Hotellerie | Gastronomie | Tourismus [ Branchennews ]
gibt, die – auch ohne ökono mische oder gesundheitliche Einschränkungen – gar nicht verreisen wollen, weil sie dar in kein Mittel zur Bedürfnisbe friedigung erkennen und/oder der damit subjektiv erwartete Aufwand in keinem Verhältnis zum eventuellen Gewinn steht. Rund ein Viertel der deutschen Bevölkerung im „reisefähigen“ Alter ist in den vergangenen Jahren nicht oder nie verreist. Dafür spielt auch der Persön lichkeitstyp eine Rolle. | Vielfältige Motive | Aber selbst Art und Ausmaß des so genannten touristischen Rei sens werden wesentlich durch andere Bedürfnisse bestimmt. Mit anderen Worten: Auch tou ristisches Reisen ist öfter Mit tel zum Zweck als Selbstzweck. Tatsächlich gibt es eine Viel zahl weiterer Motive, die eine Rolle spielen, so zum Beispiel traditionell die Erholung – vom Arbeitsstress, von den Belas tungen des normalen Alltags etc. Aber auch dazu muss man nicht unbedingt verreisen. Die Verbindung von Reisen und Er holung ist weder alt noch na turgegeben, sondern aufgrund bestimmter materieller, tech nischer und ökonomischer, so zialpolitischer und kultureller Gegebenheiten und Entwick lungen zustandegekommen – und kann sich unter veränder ten Bedingungen auch wieder lösen. Ähnliches gilt auch für andere häufig genannte Reise motive wie Bewegung, Sport, Bildung oder Kontaktsuche: Wenn auch touristische Rei sen deren Erfüllung oft erleich tern, können sie prinzipiell auch ohne einen temporären Ortswechsel erfüllt werden. | Die Ventilfunktion des Reisens | Reisen ist höchst selten eindimensional. In der Tou rismuswissenschaft wird die Überzeugung geteilt, dass das Reisegeschehen „multimoti vational“ ist. Neben Motiven wie der Suche nach neuen Er fahrungen oder Erholung gibt es auch Bedürfnisse, die sich am leichtesten mit einer Rei se erfüllen lassen. Dem Reisen
kommt etwa eine Ventilfunk tion zu, indem es hilft, als be lastend erlebte Situationen besser zu ertragen. Dazu gehört der aufgrund der zunehmend belastenderen modernen Le bensbedingungen gestiegene Wunsch nach „Entdifferenzie rung“ und „Entschleunigung“: Da immer mehr Menschen die Dynamik und Komplexität des modernen Lebens und dessen Anforderungen als drückend empfinden, wächst vielfach das Bedürfnis nach Vereinfa chung und Verlangsamung. Da dies generell nicht mach bar erscheint, bleibt dafür nur die Freizeit. Das bedeutet, dass es sich beim angeblich natur gegebenen Wunsch zum Ver reisen eigentlich eher um den Drang zur (wenigstens tempo rären) Flucht aus einer als zu nehmend überfordernd erleb ten Welt handelt. Aktuell weist auch eine Vielzahl von Beobachtun gen darauf hin, dass die Men schen, die während der Pande mie einen Weg gesucht haben, um „weg“ (!) zu kommen (Bei spiel Mallorca), gar nicht „rei sen“ wollten, sondern schlicht den Zwängen von Corona-Ein schränkungen zu entkommen versuchten. In der Tourismus wissenschaft spricht man auch von „Eskapismus“ oder Flucht vor einer Stressquelle. Ein weiteres Motiv ist das oft uneingestandene Bedürf nis nach einer wenigstens zeit lich befristeten Aufhebung oder Milderung des „Identi tätsdrucks“. Aus der Wahr nehmungspsychologie ist die Tendenz zur Wahrnehmung beziehungsweise Schaffung konsistenter Bilder bekannt, das heißt, Objekte, Menschen, Verhaltensweisen oder Ein stellungen werden als stimmi ger wahrgenommen, als sie in Wirklichkeit sind, indem dazu nicht passende Informationen ausgeblendet oder unterdrückt werden. Daraus resultieren einerseits eine Vereinfachung und Erleichterung sozialer Interaktionen, andererseits auch eine Unterdrückung und Verarmung von Erlebnis- und Ausdrucksmöglichkeiten. ››› 43
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