĂŒck, noch am Leben zu sein. Und das Wissen, dass ich das Leben ein zweites Mal geschenkt bekommen habe.

KARIN PACOZZI, 56, verkauft Surprise in Zug. Der Sturz aus dem UniversitĂ€tsspital war natĂŒrlich mehr als nur ein Sturz. Aber es war nur ein Sturz – von vielen. Sie hat in ihrem Leben immer wieder UnfĂ€lle gehabt.

Die Texte fĂŒr diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.

6 Surprise 544/23 ILLUSTRATION: ANNALISA ROMPIETTI

Schampar unbequem

Dieses Jahr stehen die Gesamterneuerungswahlen des Nationalrats und des Bundesrats an. Intensiv wird ĂŒber die zukĂŒnftige Zusammensetzung der Schweizer Regierung spekuliert. Die Bundesratsparteien reprĂ€sentieren nur noch bedingt die Haltung der WĂ€hlerschaft. Im Nationalrat kommen sie auf einen Anteil von 75 Prozent, im StĂ€nderat auf 87 Prozent. In der Vereinigten Bundesversammlung haben sie noch einen Anteil von 77 Prozent. Diese wird den Bundesrat wĂ€hlen. Rund ein Viertel der Schweizer*innen, die vor vier Jahren an die Urne gingen, hat im Bundesrat keine Stimme.

Insbesondere sind die «grĂŒnen» Anliegen mit keinem Mandat vertreten. 2019 kam die GrĂŒne Partei Schweiz (GPS) im Nationalrat auf 28 und im StĂ€nderat auf 5 Sitze, die GrĂŒnliberale Partei der Schweiz (GLP) im Nationalrat auf 16 Sitze. Sollte sich der Erfolg der Umweltparteien wiederholen –so wird kolportiert –, wĂ€re die Zeit reif fĂŒr einen Bundesratssitz. Wird die Zauberformel, nach der sich der Bundesrat zusammensetzt, dieses Jahr also fallen? Sie besagt, dass die drei stĂ€rksten Parteien zwei Sitze und die viertstĂ€rkste einen Sitz im Bundesrat beanspruchen darf.

Die entscheidende Frage ist, wonach sich die StĂ€rke einer Partei bemisst. Ergibt sich diese nur aus der Anzahl Sitze im Parlament und dem Anteil der WĂ€hlenden? Dem ist nur sehr bedingt so. NatĂŒrlich könnten zum Beispiel die bĂŒrgerlichen Parteien in der Vereinigten Bundesversammlung ihre Muskeln spielen lassen und der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SPS) einen Sitz wegnehmen und diesen der GPS zuschanzen, sollte diese nochmals Erfolge bei den Nationalratswahlen feiern können. Das Risiko, einen oder gar beide Sitze im Bundesrat zu verlieren, besteht fĂŒr

die SPS nicht zum ersten Mal. Erinnert sei darum an die Drohung von Helmut Hubacher, einst mĂ€chtiger PrĂ€sident der SPS, der fĂŒr diesen Fall voraussagte, dann wĂŒrde die Bundespolitik fĂŒr die anderen «schampar unbequem» werden.

Was meinte Hubacher damit? Die Schweiz hat ein einzigartiges demokratisches System, in dem Politik lÀngst nicht nur im Parlament und in der Regierung gemacht wird. Das Referendum sowie die Initiative sind zwei Instrumente, mit denen auch von aussen Einfluss auf das politische Geschehen genommen werden kann. Die StÀrke von Parteien bemisst sich darum auch daran, Initiativen erfolgreich lancieren und glaubhaft mit dem Referendum drohen zu können. Nur wer eigene Positionen durchbringen kann, die im Parlament keine Mehrheiten finden, gilt als starke Partei.

In dieser Hinsicht sind die beiden grĂŒnen Parteien den Nachweis von StĂ€rke bis anhin weitgehend schuldig geblieben. Die GLP ist mit ihrer Initiative «Energie- statt Mehrwertsteuer» grandios gescheitert, die GPS schaffte es nicht, der CO2-Lenkungsabgabe, gegen deren EinfĂŒhrung die SVP das Referendum ergriffen hatte, zum Durchbruch zu verhelfen. So bleiben beide grĂŒnen Parteien im politischen System der Schweiz leider eher schwach und die Wahrscheinlichkeit einer Vertretung im Bundesrat klein.

PROF. DR.

ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule fĂŒr Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Surprise 544/23 7 Nationalrat FDP die Mitte SP SVP GLP GrĂŒne Übrige Bundesratsparteien StĂ€nderat Vereinigte Bundesversammlung 41 41 48 59 16 33 8 12 13 9 6 5 1 29 28 39 53 16 28 7 INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: BFS (2023) : STATISTIKEN ZU DEN NATIONALUND STÄNDERATSWAHLEN. NEUCHÂTEL Die Sozialzahl
Mandate der Parteien im Nationalrat, StĂ€nderat und in der Vereinigten Bundesversammlung, 2019 CARLO KNÖPFEL

Wohnen Wer von der Norm abweicht, wird bei der Wohnungssuche diskriminiert. AuffÀllig ist, wie stark dabei die soziale Kontrolle bis tief in die PrivatsphÀre hineinreicht.

Doch kein Haus fĂŒr queere und trans Menschen

Eine Wohnung oder ein WG-Zimmer zu finden, ist nicht fĂŒr alle Menschen gleich einfach. Eine Gruppe queerer und trans Menschen hatte in Basel ein Haus besetzt, um auf die Diskriminierung aufmerksam zu machen.

Dass sie es schwer haben wĂŒrden, wussten sie schon einen Tag danach. In einer Montagnacht im Januar besetzten sie das Haus an der Hardstrasse 99 im Gellert-Quartier, am Mittwoch publizierte der Kanton Basel-Stadt eine Baupublikation fĂŒr – die Hardstrasse 99. Das Haus stand jahrelang leer, ausgerechnet jetzt wollte der EigentĂŒmer es rundum sanieren. «Wenn wir das gewusst hĂ€tten», sagt Jay, grauer Kapuzenpullover und rundes, jugendliches Gesicht, «hĂ€tten wir eher ein anderes Haus besetzt.» An Tag 9 rĂ€umte die Polizei das Haus, der EigentĂŒmer hatte eine Strafanzeige wegen Hausfriedensbruchs gestellt.

Und so trinkt Jay, eine*r von ĂŒber zehn Besetzer*innen, den Kaffee statt im Gellert, dem schicken Basler Quartier mit den Villen, Kanzleien von AnwĂ€lt*innen und BĂŒros, noch immer im Kleinbasel, dem ehemaligen Industrieund Arbeiterquartier, auf der anderen Seite des Rheins. «Moment», sagt Jay, kaum steht der Kaffee auf dem Tisch, und setzt sich an die gegenĂŒberliegende Tischseite, «ich möchte aus dem Fenster schauen können.» Draussen kurvt das Tram zwischen Claraplatz und DreirosenbrĂŒcke, junge Menschen in grossen Jacken flanieren auf ihren Velos an Coiffeursalons, TelefongeschĂ€ften und BrautmodelĂ€den vorbei. Kleinbasel unter der Januar-Wolkendecke, hier mag Jay die Stadt am liebsten.

Jay, Ende zwanzig und non-binÀr, nutzt das englische Pronomen they. They wohnt in einer WG um die Ecke, hat ein Phil.-hist.-Fach studiert und arbeitet im Bildungsbereich. Genauer will they nicht werden, auch den Nachnamen nennt Jay nicht. Besetzer*innen bleiben lieber im Verborgenen, denn sie machen sich potenziell strafbar.

Wenn Menschen mit grossem Tamtam ein Haus besetzen, Transparente aus den Fenstern hĂ€ngen und Flyer verteilen, tun sie das meist mit einer politischen Botschaft. Wohnungsnot, fehlende FreirĂ€ume, Protest gegen Leerstand oder hohe Mieten – die Themen der Hausbesetzungen der 1970er- und 80er-Jahre in Basel, ZĂŒrich, Genf, Bern oder Lausanne sind gar nicht so weit weg von denen heutiger Besetzer*innen. Waren es frĂŒher die Forderungen der 68er- oder der Jugendbewegung, so kommen jetzt diejenigen von jungen queeren und trans Menschen hinzu.

Passender in der kulturellen Vielfalt

Schon Anfang Dezember besetzte die Gruppe ein Haus an der GÀrtnerstrasse im Kleinbasel. Die Botschaft war an der GÀrtner- wie an der Hardstrasse dieselbe: «Es bleibt unsichtbar, dass gender-nonkonforme und trans Personen besonders mit Wohnungslosigkeit zu kÀmpfen haben. Als marginalisierte Gruppe werden wir bei der Wohnungssuche strukturell diskriminiert.» Und: «Dass VerdrÀngung

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im St. Alban und Gellert ein Thema ist, zeigt sich bereits an den hohen Mietkosten. Wir nehmen es uns deshalb heraus, eine Hochburg mittlerer bis oberer Mittelschicht zu stĂŒrmen, die sich auch geographisch vom Rest der Bevölkerung distanziert.» Jay ist gut darin, die Botschaft der Gruppe zu erklĂ€ren, die, wenn man so will, die Minderheit der Minderheit ist: In der EU identifizieren sich 5,9 Prozent der Bevölkerung als LGBTIQ, als non-binĂ€r identifizieren sich in den USA gemĂ€ss einer Umfrage mit Studierenden 3,7 Prozent, davon gut die HĂ€lfte als trans. Doch sie reden, so Jay, nicht nur ĂŒber Politisches – ĂŒber Kapitalismus und Wohlstand, VerdrĂ€ngung und Gentrifizierung, Rassismus und Transfeindlichkeit. Die Gruppe trifft sich in einem Freiraum, wo manche von ihr wohnen; in welchem genau, Jay hat dies abgeklĂ€rt, will die Gruppe nicht sagen. Der Ort soll nicht mit Hausbesetzer*innen in Verbindung gebracht werden können. Hier, wo im Winter das Feuer im Ofen flackert, trinken sie Kaffee auf den Sofas oder kochen zusammen, tanzen in der selbstgebauten KĂŒche oder trĂ€umen von ihren Crushes von der letzten Party im Humbug oder von der ZischBar in der Kaserne. Kleinbasel biete BegegnungsrĂ€ume, eine sichtbare, auch kulturelle VielfĂ€ltigkeit – Jay schwĂ€rmt. Hier sei es nicht so schickimicki, nicht so Upper Class wie im Gellert. «Ich fĂŒhle mich passender.» Doch, sagt Jay, wenn eine Person erzĂ€hlt, dass sie von ihren Eltern aus der Wohnung geworfen wurde, können sie sich hineinversetzen. «Viele haben selbst schon Ă€hnliche Situationen erlebt – vielleicht auch von anderen Verwandten oder dem Umfeld – oder bei guten Freund*innen miterlebt.» Und dann sind sie schnell wieder beim Politischen bei den GesprĂ€chen im Freiraum.

Seelenstriptease am WG-Casting

Als they 18 oder 19 Jahre alt war, wurde eine von Jays ersten Partnerpersonen, wie they sie nennt, von den Eltern zuhause aus der Wohnung geworfen. Also zog sie zu Jay in die WG, ins gleiche Zimmer. Elf Quadratmeter fĂŒr zwei

Menschen, das sei schwierig gewesen – finanziell, aber auch psychisch. Auch vor ihren Freund*innen hatten sie sich noch nicht als queer geoutet. Wer zuhause von der Familie hĂ€usliche Gewalt erlebt, findet etwa bei der Opferhilfe UnterstĂŒtzung. Davon wussten sie nichts. «Wer noch keine Community hat», sagt Jay, «ist auf sich gestellt.» In Berlin gibt es mit QueerHome* seit Kurzem eine Beratungsstelle fĂŒr queere Menschen in Wohnungsnot. Ein vergleichbares Angebot in der Schweiz fehlt.

Und dann zĂ€hlt Jay Beispiel um Beispiel auf. Gerade erst sei ein trans Junge, 16 Jahre alt, von seinen Eltern aus der Wohnung geworfen worden. Oder die 19-jĂ€hrige trans Person, die noch in Ausbildung ist und auf einmal einen Job finden musste, um eine Wohnung finanzieren zu können. Auch sie war von ihren Eltern auf die Strasse gestellt worden. Oder die Person, deren Mutter sie ĂŒberzeugen wollte, dass sie nicht queer sei. Irgendwann ertrug sie das nicht mehr und zog aus. Oder: Queere und trans Menschen, die flĂŒchteten und nun im Bundesasylzentrum von den Behörden nicht nur Rassismus, sondern auch Transund Queerfeindlichkeit erleben. Die Community erzĂ€hlt sich diese FĂ€lle von Wohnungslosigkeit weiter. Haben wir ein freies Zimmer in einem besetzten Haus? Oder ein Sofa in einer WG? Irgendwo findet sich meistens ein Schlafplatz, man rutscht zusammen.

Eine von Jays Mitbewohner*innen, eine trans Frau, suchte sehr lange ein WG-Zimmer. In den WGs, die sie sich anschaute, fĂŒhlte sie sich fetischisiert. LĂ€nger als geplant lebte sie noch bei den Eltern. Das Fetischisieren kennt auch Jay, they hört dann: ErzĂ€hle mir alles ĂŒber dich! Welche Beziehung hast du zu deinem Geschlechtsteil? «Und ich denke: Wir kennen uns seit fĂŒnf Minuten, warum fragst du mich nicht nach meinen Hobbys?» FĂŒr Jay ist klar: An einem WG-Casting sagt they, dass they non-binĂ€r ist. Mit «sie» angesprochen zu werden, fĂŒhle sich an, als wĂŒrde eine Person mit einem glitschigen Fisch in Jays Gesicht schlagen.

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Wer das Queer oder Trans sein verschweige, sagt Jay, schĂŒtze sich möglicherweise vor direkter Anfeindung. Doch es sei belastend, nicht authentisch, nicht ehrlich sein zu können. Wird in einer WG der Community ein Zimmer frei, melden sich sofort viele queere Menschen. NatĂŒrlich, das betont Jay, gebe es queer-freundliche cis Menschen. «Doch manchmal ist es einfacher, mit anderen queeren Menschen zu wohnen.»

Wohnen und TransidentitÀt

Eine Wohnung in einer grösseren Schweizer Stadt zu finden, ist im Moment eine herausfordernde Sache. Bis vor zwei Jahren stiegen die LeerstĂ€nde, doch seither sinkt die Leerwohnungsziffer, 2022 betrug sie noch 1,31 Prozent. «Selbst fĂŒr einen 30-jĂ€hrigen, heterosexuellen cis Mann wird es schwierig, im Kleinbasel eine Wohnung zu finden», sagt Jay. «Immerhin ist die Wahrscheinlichkeit grösser, dass er sich die 2000 Franken fĂŒr eine sanierte Wohnung leisten kann.» Etwa 20 Prozent der trans Personen, so Jay, haben in der Schweiz keinen Job. Das liegt deutlich ĂŒber der letztjĂ€hrigen Arbeitslosenquote von 2,2 Prozent. Neben den oftmals eingeschrĂ€nkten finanziellen Möglichkeiten werden gleichgeschlechtlich gelesene Paare, erzĂ€hlt Jay, von Verwaltungen oft fĂŒr Freund*innen gehalten, die eine WG grĂŒnden wollen. «Wenn die Verwaltung WGs ausschliesst und explizit ein Paar sucht, werden zwei queere Menschen gar nicht als Paar in Betracht bezogen.»

Dass Menschen mit einem auslÀndisch klingenden Namen in der Schweiz bei der Wohnungssuche diskriminiert werden, stellten in den letzten Jahren mehrere Untersuchungen fest. Inwiefern dies auch auf queere und trans Menschen zutrifft, ist statistisch hingegen kaum in Erfahrung zu bringen. Zu TransidentitÀt gibt es in der Schweiz kaum Forschung. Sigmond Richli vom Transgender Network Switzerland sagt: «Ein so spezifisches Thema wie Wohnen und TransidentitÀt wurde in der

Schweiz ganz bestimmt noch nie untersucht.» Was Diskriminierung im Allgemeinen betrifft, gaben im Schweizer LGBTIQ+-Panel von 2022 51,8 Prozent der queeren und trans Menschen an, sozial ausgegrenzt zu werden. 67,1 Prozent werden in der Öffentlichkeit angestarrt. Bei 69,7 Prozent wird die GeschlechtsidentitĂ€t nicht ernst genommen. 76,3 Prozent erleben strukturelle Diskriminierung. Und 82,4 Prozent sind Witzen ausgesetzt.

Auch zur Wohnungs- und Obdachlosigkeit von queeren und trans Menschen fehlen Zahlen. Eine Studie zur Obdachlosigkeit in der Schweiz von 2022 erfragte als Geschlecht nur «Frau» und «Mann». Bei einer Befragung zur Jugendobdachlosigkeit in Kanada von 2016 identifizierten sich 30 Prozent als LGBTQ+ – ein deutlich höherer Anteil als in der restlichen Bevölkerung.

Gerne hĂ€tte Jay an der Hardstrasse 99 Wasser und Strom wieder zum Fliessen gebracht, Heizung und Toiletten installiert, das Haus von Brettern befreit und die Zimmer wohnlich gemacht fĂŒr queere und trans Menschen in besonders prekĂ€ren Situationen. Die etwa keinen sicheren Aufenthaltsstatus haben oder Rassismus erleben. «Ich bin jung, weiss, gut gebildet, habe einen Schweizer Pass. Vergleichsweise bin ich privilegiert», sagt Jay, eine Zigarette drehend, und nimmt die Bauchtasche vom Tisch. Dann tritt they hinaus auf die Strassen Kleinbasels.

Hier wirst du unterstĂŒtzt

Bist du queer oder trans und erlebst Diskriminierung? Weiterhelfen kann etwa die LGBTIQ-Helpline: lgbtiq-helpline.ch.

FĂŒr junge Queers: milchjugend.ch und du-bist-du.ch.

FĂŒr queere GeflĂŒchtete: inaya-basel.ch und queeramnesty.ch.

FĂŒr trans Menschen: tgns.ch. FĂŒr non-binĂ€re Menschen: nonbinary.ch.

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HĂ€uslichkeit abseits der Norm

Die Art und Weise, wie wir wohnen, war schon immer eng mit den Normvorstellungen der Gesellschaft verknĂŒpft.

TEXT DIANA FREI

Aus Werbeanzeigen lĂ€sst sich vieles ablesen: WofĂŒr inseriert wird, fĂŒhrt vor Augen, was die BedĂŒrfnisse einer Zeit sind – oder waren. Und so stösst man, blĂ€ttert man in NZZ-Ausgaben von Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts, immer wieder auf Anzeigen fĂŒr komplette Wohnungsausstattungen (nebst Mitteln gegen BlĂ€hungen; offensichtlich hatte man nun sitzende BĂŒroarbeit, ernĂ€hrte sich aber immer noch wie Bauern oder Bauarbeiter). Im Ausverkauf stand «Das wohnfertige Schweizerheim», das nicht nur ein schönes Doppelschlafzimmer bereithielt, sondern insgesamt 40 Teile, aus denen sich das Eheleben zusammensetzte, bis hin zu Nachttischlampen und «guten Schwei-

zerbildern» an der Wand. FĂŒr 1360 Franken konnte man sich schwere Möbel kaufen, die genauso unverrĂŒckbar waren wie das zugehörige Lebensmodell: die erfolgreiche Ehe. Gesellschaftliche Normen materialisieren sich also nicht nur in Wohnungseinrichtungen, sie bilden sich auch in der Konzeption von Grundrissen ab – und natĂŒrlich in der Wohnungsvergabe. Dass sie auch zu Diskriminierungen fĂŒhren, liegt auf der Hand. Am klarsten fassbar ist sie bei Menschen mit Namen, die auf eine nicht-schweizerische Herkunft schliessen lassen. So hat eine Studie der UniversitĂ€t Bern 2014 ergeben, «dass Personen mit einem auslĂ€ndisch klingenden Namen in der Ostschweiz und im

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FOTO: SCHWEIZERISCHES SOZIALARCHIV ZÜRICH
Jugendliche beim ZĂŒgeln eines Klaviers: Die erste besetzte Liegenschaft in ZĂŒrich an der Venedigstrasse, 1971. Das Bild stammt aus den Materialien zu Thomas Stahels Publikation «Wo-Wo-Wonige – Stadt- und wohnpolitische Bewegungen in ZĂŒrich nach 1968».

Mittelland im Vergleich zu Personen mit einem schweizerischen Namen und einem sonstigen identischen Bewerbungsprofil um 8.4 bis 10.3 Prozentpunkte weniger oft zu einer Wohnungsbesichtigung eingeladen wurden.» Und: «Personen mit einem arabisch oder tamilisch klingenden Namen werden stĂ€rker diskriminiert als solche mit einem serbokroatisch klingenden Namen.» Eine Studie des Bundesamts fĂŒr Wohnungswesen hat 2019 ergeben, dass, wer einen kosovarischen oder tĂŒrkischen Namen trĂ€gt, signifikant weniger Chancen hat, zu einer Besichtigung eingeladen zu werden, als diejenigen, deren Namen auf eine Herkunft aus der Schweiz oder einem der direkten NachbarlĂ€nder schliessen lassen.

Trennungsbefehl wegen Konkubinat

Aber zurĂŒck zur Ehe, denn interessant ist speziell die VerknĂŒpfung von Wohnen und Sexualmoral, Geschlechternormen oder Intimbeziehungen. Also von Dingen, die bis ins innerste Private reichen. Bis 1972 waren die moralischen Schranken auf dem Wohnungsmarkt hierzulande im Gesetz festgeschrieben, und zwar in Bezug auf Mann und Frau: Das Konkubinatsverbot untersagte unverheirateten Paaren das Zusammenwohnen. «Das Verbot stammte aus dem Jahr 1911 und sah vor, dass die StatthalterĂ€mter auf Meldung der GemeinderĂ€te hin Trennungsbefehle an Konkubinatspaare erliessen. Wer dem nicht Folge leistete, hatte mit strafrechtlichen Folgen wegen Ungehorsams zu rechnen», schreibt Carole Scheidegger in ihrer Liz.-Arbeit von 2006. Das Verbot diente aufmerksamen Nachbar*innen denn auch als Steilvorlage fĂŒr die AusĂŒbung sozialer Kontrolle beziehungsweise fĂŒr regelrechtes Denunziantentum. Das Privatleben anderer konnte mit der Vorstellung staatlicher Ordnung verknĂŒpft werden. «Schrilles TĂŒrgeklingel schreckte beide aus ihren TrĂ€umen hoch. (...) Der Wecker stand auf sechs Uhr frĂŒh, und vor der TĂŒr standen zwei Polizeibeamte. Höflich, aber entschieden teilten sie mit: es sei eine Reklamation eingegangen. Wegen Konkubinats. Und nun mĂŒssten sie einmal kurz nachsehen, ob das ĂŒberhaupt stimme», zitiert Scheidegger einen Artikel von 1967 aus der Wochenzeitung ZĂŒrcher Woche. Es ging darum, die staatliche – und hier eben auch moralische – Ordnung wiederherzustellen, die durch (schon nur leicht) alternative Lebenskonzepte offensichtlich schnell in Frage gestellt wurde. Das Konkubinatsverbot galt vielerorts in der Schweiz. Als es 1972 in ZĂŒrich abgeschafft wurde, bestand es in vielen weiteren Kantonen weiterhin: Appenzell, Baselland, Basel-Stadt, Glarus, GraubĂŒnden, Luzern, Nidwalden, Obwalden, Schwyz, St. Gallen, Uri, Wallis und Zug.

Normen und moralische Vorstellungen werden beim Wohnen reproduziert. So ist im Historischen Lexikon der Schweiz nachzulesen: «Die bĂŒrgerliche Gesellschaft entwickelte im frĂŒhen 19. Jahrhundert verbindliche Leitbilder des Wohnens. (
) Eng damit verbunden war der aufkommende Dualismus zwischen der öffentlichen ErwerbssphĂ€re des Mannes und dem abgeschlossenen, weiblich konnotierten Bereich der Familie, wo Harmonie und Musse Platz finden sollten.» Das funktionierte natĂŒrlich nur innerhalb einer heteronormativen Logik. Interessant

ist, dass die realen Intimbeziehungen hinter den Kulissen durchaus anders aussehen konnten.

Der KĂŒnstler Matt Smith thematisiert queere Beziehungen in Zusammenhang mit historischen HerrschaftshĂ€usern in England, die vom National Trust, der Institution zur Pflege öffentlich zugĂ€nglicher Kulturbauten, Besucher*innen gezeigt werden. Smith hĂ€lt fest, dass die PrĂ€sentation der historischen GebĂ€ude zu einem wesentlichen Teil auf Familiennarrative baut. «LGBT-SexualitĂ€ten» kĂ€men selten vor: «Reproduktive und heteronormative SexualitĂ€t ist ein wesentlicher Teil des kuratorischen Narrativs.» (Er hat es dann natĂŒrlich mittels kĂŒnstlerischer Interventionen in Zusammenarbeit mit dem National Trust auch aufgebrochen.) Das Narrativ ist aber im wahrsten Sinn des Wortes nur Fassade in Bezug auf die Geschichtsschreibung. Smith nennt HĂ€user, die historisch verbunden sind mit MĂ€nnern, «die in ihrem Leben und ihren IntimitĂ€ten gegen soziale Normen verstiessen, und zwar durchaus auch in der Öffentlichkeit». Was bleibt, ist dennoch eine bereinigte Geschichte des Hauses und dessen Bewohner*innen.

Von «Wohnleitbildern» spricht auch der Historiker Thomas Stahel in seiner Dissertation «Wo-Wo-Wonige! –Stadt- und wohnpolitische Bewegungen in ZĂŒrich nach 1968»: Genau dagegen wehrten sich Hausbesetzer*innen und Kommunenbewohner*innen in den 70er- und 80er-Jahren. Sie kritisierten die funktionale Trennung von ArbeitssphĂ€re und hĂ€uslichem Dasein, die zunehmende Individualisierung und die bĂŒrgerliche Kleinfamilie. Ziel war die Verwirklichung von gĂ€nzlich neuen Formen des Zusammenlebens, von Selbstversorgung bis hin zu anarchistischen Konzepten. «Ein Grossteil der alternativen Projekte wurde nur ansatzweise beziehungsweise in einer Zwischennutzung verwirklicht oder blieb reine Utopie», schreibt Stahel und zitiert das Ssenter for Applied Urbanism (SAU): «Die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen VerhĂ€ltnisse in der Schweiz engen den Spielraum fĂŒr phantasievolle VerĂ€nderungen empfindlich ein, die ordnende Gewalt von Staat und Familie erschwert das Aufkommen neuer Lebensformen.»

Umso mehr verstanden sich Kommunenbewohner*innen und Hausbesetzer*innen als politische Bewegung, die Normen sprengen sollte. Das unterscheidet sie fundamental von den meisten heutigen Wohngemeinschaften, die sich lÀngst etabliert haben und oft in erster Linie Zweckgemeinschaften in Lebensphasen mit geringem Einkommen sind.

Wenn nun, wie in Basel, queere und trans Menschen als Community ein Haus besetzen, kommen neue Aspekte hinzu: Zum einen geht es darum, in einer ganz konkret schwierigen Wohnsituation – etwa mit den eigenen Eltern – ein neues Zuhause zu finden. Dann geht es um eine Art von Safe Space, einen Ort, an dem der Mensch sicher ist und nicht auf eine vermeintliche Andersartigkeit reduziert wird. Und politisch wird es, indem die Gruppe sich dabei an die Medien wendet, um auf ihre Benachteiligung auf dem Wohnungsmarkt hinzuweisen. Aber sie thematisieren damit weniger gesellschaftliche Utopien als aktuell gelebte IdentitĂ€t.

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Abfallnation Schweiz

Wiederverwertung Die Einwohner*innen der Schweiz seien Weltmeister im Wiederverwerten, das behaupten Recyclingorganisationen und Behörden gerne. TatsĂ€chlich wird die HĂ€lfte unseres HausmĂŒlls verbrannt. Doch das soll sich jetzt Ă€ndern.

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TEXT CHRISTOPH KELLER FOTOS KLAUS PETRUS

Eines Tages leerte ich unseren Abfallsack auf den Kellerboden.

Ich sortierte, trennte, machte kleine Haufen. Fand kein Papier, kein Glas, keine PET-Flaschen, keine Plastikdosen und schon gar keine Batterien, denn das wandert hierzulande alles in die Recyclingcontainer, anderes auf den Kompost. Aber da waren drei angebrannte PizzarĂ€nder (wir vermeiden Foodwaste, so gut es geht), ein zerfaserter KĂŒchenlappen (gehört eigentlich in die Textilsammlung), ein Kugelschreiber. Der Rest, ein riesiger Haufen, war Plastik: Joghurtbecher, KĂ€severpackungen, Klarfolien, NĂŒsschenbeutel. Wohin, fragte ich mich, kommt das alles?

Wir leben lĂ€ngst, so formulierte es der Kulturwissenschaftler Justin McGuirk, in einem «Zeitalter des MĂŒlls», in einer Welt, in der Wachstum «komplett abhĂ€ngig ist von der unablĂ€ssigen und gnadenlos effizienten Produktion von MĂŒll». Und von allen LĂ€ndern ist die Schweiz einer der gnadenlos effizientesten Produzenten von Abfall. NĂ€mlich pro Einwohner sind es genau 707 Kilogramm im Jahr, nur Norwegen und DĂ€nemark produzieren in Europa mehr MĂŒll, und 773 Kilogramm sind es pro Kopf in den USA.

Davon wird etwas mehr als die HĂ€lfte wiederverwertet, der Rest landet heute mitsamt den ganzen BauabfĂ€llen, IndustriemĂŒll, dem Abfall aus SpitĂ€lern, den Windeln aus Kinderkrippen, ausrangierten Skis, zerkratzten Motorradhelmen, mĂŒffelnden KlobĂŒrsten, meinem Plastikhaufen im Keller: in den Kehrichtverbrennungsanlagen. Und wird dort verbrannt.

Meine erste Erkenntnis: Schweizer HausmĂŒll löst sich fast zur HĂ€lfte in Luft auf, wird in der AtmosphĂ€re deponiert. Als CO2, als das Gas, das unser Klima an die Grenzen des Kollapses bringt.

Allein in der Schweiz stossen die MĂŒllverbrennungsanlagen 4,2 Millionen Tonnen CO2 aus pro Jahr (das sind zehn Prozent des landesweiten Ausstosses). Dazu kommen die SchĂ€den durch die giftige Schlacke, die in Deponien gelagert wird, eine stĂ€ndige Gefahr fĂŒr Grundwasser und Natur. Nicht mitgezĂ€hlt auch, was wir sonst an MĂŒll noch so produzieren. Radioaktiven MĂŒll, SondermĂŒll, dazu 8900 Tonnen Mikroplastik pro Jahr vom Abrieb der Pneus unserer Autos, tausende Tonnen Mikroplastik aus Duschgels und Kunststoffkleidern, und das alles gelangt in die Umwelt, ins Meer, in unserer Nahrungsmittelkette.

Wir haben PlastikmĂŒll im Blut, Mikroplastik findet sich mittlerweile auch in der Muttermilch, so weit ist es gekommen. Wir pusten mit verbranntem MĂŒll Millionen Tonnen Klimagase in die Luft, und eigentlich sollten wir eines tun: dringend den Abfall reduzieren. Aber die Prognosen sind dĂŒster, Expert*innen rechnen mit einer Zunahme der Abfallproduktion um bis zu 4,7 Prozent bis 2035. Und so ist das heutige Schweizer System der Abfallbewirtschaftung: nicht zukunftsfĂ€hig.

Denn es basiert weitestgehend auf der flĂ€chendeckenden «thermischen Verwertung» in den 29 Kehrichtverbrennungsanlagen (KVA), die in der Schweiz seit den Sechzigerjahren in Betrieb genommen wurden. Diese KVAS nun haben ein Versprechen abgegeben, es steht in einem Vertrag zwischen dem Bund und dem VSBA, dem «Verband Schweizerischer Betreiber von Abfallverwertungsanlagen» (nicht: Kehrichtverbrennungsanlagen), der im vergangenen MĂ€rz unterzeichnet wurde. Darin ist festgeschrieben, dass die KVAs das Problem mit dem CO2 lösen sollen, sie mĂŒssen spĂ€testens bis 2050 auf null Emissionen kommen. Und hier soll es die Technologie des «Carbon Capture and Storage», des Ausfilterns von CO2 mit anschliessender Deponierung in unterirdischen Kavernen richten; in einem ersten Schritt wollen die Betreiber*innen mit einer Pilotanlage bis 2030 mindestens 100 000 Tonnen CO2 aus den Schloten rausfiltern und sicher einlagern.

Nur wo?

Die KapazitĂ€ten sind unsicher Robin Quartier, GeschĂ€ftsfĂŒhrer des VBSA, besitzt kein Auto, fĂ€hrt mit dem Velo zur Arbeit und regt sich tĂ€glich auf ĂŒber die klimaschĂ€dlichen SUVs. Und im GesprĂ€ch ist spĂŒrbar, dass das «Problem» mit dem CO2 Robin Quartier am Herzen liegt; er beteuert, man sei zwar technisch in der Lage, das CO 2 in den Kaminen abzuscheiden, aber man wisse nicht wohin damit.

«Es ist tatsĂ€chlich unsicher, ob es ĂŒberhaupt KapazitĂ€ten gibt, um das CO2 tief unter der Nordsee in Kavernen zu deponieren, wir wissen auch nicht, ob es möglich ist, das CO 2 mit einer Pipeline etwa durch Deutschland hindurchzufĂŒhren, und man hat auch keine Ahnung, was das kostet.»

«Es wird jedenfalls teuer. Und technisch anspruchsvoll.»

«Ja.»

«Und was ist mit der Umwandlung von CO2 in synthetischen Treibstoff?»

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707 Kilogramm pro Kopf und Jahr –nach Norwegen und DĂ€nemark produziert die Schweiz europaweit am meisten MĂŒll.

«Das ist noch viel teurer, weil das Verfahren sehr viel Strom braucht, wir sprechen von der Grössenordnung von mehreren Atomkraftwerken.»

«Also fÀllt auch diese Option dahin?»

«So ist es.»

Die KVAs in der Schweiz werden ihre Klimaziele von sich aus nicht erreichen, das ist absehbar. Und einige frisieren dabei ihre Umweltbilanzen ganz erheblich. Die Industriellen Werke Basel etwa, deren KVA jĂ€hrlich ĂŒber 240 000 Tonnen CO2 in die Luft pustet, behaupten, man sei unter dem Strich «klimaneutral», weil die HĂ€lfte des Abfalls aus «biogenen» Quellen stammt, also aus Holz, Papier, Essensresten und so weiter. Die andere HĂ€lfte habe das Bundesamt fĂŒr Umwelt BAFU deshalb als «klimaneutral» deklariert, weil man die Emissionen an CO2 bereits bei der Produktion der Produkte «erfasst» habe. Mit dieser Rechnung verschwinden Hunderttausende real emittierte Tonnen CO2 einfach aus der Klimabilanz, damit die KVA in Basel (wie andere auch) ihre CO2-Emissionen als «klimafreundlich» verkaufen kann. Genauso

wie die gewonnene WĂ€rme fĂŒr das FernwĂ€rmenetz, das in Basel real aber zu 32 Prozent mit Erdgas betrieben wird, und zu 44 Prozent mit Abfall; mit Abfall, der am Rheinknie zu einem grossen Teil aus dem Ausland und aus anderen Kantonen dazugekauft wird.

AtmosphÀre als Deponie

Seit die ersten KVAs in den 1960er-Jahren gebaut wurden, nutzt die Abfallnation Schweiz die AtmosphĂ€re als Deponie. Und das mit UnterstĂŒtzung des BAFU, das auf Anfrage beschwichtigt, die Treibhausgasemissionen aus den KVAs spielten ja nur eine «untergeordnete Rolle» (es sind immerhin 10 Prozent aller CO2-Emissionen der Schweiz). Das BAFU betrachtet denn auch das Verbrennen von Abfall (die «energetische Verwertung») und das Recycling (die «stoffliche Verwertung») seit Jahren und bis heute als «gleichwertige» Formen der «Entsorgung» von AbfĂ€llen. Das bestĂ€tigte die Direktorin des BAFU, Katrin Schneeberger, höchstpersönlich gegenĂŒber einem, der nach genauer LektĂŒre von Ge-

setz und Verordnung zu einem anderen Schluss gekommen war: Andreas Howald, Rechtsanwalt in Bern, Rechtsvertreter des «Vereins Plastic Recycler Schweiz».

Andreas Howald, der am Telefon geduldig jeden einzelnen Gesetzes- und Verordnungsartikel erlÀutert, der auf Gerichtsentscheide verweist, auf ErlÀuterungen zur Verordnung, sagt entschieden, dass sowohl das Umweltschutzgesetz des Bundes wie auch die entsprechende eidgenössische Abfallverordnung vorschreiben, die «stoffliche Verwertung», also das eigentliche Recyling von Abfall, habe Vorrang vor der lediglich «energetischen Verwertung» von Abfall.

«Genau das ist der Sinn von Gesetz und Verordnung, wenn die massgeblichen und klaren Normen richtig angewendet wĂŒrden. Und massgeblich bei der Frage, was wie verwertet werden soll, ist der jeweils aktuelle Stand der Technik, auch das ist so zwingend in der geltenden eidgenössischen Abfallverordnung vorgeschrieben.

Danach könnten bereits heute und teilweise seit Jahren eine ganze Reihe von AbfÀllen, die heute einfach in der Kehricht-

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verbrennung KVA verbrannt werden, tatsÀchlich wiederverwertet werden, allem voran Plastik.»

«Das heisst», frage ich zurĂŒck, «dass das heutige System der flĂ€chendeckenden und prioritĂ€ren Abfallverbrennung gesetzeswidrig ist?»

«Das ist so, ja.»

«Und wie sind wir so weit gekommen?»

«PrimĂ€r fehlt es am konsequenten Vollzug bestehenden Rechts durch das Bundesamt fĂŒr Umwelt BAFU und damit verbunden an der dem BAFU aufgetragenen Feststellung des Stands der Technik. Zugleich sind die KVAs regional wirtschaftlich wichtige Auftraggeberinnen und bedeutende Einnahmequellen der Gemeinden und Kantone, welche die EigentĂŒmer der KVAs sind, und mit Sack- und EntsorgungsgebĂŒhren sowie dem Verkauf von FernwĂ€rme und Strom viel Geld verdienen.»

Die Rolle der Verbrennungsanlagen

Ähnlich drastisch drĂŒckt es Ewoud Lauwerier aus, er ist Politikwissenschaftler und Mitautor der kĂŒrzlich erschienenen Studie «Plastik in der Schweiz» der Meeresschutzorganisation «OceanCare». Er sagt, die Schweiz habe sich mit dem System der Abfallverbrennung als Standard in eine Art «Locked-in-Situation» begeben, da sei Transparenz schwierig. Und das «Quasimonopol» der Verbrennungsanlagen werde denn auch politisch verteidigt, bis hinein in die inneren Zirkel im Bundeshaus. Aber damit könnte es bald ein Ende haben.

Denn mittlerweile wÀchst der Druck, die Kreislaufwirtschaft in der Schweiz zu stÀrken, will heissen eine Wirtschaft, bei der Stoffe und Produkte möglichst ressourcenschonend produziert und dann «im Kreislauf» gehalten, also mehrfach wiederverwendet werden. Das Konzept der Kreislaufwirtschaft setzt voraus, dass Produkte so «designt» werden, dass sie auch wiederverwertbar sind, Kreislaufwirtschaft ist das Gegenteil der heute gÀngigen Wegwerfwirtschaft.

Die Kreislaufwirtschaft ist unter der Bundeshauskuppel angekommen, allem voran mit der parlamentarischen Initiative «Schweizer Kreislaufwirtschaft stÀrken», lanciert von der Umweltkommission des Nationalrates. Und im Zentrum steht da vor allem jene Sorte unseres Abfalls, die in der Schweiz meist verbrannt wird: Plastik.

Druck aufgebaut hat auch, nebst weiteren Vorstössen, die Motion von Nationalrat Thomas Dobler (FDP), die den Bun-

desrat verpflichtet, «mittels Verordnung festzulegen, dass stofflich verwertbare Anteile von KunststoffabfĂ€llen schweizweit koordiniert und flĂ€chendeckend getrennt gesammelt und hochwertig stofflich verwertet werden können». Druck kommt aber auch von den Konsument*innen, die, das zeigen Umfragen, zu 70 Prozent ein komplettes Plastikrecycling wĂŒnschen; nicht zuletzt macht auch die EuropĂ€ische Union vorwĂ€rts. Sie verbietet bereits heute bestimmte Einwegverpackungen in Plastikform und will die Vorschriften fĂŒr Plastik insgesamt verschĂ€rfen.

Das alles freut vor allem Simone Hochstrasser. Sie ist GeschĂ€ftsfĂŒhrerin des Vereins Schweizer Plastic Recycler VSPR, sie spricht bei unserem GesprĂ€ch ganz sachlich, legt die Fakten auf den Tisch. Simone Hochstrasser betont, der VSPR habe von sich aus die Grundlagen gelegt fĂŒr eine harmonisierte, zertifizierte Plastiksammlung. Man wollte «nicht auf die Politik warten», denn die habe viel zu lange gezögert, auch das Bundesamt fĂŒr Umwelt gehöre «nicht gerade zu denen, die sich etwas Neues ausdenken». Das sei aber auch nicht deren Aufgabe, sondern es sei Aufgabe der Privat-

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Gut sortiert ist halb entsorgt? Lackfarben ist SondermĂŒll, der auf mehr oder weniger verschlungenen Wegen in die Umwelt und manchmal in die Nahrungsmittelkette gelangt.

Entsorgungstelle in Bern: Weniger als ein Zehntel des Plastiks in der Schweiz wird heute wiederverwendet –eine Ausnahme ist PET, da sind es ĂŒber 80 Prozent.

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wirtschaft, sich selber Regeln aufzuerlegen. Und so seien heute schon neun Betriebe in der deutschsprachigen Schweiz fĂŒr ein hocheffizientes Plastikrecycling zertifiziert, man sei bereit fĂŒr mehr.

«Das bedeutet», hake ich nach, «dass die Privaten die Initiative ergriffen haben.»

«So ist es, weil wir eine starke Bewegung spĂŒren, den Willen, etwas zu tun, und jetzt sind sich alle am Finden.»

Plastik anders designen

Einer, der zu den Pionieren im Plasticrecycling gehört, heisst Markus Tonner; er ist Inhaber der Firma InnoRecycling in Eschlikon und PrĂ€sident des VSPR. Markus Tonner, der gerne auf seinem Werkhof zum GesprĂ€ch lĂ€dt, inmitten von riesigen Ballen Plastik, Tonnen ĂŒber Tonnen Plastikverpackungen, ist ein engagierter, visionĂ€rer Unternehmer. Tonner beliefert die benachbarte InnoPlastics, die pro Jahr 19 000 Tonnen Regranulate aus rezykliertem Plastik herstellt. Plastik, das aus Haushalten kommt, aus der Industrie, aus der Landwirtschaft. Es stammt zu einem grossen Teil aus dem Ausland, aus der Schweiz werden gerade mal 6700 Tonnen angeliefert.

Tonner betont seit Jahren, dass man vom handelsĂŒblichen Haushaltplastik etwa 80 Prozent relativ einfach recyclen kann, mehr als 50 Prozent davon wird zu wiederverwendbarem Plastik, bei «reineren» Plastiksorten ist die Ausbeute erheblich höher. Und im Vergleich zur Verbrennung spart die Wiederverwertung pro Kilo Plastik drei Kilo CO2 ein. Tonner hĂ€ngt es nicht an die grosse Glocke, aber sein Betrieb hat dazu beigetragen, dass allein im letzten Jahr etwa 72 000 Tonnen CO2 vermieden wurden. CO2, das sonst ĂŒber die KVAs in die AtmosphĂ€re gelangt wĂ€re.

Aber es sei noch immer «viel zu wenig», sagt Tonner. Weil weniger als ein Zehntel des Plastiks in der Schweiz heute wiederverwertet wird (beim PET sind es ĂŒber 80 Prozent), trotz aller Anstrengungen. TatsĂ€chlich benötigt man mindestens 20 000 Tonnen gesammeltes Plastik pro Jahr, um eine vollautomatisierte Plastiksortieranlage rentabel betreiben zu können. Zurzeit wird PlastikmĂŒll aus der Schweiz, der fĂŒr die Wiederverwendung bestimmt ist, im Vorarlberg vorsortiert.

Wer mit Patrick Semademi spricht, CEO des Plastikunternehmens Semademi AG, mit 250 Mitarbeiter*innen in ganz Europa, bekommt eine Ahnung von der Zukunft in Sachen Plastik. Semadeni, der zudem beim

Verband der Schweizer Kunststoffindustrie fĂŒr den Sektor Nachhaltigkeit verantwortlich ist, sagt bei unserem GesprĂ€ch unumwunden, man sei an der Schwelle zu einem zweifachen «Paradigmenwechsel». Erstens, indem gebrauchter Plastik nicht mehr als «Abfall», sondern als «Wertstoff» behandelt wird. «Und zweitens arbeiten wir daran, KomplexitĂ€t aus dem System herauszunehmen, also wir produzieren Plastik, der weniger kompliziert zusammengesetzt ist, damit er auch leichter wiederverwertet werden kann.»

«Wie muss ich mir das vorstellen?»

«Zum Beispiel wird auf die EinfÀrbung verzichtet oder man benutzt lösbare Etiketten, insgesamt sollen Plastikprodukte nicht komplizierter zusammengesetzt sein als unbedingt nötig.»

«Plastik wird also fit gemacht fĂŒr den Kreislauf?»

«Genau.»

Semadeni ist Bergsteiger, er sieht bei jeder Bergtour, was die Klimakrise in den Bergen anrichtet, erzĂ€hlt von Steinschlag, gefĂ€hrlichen Passagen. Deshalb setzt er sich ein fĂŒr «Zero Waste», also «Null Abfall», und er bekennt sich zu den Entwicklungszielen der UNO in der «Agenda 2030». Aber er gibt zu, dass bei Weitem noch nicht alle Firmen die Zeichen der Zeit gesehen haben, es brauche, sagt er, «noch viel AufklĂ€rung».

Und ja, auch neue Regeln. Die werden gerade formuliert, im Parlament, bei der Revision des Umweltschutzgesetzes. Dort haben die behandelnden Kommissionen beider RĂ€te die Kreislaufwirtschaft als Grundsatz festgeschrieben – und auch, dass AbfĂ€lle prinzipiell «stofflich verarbeitet» werden mĂŒssen. Also ist «Verbrennen» inskĂŒnftig der allerletzte Ausweg. Das Parlament will eine flĂ€chendeckende Sammlung von wiederverwertbaren AbfĂ€llen, vor allem von Plastik.

Letztlich anders heizen

Nicht die öffentliche Hand, etwa die Gemeinden oder die 29 «Abfallverwertungsanlagen» sollen diese Aufgabe ĂŒbernehmen, sondern Private, das ist der Stand der Beratungen. Das Parlament setzt damit, wie beim PET, auf das Prinzip der Eigenverantwortung der Branche und ebnet den Weg fĂŒr die bereits bestehenden privaten Sammlungen (unter anderem auch von Migros und Coop) und fĂŒr das Projekt «Sammlung 2025», das vom Verband «swissrecycling» lĂ€nger schon vorbereitet

wird. Es sieht vor, dass in Zukunft ein schweizweit koordiniertes Recyclingsystem fĂŒr Kunststoffverpackungen und GetrĂ€nkekartons eingefĂŒhrt wird, es soll ein «praxisorientiertes und breit abgestĂŒtztes System werden», wie Rahel Ostgen von «swissrecycling» sagt.

Damit holt die Abfallnation Schweiz ihren enormen RĂŒckstand auf das europĂ€ische Ausland etwas auf, zumindest bei den Verpackungen, also bei dem Plastik, der vor allem im Haushalt anfĂ€llt. Aber auch alle Metalle, Bauschutt, Holz, BioabfĂ€lle, alles muss nach den neuen Vorschriften, die in Arbeit sind, wieder «verwertet» werden, und zwar «stofflich». Und frĂŒher oder spĂ€ter mĂŒssen, wenn die Schweiz ihre Klimaziele erreichen will, ĂŒberhaupt alle IndustrieabfĂ€lle, Plastik oder nicht Plastik, aufbereitet werden.

Was heisst das fĂŒr die KVAs, die auf diese Abfallmengen angewiesen sind? Robin Quartier, GeschĂ€ftsfĂŒhrer des VBSA, bleibt gelassen. NatĂŒrlich, sagt er, sei insbesondere Plastik ein «sehr praktischer Abfall fĂŒr die KVAs, weil Plastik eben gut und relativ sauber brennt». Aber er vertraue darauf, dass es auch in Zukunft noch genug anderen Abfall geben werde, und sonst «muss man eben die eine oder andere Anlage abschalten».

Das sind Töne, die nicht von allen gerne gehört werden, vor allem nicht von den Kantonen, die ihre KVAs ĂŒber Jahre zu eigentlichen Kraftwerken ausgebaut haben, zu Lieferanten von Strom und vor allem: von FernwĂ€rme. Denn es ist unklar, wie diese FernwĂ€rmenetze betrieben werden sollen, wenn die Kreislaufwirtschaft in der Schweiz flĂ€chendeckend eingefĂŒhrt ist, wenn jede Kosmetikflasche, jeder Bodenlappen, jede Sitzgarnitur, jede Druckerpatrone wieder in den Kreislauf kommt, wenn sich also, wie vom Gesetzgeber gewĂŒnscht, das Volumen des Abfalls drastisch reduziert.

Vielleicht werden dann die FernwĂ€rmenetze nicht mehr mit Abfall geheizt (und mit Gas), sondern von grossen, leistungsfĂ€higen geothermischen Anlagen, wie heute schon in MĂŒnchen. Und in vielen anderen europĂ€ischen LĂ€ndern.

HintergrĂŒnde im Podcast: Radiojournalist Simon Berginz spricht mit Reporter Christoph Keller ĂŒber seine Recherche. surprise.ngo/talk

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Den Hunger erdulden: der kleine Hassan und seine Mutter Malyun im Spital von Borama, Somaliland.

Politik des Hungers

Somalia Am Horn von Afrika verhungern Hunderttausende. Offiziell handelt es sich trotzdem nicht um eine Hungersnot. Warum nicht?

«Der Hunger ist ein Kampf des Körpers gegen den Körper. Erst knurrt Ihr Magen, dann streikt er, er zieht sich zusammen, will nichts mehr zu sich nehmen. Das mag seltsam klingen, aber: Wer hungert, hat keinen Hunger mehr. Sie verlieren Ihre Zuckerreserven, spĂ€ter Ihr Fett. Sie magern ab. Ihr Immunsystem schwĂ€chelt, Viren attackieren Ihren Körper und lösen Durchfall aus. Sie verlieren grosse Mengen an Salz, Wasser und VerdauungssĂ€ften. Dann trocknen Sie langsam aus. Parasiten siedeln sich in Ihrem Mund an, Ihre Bronchien sind entzĂŒndet. Sie mĂŒssen husten und können kaum atmen. Sie röcheln. Sie bekommen Panik. Ein GefĂŒhl der Einsamkeit und Verlassenheit begleitet Ihren körperlichen Zerfall. Manchmal dauert es Tage, manchmal Wochen, bis der letzte Rest Ihrer Muskelmasse aufgebraucht ist. Ist es so weit, können Sie sich nicht mehr auf den Beinen halten oder mit Ihren HĂ€nden aufstĂŒtzen. Bald werden Sie sich ĂŒberhaupt nicht mehr rĂŒhren. Sie kauern sich zusammen, liegen reglos da. Ihre Haut legt sich in Falten, sie wird brĂŒchig und durchsichtig, bei jeder Bewegung könnte sie reissen wie ein dĂŒnnes Blatt Papier. Alles an Ihnen ist Schmerz. Ihr Wimmern wird zu einer Art Summen. Und dann sterben Sie.»

So in etwa hat mir der Arzt Ibrahim Liban den Hungertod beschrieben, in einem Kinderspital in Borama, einer Stadt im Norden von Somalia, am Krankenbett des kleinen Hassan. Zehn Tage war seine Mutter Malyun, eine Ziegenhirtin und Nomadin, zu Fuss unterwegs hierher, in der Hoffnung, Ibrahim Liban könne ihren Sohn noch retten. Doch der zuckt nur mit den Schultern. Hassan muss mit SchlÀuchen ernÀhrt werden, sein Atem geht schnell, die Augen sind leer. Er ist, wie alle Kinder hier, am Verhungern.

Eine Sache der Definition

Da ist er also wieder, der Hunger am Horn von Afrika. 1992 starben allein in Somalia 200 000 Menschen am Hunger und an UnterernĂ€hrung, 2011 war es gar eine Viertel Million, darunter 125 000 Kinder. In beiden FĂ€llen wurde von den Vereinten Nationen (UNO) die Hungersnot ausgerufen. Jetzt, 2023, befĂŒrchtet man noch mehr Tote; von 500 000 ist beim Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) die Rede, sollte die Internationale Gemeinschaft in den kommenden Wochen und Monaten nicht handeln und abermals offiziell von einer Hungersnot sprechen. Denn dann wĂŒrden Gelder und GĂŒter fliessen, Regierungen mĂŒssten reagieren und Hilfsorganisationen hĂ€tten mehr Spielraum. Was bisher aber nicht geschah.

Aber wieso nicht? Weil der Hunger immer auch – und vielleicht zuallererst – ein Politikum ist.

Dieses Politikum beginnt bereits bei der Definition von Hunger. GemĂ€ss der WelternĂ€hrungsorganisation (WHO) hungern erwachsene Personen, wenn sie – je nach Geschlecht, Alter, Klima und Schwere der Arbeit – weniger als 2200 Kilokalorien tĂ€glich zu sich nehmen, SĂ€uglinge, wenn sie nicht 700 Kilokalorien tĂ€glich bekommen und Kleinkinder bis zu zwei Jahren, wenn die Menge an tĂ€glichen Kilokalorien weniger als 1000 betrĂ€gt. Die internationale Hungerskala IPC unterscheidet fĂŒnf Schweregrade des Hungers, von «minimalem Hunger» (Stufe 1) ĂŒber «akuten Hunger» (Stufe 3) bis zur «Hungersnot» (Stufe 5). Letztere ist als Katastrophenlage charakterisiert, in der der Zugang zu Nahrungsmitteln und anderen GrundbedĂŒrfnissen völlig fehlt. Um eine Hungersnot auszurufen, mĂŒssen weitere Kriterien erfĂŒllt sein, wie: in einer bestimmten Region hat einer von fĂŒnf Haushalten keinen Zugang zu Nahrung; mehr als 30 Prozent der Kinder dieser Region unter fĂŒnf Jahren sind akut unterernĂ€hrt; im Zeitraum von 90 Tagen sterben tĂ€glich mindestens zwei von 10 000 Menschen an Hunger.

Allerdings haben diese Kriterien ihre TĂŒcken. So ergibt der Zeitraum von 90 Tagen zwar Sinn bei akuten Ereignissen: ein Erdbeben, eine Überschwemmung, eine Heuschreckenplage, TerroranschlĂ€ge – dann haben Abertausende von Menschen plötzlich keinen Zugang mehr zu Essen und Trinken, sie mĂŒssen die Flucht ergreifen. Die UNO geht davon aus, dass weltweit bis zu 50 Millionen Menschen jedes Jahr von derlei Ausnahmesituationen betroffen sind.

Doch was ist mit dem schleichenden Hunger? Kein plötzliches Drama hat ihn verursacht, keine akute Katastrophe, sondern, wie in Somalia, die Tatsache, dass die letzten fĂŒnf Regenzeiten ausgefallen sind und das Land allmĂ€hlich verdorrt oder dass die Terrormiliz al-Shabaab seit Jahren die Menschen bestiehlt, verfolgt und in Armut und Hunger treibt oder dass die eigene Regierung in Korruption versinkt. Wer deswegen hungern muss, hungert nicht akut, sondern chronisch.

Chronischer Hunger fĂŒhrt in fast allen FĂ€llen zu MangelernĂ€hrung. Die WHO schĂ€tzt, dass weltweit zwei Milliarden Menschen davon betroffen sind, allein in Somalia sind von den 17 Millionen Einwohner*innen derzeit 6,7 Millionen mangelernĂ€hrt. Sie haben nicht immer, aber manchmal zu essen, doch handelt es sich dabei hĂ€ufig – auch das ein Nebeneffekt des chronischen Hungers – nicht um ausreichend nĂ€hrstoffreiche Nahrung. Mangel- und FehlernĂ€hrung wird denn auch als «unsichtbarer Hunger» (Jean Ziegler) bezeichnet und fĂŒhrt bei Kindern sowie Erwachsenen nicht bloss zu Vitamin-, sondern auch zu Zink- und

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TEXT UND FOTO KLAUS PETRUS Borama SOMALIA

17 000 000

6 700 000

3 900 000

Jodmangel. Die Folgen lassen sich beziffern: Infolge der durch Vitamin-A-Mangel ausgelösten Krankheiten wie Malaria oder Röteln sterben gemĂ€ss WHO jedes Jahr 600 000 Kinder unter fĂŒnf Jahren; infolge schwerer Durchfallerkrankungen durch Zinkmangel sind es jĂ€hrlich 800 000; schliesslich kommen jedes Jahr 20 Millionen Kinder mit unterentwickelten Gehirnen auf die Welt, eine Folge des chronischen Jodmangels der MĂŒtter.

Auch fĂŒr Ibrahim Liban im Kinderspital in Borama ist dies eine der grossen, da nachhaltigen Folgen des Hungers: «Selbst wenn Hassan wieder gesund werden sollte – aus ihm wird kein Einstein, kein MinisterprĂ€sident, Ingenieur oder Lehrer; ein Taxifahrer vielleicht oder ein Viehhirte. Entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise, aber: In unserem Land kommen seit Generationen nur noch Idioten zur Welt. Wie soll das alles weitergehen?»

Weniger Zahlen, weniger Hunger?

Ein anderes Problem sind die Zahlen. Die UNO ruft nur dann eine Hungersnot aus, wenn die Faktenlage klar ist. Im Falle von Somalia ist sie das selten. So sucht man das Land auf dem Welthunger-Index von 2022 vergeblich. Die ersten drei PlĂ€tze werden vom Jemen, der Zentralafrikanischen Republik sowie Madagaskar belegt – und das, obschon Nichtregierungsorganisationen regelmĂ€ssig monieren, es deute alles darauf hin, dass Somalia bereits seit Jahren Platz 1 belegt. TatsĂ€chlich taucht das Land auf dem Index nur deswegen nicht auf, weil verlĂ€ssliche Zahlen zum Hunger fehlen.

Die am Horn von Afrika tÀtige deutsche Hilfsorganisation Welthungerhilfe (WHH) spricht von 7,1 Millionen von Hunger Betroffenen, 6,7 Millionen seien mangelernÀhrt, darunter 500 000

500 000

Kinder. Zudem hĂ€tten fast vier Millionen Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, und eine weitere Million Menschen – davon die meisten Viehhirten – sei infolge von DĂŒrre und Trockenheit zu BinnenflĂŒchtlingen geworden. Alexander Fenwick, WHH-Verantwortlicher fĂŒr Somalia, rĂ€umt allerdings ein, dass es sich hier um SchĂ€tzungen handelt, die seiner Ansicht nach zu tief angesetzt sind. «Der Grund besteht darin, dass wir zu den Gebieten, wo bereits Hungersnot herrscht, kaum oder ĂŒberhaupt keinen Zugang haben und auf die Angaben von Personen angewiesen sind, die aus diesen Regionen flĂŒchten mussten.»

Fenwick spricht unter anderem von den lĂ€ndlichen Regionen im SĂŒdwesten Somalias, die weitgehend von al-Shabaab kontrolliert werden. Seit dem Sturz des somalischen Diktators Mohammed Siad Barre im Jahr 1991 setzt die Miliz mit TerroranschlĂ€gen, EntfĂŒhrungen und Verfolgungen alles daran, am Horn von Afrika einen sogenannt Islamischen Staat zu errichten. Obschon sie in den vergangenen Jahren an Einfluss verloren hat, betrachtet sich al-Shabaab nach wie vor als Opposition zur somalischen Regierung. Insbesondere ist es der Terrorgruppe gelungen, die lĂ€ndlichen Gebiete zu besetzen und aus dem Hunger Profit zu schlagen. So machen sie sich die Not der Viehhirten zunutze und rekrutieren, offenbar sehr erfolgreich, aus den Reihen der hungernden Nomaden kĂŒnftige «Gotteskrieger». Auch setzen sie Hilfswerke unter Druck, indem sie ihnen die Arbeit in den Hungergebieten erschweren. Nicht wenige Organisationen sind gezwungen, mit al-Shabaab zu verhandeln; andere, wie das WelternĂ€hrungsprogramm (WFP) oder UNICEF wurden von al-Shabaab aus den Hungergebieten verwiesen. Was sich, wie gesagt, auf die Faktenlage niederschlĂ€gt; oder wie Fenwick sagt:

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Einwohner*innen in Somalia Menschen sind von Hunger bedroht Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Wasser davon Kinder
QUELLE: ZAHLEN FÜR 2022 VON WELT HUNGERHILFE, WWW.WELTHUNGERHILFE.DE/SPENDEN-SOMALILAND/DUERRE-SOMALIA
Somalia – ein ewiges Hungergebiet

«Eigentlich wissen wir alle, was in diesen Gebieten abgeht. Nur weil wir die Toten nicht zÀhlen können, heisst das nicht, dass es sie nicht gibt.»

Es ist nicht das erste Mal, dass Terror und Hunger sich begĂŒnstigen; man denke bloss an den Jemen, den SĂŒdsudan, an Afghanistan oder, weiter zurĂŒck, an den Holodomor, jene Hungerkrise in der Sowjetunion Anfang der 1930er-Jahre, die Stalin gezielt fĂŒr seinen Krieg gegen die Ukraine nutzte und die am Ende vier Millionen Ukrainer*innen das Leben kostete.

Angst vor Verlusten

Auch fĂŒr Regierungen ist der Hunger hĂ€ufig ein politisches KalkĂŒl. Der somalische PrĂ€sident Hassan Sheikh Mohamed, seit FrĂŒhjahr 2022 im Amt, sagte vor Kurzem: «Das Risiko bei der ErklĂ€rung einer Hungersnot ist sehr hoch. So eine ErklĂ€rung kann die Entwicklung im Land lahmlegen.» Auf den ersten Blick scheint diese Aussage kontraintuitiv. Die Erfahrung zeigt nĂ€mlich, dass mit einer ErklĂ€rung der Hungersnot nicht bloss die mediale Aufmerksamkeit steigt, sondern auch die internationalen Hilfsbudgets aufgestockt werden. Konkret rechnet die UNO fĂŒr den Fall, dass in Somalia die Hungersnot ausgerufen wĂŒrde, mit einer ersten Tranche von ĂŒber einer Milliarde US-Dollar.

Allerdings handelt es sich dabei und in Übereinstimmung mit der Definition der Hungersnot als «akute Katastrophenlage» um eine kurzfristige Nothilfe. An einer solchen scheint PrĂ€sident Mohamed nur wenig Interesse zu haben. Offenbar befĂŒrchtet er, dass Entwicklungsgelder – sollte die Hungerkrise lĂ€nger anhalten, was wahrscheinlich ist – von Langzeitprojekten

abgezwackt wĂŒrden; Gelder, welche die somalische Regierung bisher nutzt, um einen Beamtenstaat zu etablieren oder die Terrormiliz al-Shabaab in Schach zu halten. NGOs sehen noch ein anderes Motiv: WĂŒrde in Somalia schon wieder die Hungersnot ausgerufen, wĂŒrde dies selbst die letzten auslĂ€ndischen Investoren vertreiben. Auf deren Geld aber ist die somalische Regierung dringend angewiesen. Es erstaunt daher nicht, dass PrĂ€sident Mohamed noch vor Kurzem beteuerte, er sehe derzeit «kein unmittelbares Risiko fĂŒr eine Hungersnot».

Und dann sterben sie

Definitionen, Zahlen, Terroristen und Staatsleute – wer vom Hunger redet, redet irgendwann von etwas Abstraktem. Von etwas Unpersönlichem. Als sei der Hunger nicht der Hunger derer, die daran sterben. Dabei existiert Hunger, wenigstens medizinisch gesehen, niemals ausserhalb des Menschen, der an ihm zugrunde geht. Weshalb es eigentlich nie allein um den Hunger geht, sondern immer um den hungernden Menschen.

Ob jemand dort draussen eine Hungersnot ausruft, mag denen hier im Kinderspital von Borama im Nordwesten von Somalia egal sein, so möchte man meinen. Und doch: 2011, als in Somalia letztmals offiziell eine Hungersnot erklÀrt wurde, zÀhlte man am Ende 250 000 Hungertote; mehr als die HÀlfte starb vor der ErklÀrung. Damals hiess es, man habe zu lange gewartet.

Und dieses Mal?

FĂŒr Hassan ist es zu spĂ€t. Der kleine Junge von Malyun, der einmal Pilot werden wollte, ist inzwischen am Hunger verstorben.

16 600 000

Kinder unter fĂŒnf Jahren sind schwer akut unterernĂ€hrt

149 200 000

Kinder unter fĂŒnf Jahren sind zu klein fĂŒr ihr Alter (unterentwickelt)

Kinder – die Verwundbarsten in Zeiten des Hungers

45 400 000

Kinder unter fĂŒnf Jahren sind zu dĂŒnn fĂŒr ihr Alter (ausgezehrt)

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QUELLE: UNICEF, WWW.UNICEF.CH/DE/SO-HELFEN-SIE/PROGRAMME/HUNGERSNOT-OSTAFRIKA

Vertonung eines Lebens

Audiofestival «Sonohr» zei g t mit Tonex p erimenten, Klan gerfahrun gen und den HörstĂŒcken im nationalen Wettbewerb, wie vielfĂ€ltig Audioschaffen sein kann. Nominiert ist auch der Surprise-Podcast «Tito – vom Obdachlosen zum StadtfĂŒhrer».

Irgendwie muss man sich ja kategorisieren, und so nennt sich Sonohr fast bescheiden «Radio & Podcast Festival», obwohl es Audio aller Art vereinigt: Hier entstehen Hörerlebnisse auch live anlĂ€sslich von Performances, es gibt Soundwalks durch die Stadt, und der Glasgower KĂŒnstler Mark Vernon steigt in sein persönliches Archiv gefundener und gesammelter Tonbandkassetten. In einer audiovisuellen Performance wird eine magnetische FlĂŒssigkeit mittels Live-Electronica in Wallung gebracht, wĂ€hrend Tim Shaw auf einem Stadtspaziergang akustische und elektromagnetische Signale aus der Umgebung sammelt und sie auf die Funkkopfhörer des Publikums ĂŒbertrĂ€gt.

Dazu konkurrieren im nationalen Wettbewerb zwölf fiktionale und dokumentarische Audiowerke. «Das denkende Herz – nach den TagebĂŒchern von Etty Hillesum» etwa, ein HörstĂŒck aus elektronisch-musikalischen Textund Stimmlandschaften, die auf den TagebĂŒchern der 1943 in Auschwitz ermordeten Etty Hillesum basieren. Oder «ZĂŒriwasser», das den von den GewĂ€ssern des Kantons ZĂŒrich erzeugten Klanglandschaften folgt. Der Sechsteiler «La Gaythé» begegnet alternden LGBTQ+-Personen und erzĂ€hlt unter anderem von der 78-jĂ€hrigen Marie-Claire aus Genf, die ĂŒber ihre Kindheit, die Beziehung zu ihren Eltern und zur Religion spricht: Das Per-

sönliche wird zu einem GesellschaftsportrÀt und Zeitzeugnis. Weiter im Wettbewerb wird unser VerhÀltnis zu Fleisch zum Klangerlebnis und die Geschichte eines Herz-Kreislauf-Zusammenbruchs zur Audio-Doku.

Ebenfalls im Wettbewerb steht «Tito – vom Obdachlosen zum StadtfĂŒhrer», ein Auftragswerk von Surprise, das die Audioproduzenten This Wachter und Simon Meyer umgesetzt haben. Der FĂŒnfteiler zeichnet den Weg von Tersito «Tito» Ries nach, der fĂŒr den Verein Surprise seit 2021 Soziale StadtrundgĂ€nge macht. Als Guide zeigt er die Stadt Basel aus der Sicht eines zeitweilig AbgestĂŒrzten und erzĂ€hlt dabei aus seiner Biografie. Tito war in seiner Vergangenheit nicht nur obdachlos, sondern auch Unternehmer. Nachdem er seine zweite Firma aufgebaut hatte, ging er nach Neuseeland, um Englisch zu studieren, er machte das Höhere Wirtschaftsdiplom und zog Kinder gross. Er war aber auch GefĂ€ngnisinsasse aus GrĂŒnden, die er nicht detailliert ausfĂŒhren mag. AbwĂ€rts ging es, nachdem er mit seiner dritten Firma Konkurs ging, weil mehrere Kunden gleichzeitig zahlungsunfĂ€hig wurden. Heute ist er in einer Mehrfachrolle fĂŒr seine vor 25 Jahren an MS erkrankte Freundin: als Partner, Pfleger und «Case Manager» – wie er es selbst nennt – zugleich. Tito kennt die AbgrĂŒnde des Lebens, die Schwellen, ĂŒber die man

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TEXT DIANA FREI

stolpern kann, die Àusseren Weichenstellungen, die einen entgleisen lassen, ebenso wie die folgenreichen Fehler, die man selber im Leben machen kann.

Der ErzÀhler wird zum Schatten

Als er 2020 bei Surprise die Ausbildung zum StadtfĂŒhrer begann, sollte This Wachter ihn mit Mikrofon begleiten. Doch dann kam die Pandemie. «Wir hatten uns davor einmal kurz getroffen», sagt Tito, «und This meinte da schon, ich solle doch mal selbst ein bisschen etwas auf mein Handy aufnehmen.» Lebensgeschichte, Alltag, Gedanken, Erinnerungen. «Ich lachte erst mal und sagte: â€čZuerst musst du mir erklĂ€ren, was das heisst, Podcast.â€ș Das mag seltsam klingen, aber ich wusste nicht genau, was das ist. Wie man das macht, worauf es dabei ankommt – das war mir alles ĂŒberhaupt nicht klar.» Er sollte es schnell lernen, weil This Wachter aufgrund der Pandemie entschied: Tito sollte nicht nur ein bisschen etwas, sondern ziemlich viel selbst aufnehmen. Wachter sagt dazu: «Ich habe die Methode auch in anderen AudiostĂŒcken schon verwendet, um Momente einzufangen, zu denen ich selbst nicht Zugang habe. Aber dass jemand wirklich fast sein ganzes Leben erzĂ€hlt, das haben wir zum ersten Mal so gemacht.» Dreieinhalb Monate lang belieferte Tito den Audioproduzenten mit Tonaufnahmen, es wurden 17 Stunden daraus.

Tito gab seine Biografie – nach einem einzigen kurzen Treffen mit Wachter – damit in fremde HĂ€nde. «Das war fĂŒr mich ungewöhnlich. Als Unternehmer war ich es gewohnt, dass ich Einfluss nehmen kann und derjenige bin, der erstmal eine Idee haben und sie umsetzen musste. Ich empfand es aber als entlastend.» Und noch ein anderer Aspekt kam dazu: «Es ging mir 25 Jahre lang mies, aber ich habe immer versucht, dabei zu lachen und habe es mit

1 Tim Shaw, «Ambulation»: Aus UmgebungsgerÀuschen entsteht eine Performance.

2 Mark Vernon, KĂŒnstler aus Glasgow, bei der Arbeit.

3 Stationen einer Lebensgeschichte: Tito Ries auf der Probetour des Sozialen Stadtrundgangs.

viel Humor ĂŒberspielt. Und dann kommt plötzlich ein Moment, in dem endlich mal jemand zuhört, was denn hier gelaufen ist und was vielleicht dazu gefĂŒhrt hat, dass ich so abgestĂŒrzt bin.» FĂŒr den Audiomacher ist es eine spezielle Verantwortung, mit dem Leben eines anderen Menschen umzugehen. Es stellen sich ethische Fragen. «Man muss sehr bewusst entscheiden: Was will ich von dieser Person veröffentlichen? Muss man jemanden auch ein StĂŒck weit vor sich selbst schĂŒtzen? Weiss er oder sie, wozu sie wirklich bereit ist? Wem gehört eigentlich die Geschichte?», sagt Wachter. Und auch die eigene Rolle muss reflektiert werden. «Ich habe entschieden, dass es mich als ErzĂ€hler nicht braucht. Auch das habe ich noch nie gemacht. Ich bin eher Titos Schatten, und mit der Zeit werde ich auch zu einem GegenĂŒber. Manchmal hört man, dass ich anwesend bin, dass er zu mir redet oder auch ĂŒber mich redet. Ich als ErzĂ€hler komme aber erst in der allerletzten Episode vor.»

SpĂ€t kamen im Produktionsprozess auch die Ortstermine dazu. So fĂŒgen sich die unterschiedlichsten ErzĂ€hlebenen, Audioelemente, Tonsituationen zusammen und verbinden sich mit Cellomusik. Wachter beschreibt seine Arbeit als «Kunsthandwerk»: ein journalistischer Ansatz mit kĂŒnstlerischer Komponente. Etwa, indem das Cello keine Melodie spielt, sondern KlĂ€nge produziert, die die BrĂŒche und Wendungen in der Biografie hörbar machen.

«Sonohr – Radio und Podcast Festival», 24. bis 26. Februar, Hauptspielort Kino Rex, Schwanengasse 9, Bern. Keine Tageskasse am Veranstaltungsort, Ticketbestellung online oder Tel. 0900 441 441 und TicketinoVorverkaufsstellen (z. B. Post-Filialen, BLS-Reisezentrum). www.sonohr.ch

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BILD(1): JONATHAN TURNER BILD(2): ZVG, BILD(3): ZVG
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Veranstaltungen

Winterthur

«Adji Dieye – Aphasia», Ausstellung, Sa, 25. Feb. bis Mo, 29. Mai, Di bis So, 11 bis 18 Uhr, Fotomuseum Winterthur, GrĂŒzenstrasse 44+45. fotomuseum.ch

entwickelt werden. Das Projekt wird vom Bundesamt fĂŒr Kommunikation unterstĂŒtzt. Als Hassbild gilt jede visuelle Darstellung, die diskriminierend oder verletzend wirkt, zu Gewalt aufruft oder sie verherrlicht. DIF

St. Gallen

«Gina Proenza – Moving Jealousy», Ausstellung bis 19. MĂ€rz, Di bis Fr, 12 bis 18 Uhr, Sa/So 11 bis 17 Uhr, Kunst Halle Sankt Gallen, Davidstrasse 40. k9000.ch

wurden daraufhin von den AutoritĂ€ten in einer verbalen Anklage von den Äckern verwiesen. Ob sie dieser Forderung nachkamen, bleibt zu bezweifeln, es handelte sich jedoch um eine Standardprozedur der öffentlichen Hand. Proenza fragt sich und uns: Bleiben diese Abfolgen nur AbsurditĂ€ten aus der Vergangenheit? Wie werden wir heute von ihnen bestimmt? Wie verstĂ€ndigen wir uns? Verstehen wir uns ĂŒberhaupt? Der Umgang mit dem Weisswurm stösst uns letzten Endes auf universelle Fragen der Mehrdeutigkeit von Dingen. DIF

Die italienisch-senegalesische KĂŒnstlerin Adji Dieye (*1991), die in ZĂŒrich und Dakar wohnt, beschĂ€ftigt sich in ihrer Arbeit mit den Themen Postkolonialismus und Nationalstaatenbildung. Dabei untersucht sie aus einer afrodiasporischen Perspektive, welche Rolle Sprache und der urbane Raum in der Geschichtsschreibung spielen. Der Verlust von Sprache ist Kern der Videoinstallation «Aphasia». Der Begriff Aphasie steht fĂŒr eine kognitive Störung des Sprachvermögens oder Sprachverstehens. Dieye eignet ihn sich ĂŒber eine Sprachperformance an öffentlichen Orten in Dakar an und ĂŒbertrĂ€gt ihn in einen kulturellen Kontext. In gebrochenem Französisch liest sie aus einem Manuskript: Es sind Reden, mit denen sich PrĂ€sidenten des Senegal seit der UnabhĂ€ngigkeit des Landes 1960 in französischer Sprache an die Bevölkerung gewandt haben. In der von der frĂŒheren Kolonialmacht eingefĂŒhrten Sprache also, die nur ein Teil der Bevölkerung in ihrer institutionellen Form tatsĂ€chlich versteht. DIF

ZĂŒrich

«Blinde Flecken – ZĂŒrich und der Kolonialismus», Ausstellung, bis Sa, 15. Juli, Mo bis Fr, 8 bis 18 Uhr, Sa, 9 bis 12 Uhr, Eintritt frei, Stadthaus ZĂŒrich. stadt-zuerich.ch/kultur/de/ index/institutionen/ ausstellungen_stadthaus/ Kolonialismus.html

Was hat ZĂŒrich mit Kolonialismus zu tun? Das mögen sich noch immer so manche fragen, und die Antwort ist: genug, um zum Thema eine vielfĂ€ltige Ausstellung mit reichhaltigem Rahmenprogramm zu konzipieren. Die Ausstellung (und ausdrĂŒcklich auch die Stadt ZĂŒrich) will ein grösseres Bewusstsein fĂŒr die historischen Verflechtungen schaffen und aufzeigen, dass der Kolonialismus in ZĂŒrich bis heute nachwirkt. Kuratiert von den Historiker*innen Manda Beck und Andreas Zangger zusammen mit der Antirassismus-Expertin Anja Glover; mit FĂŒhrungen, Podiumsdiskussionen, Filmen, StadtrundgĂ€ngen und Workshops, in Zusammenarbeit mit Museen, TheaterhĂ€usern und Bildungsinstitutionen. Programm online. DIF

Online

«Ein Bild verletzt mehr als 1000 Worte», Forschungsprojekt, bis So, 5. MÀrz, online. hassbilder-verletzen.ch

Hassbilder zirkulieren in sozialen Netzwerken wie Instagram, Facebook oder Youtube, auf Webseiten und Messengerdiensten wie Telegram und WhatsApp. Als Memes, Fotos oder Karikaturen wecken sie die Aufmerksamkeit, sind meist leicht verstĂ€ndlich und bleiben in Erinnerung. Ein Forschungsprojekt an der Fachhochschule GraubĂŒnden und der UniversitĂ© de Fribourg hat nun zum Ziel, das Ausmass und die Merkmale von visuellen Hassbotschaften zu identifizieren und ist auf die Beteiligung möglichst vieler Datenspender*innen angewiesen: Bis zum 5. MĂ€rz können auf der Website hassbilder-verletzen.ch Beispiele hochgeladen werden. Erforscht wird etwa, welche Personengruppen besonders hĂ€ufig Gegenstand von Hassbildern sind oder auf welchen Plattformen und KommunikationskanĂ€len sie verbreitet werden. Aus den Erkenntnissen sollen dann Massnahmen gegen Hassbilder

Die Arbeiten der franko-kolumbianischen KĂŒnstlerin Gina Proenza (*1994) erzĂ€hlen Geschichten von tropischen Schlingpflanzen und den abgelegenen Dörfern Mittelamerikas, sie verbinden Poetisches mit Skulpturalem und rĂŒcken nun in St. Gallen das Schicksal des Schweizer Weisswurms aus der frĂŒhen Neuzeit ins Zentrum. Ausgangspunkt der Ausstellung sind Überlieferungen aus Archiven der Kantone Freiburg und Luzern aus dem 15. Jahrhundert, in denen einer Wurm-Spezies die Schuld fĂŒr einen breitflĂ€chigen Ernteausfall zugewiesen wurde. Die SchĂ€dlinge

Neue HorizoNte 28.1. – 7.5.2023

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BILD(1): ADJI
DIEYE, BILD(2): GINA PROENZA, JALOUSIE MODERNE, 2021, ART AU CENTRE GENÈVE. PHOTO: FRANK MARTIN
MirÓ
Jo an M iró Frau vor de r S onne (Detail), 1974, Acryl auf Leinwand, 258,5 x 194 cm, Fundació Joan Miró, Barcelona, Foto: FotoGasull © Successió Miró / 2023, ProLitteris, Zurich 230110_ZPK_Miro_Ins_Surprise_90x1185mm.indd 1 10.01.23 13:55
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Pörtner in Thun

Surprise-Standorte: HB/VM BĂ€lliz

Einwohner*innen: 43 630

Sozialhilfequote in Prozent: 4,3

Anteil auslÀndische Bevölkerung in Prozent: 14,6

Thuner Hausberg: Niesen, zu dessen Gipfel auf 2362 Metern ĂŒber Meer die mit ĂŒber 11 600 Stufen lĂ€ngste Treppe der Welt fĂŒhrt

Nicht Richtung Stadtzentrum und Schiffstation, sondern in die Gegenrichtung fĂŒhrt der Weg auf den Bahnhofsplatz, der von einem wuchtigen, geschwungenen GebĂ€ude dominiert wird, daneben WarenhĂ€user und Einkaufspassagen, es findet sich eine Filiale der als Meme Stock bekannt gewordenen Firma Game Stop. In Thun befindet man sich bereits im touristischen Berner Oberland, es locken stattliche, mit Schnörkeln verzierte Hotels am Ufer der Aare, eines heisst passend «Beau Rivage». Ein Teil des hier schon ordentlich breiten Flusses ist durch eine Schleuse abgetrennt, ĂŒber die eine HolzbrĂŒcke fĂŒhrt, darunter sprudelt wild das Wasser. Ein Schild weist darauf hin, dass das Befahren der Aare auf diesem Abschnitt verboten ist, ausser fĂŒr die Kanuten.

Die von FussgĂ€nger*innen und Velos benutzbare Flusspromenade ist mit der Aufforderung «Luege, lose, lĂ€chle» versehen. Es wirkt denn auch freundlich, dieses Thun. «Thun ist schön, nur nichts tun ist schöner», so liest man auf einem Plakat. Offenbar wollen die Leute hier das Schöne und das Schönere, denn fĂŒr Schweizer VerhĂ€ltnisse sind ungewöhnlich viele Menschen zu sehen, die irgendwo herumstehen oder ­sitzen und nichts tun. Vielleicht sind sie auch vom Fremdenverkehrsamt angestellt, um die Tourist*innen zu entschleunigen, nicht, dass diese noch ein schlechtes Gewissen bekommen wegen ihres Nichtstuns.

International ist die hinter dem Fluss gelegene Altstadt allemal, es gibt eine kanadische Bar, das Rössli beherbergt ein Thai­, die Krone ein Chinarestaurant.

Aufgeben musste hingegen der Trauring­Shop. Auch auf dem Weg zum Lauitor flattern Wimpel verschiedenster LĂ€nder im Wind ĂŒber dem Garten eines kleinen GebĂ€udes, in dem eine Malerstaffelei zu sehen ist.

Dass nicht jeder kreative Umgang mit Farbe Freude bereitet, ist an einem Zettel abzulesen, auf dem beklagt wird, dass Schmierereien auf der Fassade bereits einen Schaden von 486 Franken angerichtet hĂ€tten. Bei der Kirche gibt es eine Schlossbergschule mit einem PanoramabĂ€nklein davor, das mit bunten FĂ€hnchen abgesperrt ist. Da es gegen eine Hauswand ausgerichtet ist, ist das zu verkraften. Neben der Kirche steht ein Unterweisungshaus, wer oder was darin unterwiesen wird, ist auf den ersten Blick nicht erkennbar. Oben thront das viertĂŒrmige Schloss, in dem ein Hotel untergebracht ist. Auch ein Museum gibt es, das jedoch nur sonntags von 13.00 bis 16.00 Uhr geöffnet ist.

Das Panorama lĂ€sst sich auch ohne Bank bewundern, das markante Stockhorn sticht heraus, unten wuselt die Stadt. Um wieder dorthin zu kommen, kann das Treppenhaus des Parkhauses benutzt werden, das mit dem «European Gold Standard Parking Award Off Street» ausgezeichnet worden. Es sind 124 Stufen zu bewĂ€ltigen, in dem BetongemĂ€uer ist Vogelgezwitscher zu hören. Der Ausgang befindet sich beim grossen Spital Thun. GegenĂŒber gibt es gleich zwei Bestattungsunternehmen.

Auf dem Weg zurĂŒck zum Bahnhof passiert man Bistro und Shop des fĂŒr seine Meringue bekannten und letztes Jahr von schweren Unwettern heimgesuchten Hotels Kemmeriboden in Schangnau. Das Bistro ist voll. Am Bahnhof selbst kann man den Hunger mit einem Cheese Kebap stillen. Dieser symbolisiert sowohl die FusionskĂŒche als auch eine gelungene Integration.

Der ZĂŒrcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzĂ€hlt, wie es dort so ist.

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Tour de Suisse STEPHAN PÖRTNER

Die 25 positiven Firmen

Unsere Vision ist eine solidarische und vielfĂ€ltige Gesellscha . Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung.

Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstĂŒtzen Sie Menschen in prekĂ€ren Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die EigenstĂ€ndigkeit.

Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fÀllt jenes Unternehmen heraus, das am lÀngsten dabei ist.

AnyWeb AG, ZĂŒrich

Cobra Software AG www.cobrasw.ch

Praxis Dietke Becker

Beat Vogel – Fundraising-Datenbanken, ZĂŒrich

InhouseControl AG, Ettingen

Arbeitssicherheit Zehnder, ZĂŒrich

Beat HĂŒbscher, Schreiner, ZĂŒrich

Yogaloft GmbH, Rapperswil SG

unterwegs GmbH, Aarau

FĂ€h & Stalder GmbH, Muttenz

BĂŒro Dudler, Raum- & Verkehrsplanung, Biel

Tochter auf Zeit. Winterthur

Barth Real AG, ZĂŒrich

ïŹ‚owscope. B. & D. Steiner-Staub

Lebensraum Interlaken. Coaching & Therapie

Infopower GmbH, ZĂŒrich

GemeinnĂŒtzige Frauen Aarau

Be Shaping the Future AG

Hofstetter Holding AG, Bern

Fontarocca Natursteine, Liestal

Madlen Blösch, Geld & so, Basel

iris-schaad.ch Qigong in Goldau

Automation Partner AG, Rheinau

FairSilk social enterprise www.fairsilk.ch

Maya-Recordings, Oberstammheim

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden?

Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei.

Spendenkonto:

IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Surprise, 4051 Basel

Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewĂŒnschter Namenseintrag

Sie erhalten von uns eine BestÀtigung.

Kontakt: Caroline Walpen

Team Marketing, Fundraising & Kommunikation

GEMEINSAM SCHAFFEN WIR CHANCEN

Nicht alle haben die gleichen Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt. Aus diesem Grund bietet Surprise individuell ausgestaltete Teilzeitstellen in Basel, Bern und ZĂŒrich an – sogenannte ChancenarbeitsplĂ€tze.

Aktuell beschÀ igt Surprise acht Menschen mit erschwertem Zugang zum Arbeitsmarkt in einem Chancenarbeitsplatz. Dabei entwickeln sie ihre persönlichen und sozialen Ressourcen weiter und erproben neue beru iche FÀhigkeiten. Von unseren Sozialarbeiter*innen werden sie stets eng begleitet. So erarbeiteten sich die Chancenarbeitsplatz-Mitarbeiter*innen neue Perspektiven und eine stabile Lebensgrundlage.

Eine von ihnen ist Marzeyeh Jafari

«Vor wenigen Jahren bin ich als FlĂŒchtling in der Schweiz angekommen –und wusste zunĂ€chst nicht wohin. Ich hatte nichts und kannte niemanden.

Im Asylzentrum in Basel hörte ich zum ersten Mal von Surprise. Als ich erfuhr, dass Surprise eine neue Chancenarbeitsplatz-Mitarbeiterin sucht, bewarb ich mich sofort. Heute arbeite ich Teilzeit in der He ausgabe – jetzt kann ich mir in der Schweiz eine neue beru iche Zukun au auen.»

Scha en Sie echte Chancen und unterstĂŒtzen Sie das unabhĂ€ngige Förderprogramm «Chancenarbeitsplatz» mit einer Spende.

Mit einer Spende von 5000 Franken stellen Sie die Sozial- und Fachbegleitung einer Person fĂŒr ein Jahr lang sicher.

UnterstĂŒtzungsmöglichkeiten:

1 Jahr CHF 5000.–

Âœ Jahr CHF 2500.–Œ Jahr CHF 1250.–

1 Monat CHF 420.–Oder mit einem Betrag Ihrer Wahl.

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Vermerk: Chance

Oder Einzahlungsschein bestellen: +41 61 564 90 90

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#541: Haben Sie Vorurteile?

«Zum Nachdenken angeregt»

Was fĂŒr ein grossartiger Text von Klaus Petrus zum Thema Vorurteile! Er hat mich zum Nachdenken angeregt. Obwohl ich selbst sehr «allergisch» gegenĂŒber Vorurteilen bin, muss ich wohl einsehen, dass wir Menschen letztlich halt doch nur Affen mit Vorurteilen sind. Was ich mich frage: Die gegenwĂ€rtige Woke-Debatte dreht sich um Minderheiten und dass sie in unsere Gesellschaft integriert werden sollen (was in meinen Augen richtig ist). Aber geht es da letztlich nicht auch um Vorurteile, wenn wir diese Minderheiten in ihrer IdentitĂ€t immer als Gruppe definieren und zu wenig den Einzelnen sehen, wie Herr Petrus in seinem Artikel das fordert?

ERIC BOUVET, Bern

«Wenn die halbe Welt im Bus sitzt»

Ich danke Ihnen ganz herzlich, dass Sie dieses schwierige Thema so offen angehen. Und dann diese sprechenden Fotos! Seit einiger Zeit nehme ich das in mir wahr, z.B. im Bus, wenn die halbe Welt im Bus sitzt, und ich will das nicht, aber es ist da in mir. Ganz anders erlebe ich mich, wenn ich die Leute kenne, dann ist das nicht da. Und wir sind doch alles Geschöpfe desselben Schöpfers, er wertet nicht!

Also: Danke und weiter so.

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Verantwortlich fĂŒr diese Ausgabe: Diana Frei (dif)

Sara Winter Sayilir (win), Klaus Petrus (kp)

Reporterin: Lea Stuber (lea)

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«Spannend wie immer»

Heute in Bern das «Surprise» gekauft und im Zug nach Hause gelesen. Spannend wie immer! Danke vielmals fĂŒr die Reportagen und Berichte!

VRENI WITTWER, Sumiswald

StÀndige Mitarbeit

Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Christina Baeriswyl, Dina HungerbĂŒhler, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer

Mitarbeitende dieser Ausgabe

Liam Geraghty, Melanie Grauer, Christoph Keller, Karin Pacozzi, Annalisa Rompietti

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. FĂŒr unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.

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#542: Vor Gericht

«Ausschliesslich MÀnner?»

Im erwĂ€hnten Beitrag ist von JĂŒd*innen die Rede. MĂŒsste es nicht JĂŒdinnen und Juden heissen? Sonst machen Sie aus mĂ€nnlichen Juden «JĂŒden». Im zweitletzten Abschnitt, erste Zeile, werden Richter erwĂ€hnt. Ich muss also davon ausgehen, dass es ausschliesslich MĂ€nner sind. Vielleicht haben Sie recht, ich weiss es nicht, es ist nur ziemlich erstaunlich. Was ich aber ganz sicher weiss: Es sind auch europĂ€ische JĂŒdinnen im Holocaust vernichtet worden, nicht nur Juden.

Anm. d. Red.:

Wir bitten um Entschuldigung: NatĂŒrlich muss es auch zu Textschluss JĂŒd*innen heissen. Die Schreibweise JĂŒd*innen wird durchaus auch von jĂŒdischen Einrichtungen als Gendervariante gewĂ€hlt (bspw. Deutsches JĂŒdisches Museum Berlin). Die britischen Richter waren unseres Wissens nur MĂ€nner.

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Surprise 544/23 29 Wir alle sind Surprise
HANS CURTI, Solothurn

«Meine Kinder sollen es besser haben»

«Ich verkaufe die englische Strassenzeitung The Big Issue nun schon seit zehn Jahren. Es waren Verwandte von mir, die mich auf die Idee brachten. Sie verkauften das Heft ebenfalls und erzĂ€hlten mir, wie das Ganze funktioniert und dass man mit dem Verkauf obdachlose Menschen unterstĂŒtzen kann. Und so kam es, dass ich ab und zu meine Verwandten zur Zentrale von Big Issue begleitete. Die Frau, die dort arbeitete, war sehr nett, und eines Tages fragte sie mich: â€čMöchtest du ebenfalls VerkĂ€uferin werden?â€ș Ich sagte sofort: â€čJa, das wĂ€re toll!â€ș Schon bald merkte ich, dass mir das alles sehr guttat: Die Leute auf der Strasse waren freundlich zu mir, ich begann, Kontakte zu knĂŒpfen – und meine Arbeit zu geniessen.

Der Verkauf von Big Issue kommt mir sehr entgegen: Ich habe sechs Kinder, und da brauche ich keinen Chef, der mich herumschubst oder sagt: â€čDu musst arbeiten, auch wenn dein Kind krank ist.â€ș Ich kann an meinen Standplatz gehen, wann immer ich möchte, und ich kann aufhören, wann immer ich will. Diese FlexibilitĂ€t ist sehr praktisch. Noch wichtiger ist, dass mir dieser Job Spass macht. Ich verkaufe das Heft schon seit fĂŒnf Jahren immer an demselben Platz, nĂ€mlich vor dem Lebensmittelladen bei der UniversitĂ€t von Warwick in Coventry, das liegt etwas östlich von Birmingham. Hier fĂŒhle ich mich wie zuhause. Alle mögen mich, die Mitarbeiter*innen und Studierenden der UniversitĂ€t sind freundlich und zuvorkommend. Und die Kund*innen? Ich sage nur so viel: Wenn ich nicht aufpasse, werde ich noch richtig dick! Denn sie wissen genau, was ich gerne trinke. Sie rufen mir zu: â€čFĂŒr dich ein Ingwer Latte, Bianca?â€ș Das ist eine Tasse Milch mit Ingwer, Zimt und Honig. Und natĂŒrlich sage ich dann: â€čJa, gerne!â€ș

Ich konnte hier wirklich gute Freundschaften schliessen, die auch von Dauer sind. Einige meiner Kund*innen haben lÀngst ihren Uniabschluss gemacht und rufen mich trotzdem immer wieder mal an. So wurden aus Kund*innen Freund*innen, einige von ihnen sind sogar Teil der Familie geworden.

Wie ich schon sagte, ich habe sechs Kinder, die mich stĂ€ndig auf Trab halten. Ich wĂŒnsche mir, dass sie zur Schule gehen und sich weiterbilden können, am liebsten an einer UniversitĂ€t. Ich selbst hatte dazu nie die Möglichkeit. Das war aufgrund der UmstĂ€nde nicht zu Ă€ndern, das Leben in RumĂ€nien war hart; mehr möchte ich nicht dazu sagen. Meine Kinder sollen es einmal besser haben, das ist mir wichtig. NatĂŒrlich, am Ende liegt es an ihnen, was sie mit ihrem Leben anstellen wollen. Solange sie bereit sind, zu lernen und hart zu arbeiten, haben sie alle Voraussetzungen, die es fĂŒr ein gutes Leben braucht.

Sonntags gehe ich gerne mit meinen Kindern zu McDonald’s –auch wenn das fĂŒr mich eine Strafe ist, da ich derzeit auf DiĂ€t bin und nur GrĂŒnzeugs essen darf. Ich liebe Weihnachten, weil wir dann unser traditionelles Essen aus RumĂ€nien zubereiten. Ich mache Gerichte wie Sarmale – Kohlrouladen –, was köstlich

ist. Viele meiner Kund*innen kennen rumÀnische Speisen nicht, und so bringe ich ihnen etwas mit und meistens schmeckt es ihnen auch.

Im Moment sind die Zeiten hart. Die Preise steigen, alles wird teurer. Doch was kann man machen? Wir mĂŒssen es nehmen, wie es kommt. Umso wichtiger ist mir, dass die Leute merken, dass Big Issue nicht bloss eine Zeitung ist, sondern auch eine Möglichkeit, um Menschen zu helfen, die es schwer haben. Je mehr Leute die Zeitung kaufen und lesen, desto grösser ist diese UnterstĂŒtzung. Deshalb ist es mir ein Anliegen, all jenen zu danken, die bei mir die Strassenzeitung kaufen: fĂŒr ihre Freundschaft und dafĂŒr, dass sie da sind, wenn ich sie brauche –und dass sie mit mir einen Schwatz halten, wenn ich mĂŒde bin, gelangweilt oder niedergeschlagen. Diese Freundschaft ist fĂŒr mich mehr wert als alles andere.

Aufgezeichnet von LIAM GERAGHTY

Übersetzt von KLAUS PETRUS

Mit freundlicher Genehmigung von THE BIG ISSUE UK / INTERNATIONAL NETWORK OF STREET PAPERS

30 Surprise 544/23
Internationales VerkÀufer*innen-PortrÀt
FOTO: EXPOSURE PHOTO AGENCY
Bianca, 28, verkauft The Big Issue UK in Warwick. Sie stammt ursprĂŒnglich aus RumĂ€nien und mag Ingwer-Milch und Kohlrouladen.

TITO

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Episode 1

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Episode 2

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Episode 4

KOMPLIMENT

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PREMIERE

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GESUCHT: DER FAN-SCHAL FÜR DIE NATI 2023!

Surprise nimmt im Sommer 2023 mit zwei Strassenfussball-Nationalteams am Homeless World Cup in Kalifornien teil – mit Ihrem Schal im GepĂ€ck? Wie in den Jahren zuvor ĂŒberreichen unsere Spieler*innen zum Handshake handgemachte Fanschals an die gegnerischen Teams. Machen Sie mit!

Der Schal sollte zirka 16 cm breit und 140 cm lang sein, Fransen haben und in Rot und Weiss gehalten sein. Gestrickt, gehÀkelt, genÀht: alles geht!

Bitte schicken Sie den Schal bis spÀtestens 4. Juni 2023 an:

CafĂ© Surprise – eine Tasse SolidaritĂ€t Zwei bezahlen, eine spendieren.

BETEILIGTE CAFÉS

IN AARAU Rest. SchĂŒtzenhaus, Aarenaustr. 1 | Rest. Sevilla, Kirchgasse 4 IN ALSTÄTTEN SG Zwischennutzung GĂ€rtnerei, Schöntalstr. 5a IN ARLESHEIM CafĂ© Einzigartig, Ermittagestrasse 2 IN BACHENBÜLACH Kafi Linde, Bachstr. 10 IN BAAR Elefant, Dorfstr. 1 IN BASEL BĂ€ckerei KULT, Riehentorstr. 18 & ElsĂ€sserstr. 43 | BackwarenOutlet, GĂŒterstr. 120 | Bioladen Feigenbaum, Wielandplatz 8 | Bohemia, Dornacherstr. 255 | Elisabethen, Elisabethenstr. 14 KLARA, Clarastr. 13 | Flore, Klybeckstr. 5 | frĂŒhling, Klybeckstr. 69 | Haltestelle, Gempenstr. 5 | FAZ Gundeli, Dornacherstr. 192 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreff KleinhĂŒningen, KleinhĂŒningerstr. 205 | Quartiertreff Lola, Lothringerstr. 63 | Les Gareçons to go, Bad. Bahnhof | L’Ultimo Bacio Gundeli, GĂŒterstr. 199 | Didi Offensiv, Erasmusplatz 12 | CafĂ© Spalentor, Missionsstr. 1a | HausBAR Markthalle, Steinentorberg 20 | Shöp, GĂ€rtnerstr. 46 Tellplatz 3, Tellplatz 3 | Treffpunkt Breite, ZĂŒrcherstr. 149 | Wirth’s Huus, Colmarerstr. 10 IN BERN Äss-Bar, LĂ€nggassstr. 26 & Marktgasse 19 | Burgunderbar, Speichergasse 15 | Generationenhaus, Bahnhofplatz 2 | Hallers brasserie, Hallerstr. 33 | CafĂ© Kairo, Dammweg 43 | MARTA, Kramgasse 8 | MondiaL, Eymattstr. 2b Tscharni, Waldmannstr. 17a | Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 | LoLa, Lorrainestr. 23 | Luna Llena, Scheibenstr. 39 | Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17

DreigĂ€nger, Waldeggstr. 27 | Löscher, Viktoriastr. 70 | Sous le Pont, NeubrĂŒckstr. 8 | Rösterei, GĂŒterstr. 6 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5

DOCK8, Holligerhof 8 | CafĂ© Paulus, Freiestr. 20 | Becanto, Bethlehemstrasse 183 | Phil’s Coffee to go, Standstr. 34 IN BIEL Äss-Bar, Rue du MarchĂ© 27

Inizio, Freiestrasse 2 | Treffpunkt Perron bleu, Florastrasse 32 IN BURGDORF Bohnenrad, Bahnhofplatz & Kronenplatz | Specht, Hofstatt 5 IN CHUR CafĂ© Arcas, Ob. Gasse 17 | Calanda, Grabenstr. 19 | CafĂ© Caluori, Postgasse 2 | Gansplatz, Goldgasse 22 | Giacometti, Giacomettistr. 32 | Kaffee Klatsch, GĂ€uggelistr. 1 | LoĂ«, Loestr. 161 | Merz, Bahnhofstr. 22 | Punctum ApĂ©robar, Rabengasse 6 | RĂ€tushof, Bahnhofstr. 14 | Sushi Restaurant Nayan, Rabengasse 7 CafĂ© Zschaler, Ob. Gasse 31 IN DIETIKON Mis Kaffi, Bremgartnerstr. 3a IN FRAUENFELD Be You CafĂ©, Lindenstr. 8 IN LENZBURG Chlistadt Kafi, Aavorstadt 40 | feines Kleines, Rathausgasse 18 IN LIESTAL Bistro im Jurtensommer, Rheinstr. 20b IN LUZERN Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 Meyer Kulturbeiz & MairĂŒbe, Bundesplatz 3 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Markt WĂ€rchbrogg, Alpenquai 4 & Baselstr. 66 | Rest. WĂ€rchbrogg, Alpenquai 4 Bistro WĂ€rchbrogg, Sempacherstr. 10 | Pastarazzi, Hirschengraben 13 | Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 | Sommerbad VoliĂšre, Inseli Park | Rest. BrĂŒnig, Industriestr. 3 | Arlecchino, Habsburgerstr. 23 IN MÜNCHENSTEIN BĂŒcher- und Musikbörse, Emil-Frey-Str. 159 IN NIEDERDORF MĂ€rtkaffi am FritigmĂ€rt IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestr. 47 IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 IN STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 IN ST. GALLEN S’Kafi, Langgasse 11 IN UEKEN Marco’s Dorfladen, Hauptstr. 26 IN WIL Caritas Markt, Ob. Bahnhofstr. 27 IN WINTERTHUR Bistro Dimensione, Neustadtgasse 25 | Bistro Sein, Industriestr. 1 IN ZUG BauhĂŒtte, Kirchenstrasse 9 | Podium 41, Chamerstr. 41 IN ZÜRICH CafĂ© Noir, Neugasse 33 | CafĂ© ZĂ€hringer, ZĂ€hringerplatz 11 | Cevi ZĂŒrich, Sihlstr. 33 | das GLEIS, Zollstr. 121 | GZ Bachwiesen, Bachwiesenstr. 40 | Kiosk Sihlhölzlipark, Manessestrasse 51 | Quartiertr. Enge, Gablerstr. 20 | Quartierzentr. SchĂŒtze, Heinrichstr. 238 | TĂ€glichbrot, Friesenbergplatz 5 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 | jenseits im Viadukt, Viaduktstr. 65 | Freud, Schaffhauserstr. 118 | Kumo6, Bucheggplatz 4a | Sport Bar Cafeteria, Kanzleistr. 76 | Zum guten Heinrich Bistro, Birmensdorferstr. 431

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