HEA L T H P O W ER N A P P I N G
STRATEGISCHES
NICKERCHEN
Der Verlust des Schlafvermögens gehört zu den heutigen Zivilisationskrankheiten. Die Mediziner sind sich einig, dass der Körper zwischen sieben und neun Stunden Schlaf braucht, um die Schäden des Tages zu reparieren und zu warten. Dem ruhelosen Westen könnten die Japaner als Vorbild dienen: Sie praktizieren «Inemuri».
S
eit Jahrhunderten pflegen Japaner eine andere Schlafkultur als die Menschen im Westen. Im Gegensatz zu unserer «Monophasenschlaf-Kultur» mit der strengen Aufteilung in Tag- und Nachtschlaf, die es erst seit der Industrialisierung gibt, und der Siesta-Kultur – vor allem im südlichen Raum – mit einem «Zweiphasenschlaf», sieht Japan den «Mehrphasenschlaf» mit «Inemuri» am Tage vor.
JAPANS NICKERCHEN-KULTUR
«Inemuri», was so viel bedeutet wie «schlafend präsent sein», ist ein wesentlicher Bestandteil der japanischen Schlafkultur. Die Kunstfertigkeit in der drittgrössten Industrienation, wie auf Knopfdruck zu schlafen, wird meist im Sitzen oder Stehen gehalten. Der Schlaf kann von wenigen Sekunden bis zu mehreren Stunden dauern. Im Unterschied zur klassischen Siesta für die man sich ins Private zurückzieht, findet «Inemuri» in der Öffentlichkeit statt: im Zug oder auf der Parkbank, im Kino oder beim Essen, in der Schule oder im Konzert, in Bibliotheken, Konferenzen und Parlamentssitzungen. Geschäftsleute im Anzug oder Kostüm halten ganz selbstverständlich vor aller Augen ihr Nickerchen. Westliche Besucher deuten das meist als Zeichen chronischer Erschöpfung der unermüdlich arbeitenden Japaner und Japanerinnen. Tatsächlich verbringen die Menschen in Japan nachts durchschnittlich deutlich weniger Zeit im Bett als der Rest der Welt. Entgegen der weit verbreiteten Vorstellung, Japaner widmeten ihr ganzes Leben ihrer Firma und der Arbeit, haben jedoch Freizeitaktivitäten in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen – zu Lasten des Schlafes.
ANTRAINIERTE UNEMPFINDLICHKEIT GEGEN LÄRM
«Inemuri» ist ein wesentlicher Bestandteil der japanischen Schlafkultur.
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DOLCE VITA MAGAZIN N° 04 | HERBST 2015
Dass die Japaner scheinbar auf Knopfdruck im öffentlichen Treiben einschlafen können, erklärt sich die Wiener Japanologin Brigitte Steger mit dem japanischen Familienleben. Dort schlafen Babys und Kleinkinder oft jahrelang mit den Eltern oder Grosseltern in den gleichen «Futons», wie die japanischen Betten heissen. So lernen schon Kinder zu schlafen, auch wenn um sie herum noch Betriebsamkeit herrscht. Brigitte Stegers Buch «Inemuri – Wie die Japaner schlafen und was wir von ihnen lernen können», lüftet das faszinierende Mysterium des japanischen Kurzschlafs und ist eine