WAR SCHÖN. KANN WEG … Alter(n) in der Darstellenden Kunst

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Von einer, die auszog, sich neu zu erfinden

Helena Waldmann

Von einer, die auszog, sich neu zu erfinden Weil es in diesem Buch bisher nun so oft um die Vergangenheit ging, stelle ich mir hier einmal vor, wie Zukunft aussieht. In Actionfilmen und ebensolchen Spielen kommt sie immer von vorne. Die Heldin oder die Spielerin sieht immerzu gewaltige Felsbrocken, Monster, Lawinen auf sich zurasen. Dagegen hilft nichts, außer entweder als Ego-Shooter alles abzuknallen oder ein Spiel zu spielen, das ich seit Kindertagen kenne: das Hakenschlagen, auch Hasenschritt genannt. Es geht um ein schnelles Ausweichen vor den Gefahren, die von vorne, aus der Zukunft, die Gegenwart bedrohen. Ich habe das irgendwann in meiner Arbeit als Tanz-Regisseurin durch ein Wort verstanden, das es so nur im Deutschen gibt. Die Notwendigkeit. Ich meine, es ist die Not, die wendig macht. Diesen wendigen Hasenschritt, um nicht erschlagen zu werden, halte ich für den wichtigsten Tanzschritt überhaupt. Während die Zukunft uns fleißig wie ein Computerspiel immer neue Bedrohungen am Fließband produziert, Überschwemmungen, Dürren, Tsunamis, Kriege, Hackerangriffe, Meteoriten, Viren, Putsche, Erdbeben – also das ganze Programm der alltäglichen Nachrichten –, werden wir von den Moralisten damit beschäftigt, die Schuld an alledem immer wieder bei uns selbst zu suchen. Wir könnten genauso gut auch nur weiter tanzen, als wäre nichts davon geschehen. Oder wir könnten uns einfach umdrehen und der Vergangenheit dabei zuschauen, wie sie ebenso verlischt, wie die Erinnerungen an all die alten Tänze allmählich, aber unaufhaltsam verblassen. Um diesen Alterungsprozess irgendwie aufzuhalten, hat der Mensch die Retrospektive erfunden. Ich war sehr erschrocken, als man mir schon 1999 den Wunsch antrug, eine solche Retrospektive meines Werkes auszurichten. Acht Jahre Helena Waldmann. Ich habe gelacht. 2016 wären dann wohl »25 Jahre Helena Waldmann« fällig gewesen. Ich habe schlicht vergessen, mich selbst zu feiern. Als ich 2010 ein Stück über Demenz und das Vergessen machte – das Stück hieß »­revolver besorgen« – hatte ich die Idee, ein Buch herauszugeben, das dieses und meine Werke bis dato verzeichnet und kommentiert hätte. Der Band sollte »Vergesst Helena Waldmann« heißen. Um sicherzustellen, dass der Titel ernst genommen wird, bat ich den Verlag, das Buch auf garantiert nicht haltbarem Papier zu drucken, sodass die Käufer in spätestens zehn Jahren nur noch einen Haufen Papierkrümel im Schrank stehen hätten. Der Verlag lehnte mein Ansinnen ab; er

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