Eine Insel zu erreichen, braucht Zeit. Und es braucht Initiative und Willen, ihr einen Namen zu geben. Und dann ist dieser auch noch schwer auszusprechen: Cres. Cres, ein gängiger Begriff bei den alten Griechen. Χέρσος, Chersos: unfruchtbares Land, ein Wanderparadies. Der stimmlosen alveolaren Affrikate, diesem „ts“ (wie in „Zeit“), fehlt es an weiteren Vokalen, um sanft zum rollenden „r“ zu gleiten. Der Name sträubt sich und es dauert, bis man die Insel erreicht. Einmal dort angekommen, fällt es einem schwer, sie wieder zu verlassen. Wir haben unser Center for Advanced Studies Southeast Europe im Oktober 2019 im Palais Moise in der Stadt Cres mit einem wunderbaren Vortrag von Bernard Stiegler eröffnet. Noch zu Präpandemiezeiten warnte er weitblickend, dass „wir angesichts systemischer Risiken systemische Antworten finden müssen“. Dies sei „nur durch den Schutz, die Kultivierung und die Teilhabe von Wissen möglich“. Zu den „systemischen Risiken“, auf die sich Stiegler bezog, zähl(t)en die vielfältigen und komplexen ökologischen, wirtschaftlichen und politischen Krisen und Gesundheitsbedrohungen, die sich mit immer größerem Tempo rund um den Globus ausweiten und das Ergebnis eines unzulänglichen internationalen institutionellen Designs sind, das die Voraussetzungen für die Entwicklung derart komplexer Bedrohungen und Ungerechtigkeiten erst ermöglichte. Wie können wir das System verändern? Was braucht es, um auf seine Risiken zu reagieren? Wo steuern wir hin? Und was, wenn wir – im Sinne des Dichters als „ein Teil des Festlands“, das wie „eine Scholle ins Meer gespült wird“ – spüren und schließlich erfahren, dass wir „weniger“ sind? All dies mit einem Mal, auf einer Insel in der nördlichen Adria, wo uns gesagt wird, dass wir innehalten sollen, für einen kurzen Moment, im Labyrinth der Tramuntana. Innehalten, um die Bewegungen der Erde und all ihre Erschütterungen wahrzunehmen. Cres ist die größte Insel des Archipels und die am dünnsten besiedelte. Die Winter sind windig und wie in Venedig erinnert uns das Acqua alta daran, dass es gut ist, eine Weile zu schwimmen, bevor man festen Boden erreicht. Wir kamen vom Festland auf die Insel und brachten den Wunsch nach struktureller und funktioneller Neugestaltung mit, damit eine kosmopolitische Gemeinschaft entstehen und kooperative Heterogenität gedeihen kann. Zu diesem „Wir“ gehören über 70 junge Wissenschaftler:innen, die das Zentrum in den mehr als sechs Jahren seit seinen Anfängen aufgenommen hat, um Forschung neu zu denken und eine engagierte Gemeinschaft zu bilden. Zuweilen war diese Erneuerung sorgfältig geplant und in Form eines „AntiEvents“ konzipiert: wie 2020, als der Austausch aus der Ferne und die damit einhergehende Isolation, die passive Wahrnehmung und die Distanziertheit zunahmen, als wir die gemeinsame Zeit hier auskosten und nutzen wollten, um im Palais Moise auf der Insel zusammenzuarbeiten. Bei unserem Anti-Event ging es nicht primär darum, den „besten Stand“ unserer Forschung zu präsentieren, wie man es bei einer wichtigen Veranstaltung tun würde, sondern unsere Zeit an einem Ort zu nutzen, um die laufenden Arbeiten im Kollegen- und Freundeskreis zum Besseren zu verändern. Wir machten weiter, indem wir umsichtig allen Erfordernissen entsprachen, die die epidemiologische Situation gebot und akzeptierten, wenn auch widerstrebend, dass der Staat in unserem Namen entschied, ob wir uns frei bewegen durften. Ständig daran erinnert, dass „der Schutz, die Kultivierung und die Teilhabe von Wissen“ nicht gegeben sind, sondern geduldig verdient werden wollen, praktiziert unsere Gemeinschaft junger Forschender und Aktivist:innen all dies auf einmal: vernünftig zu leben in einer Zeit, die aus den Fugen geraten ist, und aktiv auf den Moment zu warten, das Richtige zu tun. Insel Cres, Foto: istockphoto.com/Goran Stimac
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