Surprise Nr. 470

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Strassenmagazin Nr. 470 28. Feb. bis 12. März 2020

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkaufenden

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Aktivismus

Wir sind viele Im feministischen Streikhaus versammelt sich, wer politisch und nicht männlich ist. Ein Rundgang mit dem Kollektiv. Seite 14


Kultur

Solidaritätsgeste

STRASSENCHOR

CAFÉ SURPRISE

Lebensfreude

Entlastung Sozialwerke

BEGLEITUNG UND BERATUNG

Unterstützung

Job

STRASSENMAGAZIN Information

Zugehörigkeitsgefühl Entwicklungsmöglichkeiten

STRASSENFUSSBALL

Expertenrolle

SOZIALE STADTRUNDGÄNGE Perspektivenwechsel

SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

GESCHICHTEN VOM FALLEN UND AUFSTEHEN Kaufen Sie jetzt das Buch «Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand» und unterstützen Sie einen Verkäufer oder eine Verkäuferin mit 10 CHF. «Standort Strasse» erzählt mit den Lebensgeschichten von zwanzig Menschen, wie unterschiedlich die Gründe für den sozialen Abstieg sind – und wie gross die Schwierigkeiten, wieder auf die Beine zu kommen. Porträts aus früheren Ausgaben des Surprise Strassenmagazins ergänzen die Texte. Der Blick auf Vergangenheit und Gegenwart zeigt selbstbewusste Menschen, die es geschafft haben, trotz sozialer und wirtschaftlicher Not neue Wege zu gehen und ein Leben abseits staatlicher Hilfe aufzubauen. Surprise hat sie mit einer Bandbreite an Angeboten dabei unterstützt: Der Verkauf des Strassenmagazins gehört ebenso dazu wie der Strassenfussball, der Strassenchor, die Sozialen Stadtrundgänge und eine umfassende Beratung und Begleitung. 156 Seiten, 30 farbige Abbildungen, gebunden, CHF 40 inkl. Versand, ISBN 978-3-85616-679-3 Bestellen bei Verkaufenden oder unter: surprise.ngo/shop Weitere Informationen T +41 61 564 90 90 | info@surprise.ngo | surprise.ngo | Facebook: Surprise NGO

Erlebnis


TITELBILD: GABI VOGT

Editorial

Wer über wen bestimmt Neulich ging ich abends mit meinem Mann die Basler Klybeckstrasse entlang in Richtung Claraplatz. Kurz nach der Kaserne wird mit grünen, auf den Boden gemalten Figuren darauf hingewiesen, dass ab hier Sexarbeiterinnen ihre Dienste anbieten. Immer wieder seltsam, fanden wir, wie die Frauen direkt hinter der Linie stehen und nicht darüber hinausdürfen. Neben der Freiheitsbeschränkung für die Sexarbeiterinnen irritierte uns auch: Wovor wird eigentlich gewarnt? Davor, dass Mann womöglich angesprochen oder, schlimmer noch, ihm hinterhergepfiffen wird? Dass er plötzlich als sexuelle Beute wahrgenommen wird – so wie sonst immer nur die anderen? Was für eine absurde Signaletik. Sie zeigt einiges auf. Zum Beispiel, dass wir lieber diejenigen eingrenzen und wegdrängen, die uns das Unbequeme, Problematische in unserer Gesellschaft vor Augen führen, als bei den Problemen selbst und ihren Ursachen anzusetzen. Konkret bei den Bedingungen von Sexarbeit beispielsweise oder aber genereller bei der Art und Weise, wie wir mit Frauen, Transpersonen und mit Begehren umgehen.

4 Aufgelesen 5 Vor Gericht

14 Aktivismus

Feministisches Streikhaus

Capitalize it!

Die grün gemalten Zeichen zeigen auch, wer bestimmt und über wen bestimmt wird. Männer werden davor gewarnt, dass ihnen in einem Teil des öffentlichen Raumes womöglich unmoralische Angebote gemacht werden, während Frauen und sexuelle Minderheiten solcherlei Angeboten im öffentlichen Raum jederzeit schutzlos ausgeliefert sind. Das fühlt sich nicht nur für Frauen falsch an. Weil sich an dieser Dynamik trotz Gleichstellungsdebatten und Frauenstreik immer noch so wenig geändert hat, braucht es Räume wie das feministische Streikhaus in Zürich. Wo Männer und solche, die sich als männlich definieren, draussen bleiben müssen – damit dies für all die anderen ein sicherer Ort ist, an dem sie in Ruhe ihre Vision von einer besseren Gesellschaft erdenken und bearbeiten können.

SAR A WINTER SAYILIR

Redaktorin

24 Fotografie

«Es geht hier um eine geteilte Verantwortung»

20 Hospiz 6 Moumouni …

... fährt Taxi

Sterben in Obhut

25 Buch

28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

Ein Held aus Papier 30 Surprise-Porträt

7 Die Sozialzahl

26 Veranstaltungen

Ausgesteuert

«Ich habe nie den Reichtum gesucht»

27 Tour de Suisse 8 Erhebung

Pörtner in Basel

Obdachlosigkeit in Berlin

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Aufgelesen

FOTO: ZVG

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen g INSP gehören. g

Puppen für Transgender-Markt Ausgerechnet eine neue Figurenserie des Barbie-Herstellers Mattel soll mit Geschlechterklischees aufräumen. Die sieben, ausschliesslich im Internet erhältlichen Figuren des zweitgrössten Spielzeugkonzerns der Welt kommen mit verschiedenen Klamotten und Perücken, die es Kindern ermöglichen sollen, die Genderidentität ihrer Spielzeuge selbst festzulegen. Dabei macht Mattel es sich einfach: Die «Creatable World»-Puppen kommen als Siebenjährige vollkommen ohne körperliche Geschlechtsmerkmale zu den Kunden. Damit werde einer der kritischen

Punkte einfach umgangen, kritisiert der Autor und erste Transgender-Student an der US-Eliteuniversität Harvard, Alex Myers: Nämlich die Tatsache, dass die Gesellschaft konstant in männlich oder weiblich sortiere – auch wenn es offensichtlich mehr Geschlechtsidentitäten gibt als entweder oder. Zudem sei Gender nichts locker spielerisch Veränderbares, wie das Spielzeug suggeriere.

L’ITINÉRAIRE, MONTRÉAL

Laut Sc Schätzungen werden in der EU pro Person und Jahr 173 Kilogramm Lebensmittel Leb weggeworfen. Das sind insgesamt 88 Millionen Tonnen essba essbarer Abfall pro Jahr zu einem geschätzten Wert von 143 Milliarden Eu Euro. Das österreichische Netzwerk Foodsharing holt übriggebliebene, g e einwandfreie Lebensmittel bei Grossverteilern ab und gibt sie an Menschen ab, die sie nötig haben. Übrigens: Auch in der Schweiz landet ein Drittel aller noch e essbaren Lebensmittel im Müll. APROPOS, SALZBURG

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FOTO: COURTESY OF ISTOCK

Essen im Müll E


ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Versteckte Armut

625 000 Rentnerinnen und Rentner, die Anspruch auf Grundversicherung im Alter haben, holen sich in Deutschland diese Unterstützung nicht. Das sind mehr als die bundesweit 566 000 Seniorinnen und Senioren, die derzeit Geld vom Sozialamt bekommen. Studien zufolge verzichten die Menschen vor allem aus Scham oder Unkenntnis darauf, Hilfe zu beantragen. Demnach würden 88 Prozent Geld annehmen, falls die Auszahlung vertraulich erfolgt, aber nur 58 Prozent, wenn andere davon erfahren.

Vor Gericht

Capitalize it!

HINZ & KUNZT, HAMBURG

Leben ohne Krankenversicherung

In Deutschland leben 80 000 Menschen ohne Krankenversicherung, viele von ihnen sind Obdachlose oder Sans-Papiers. Die Dunkelziffer dürfte höher sein, da diese Menschen statistisch kaum erfasst werden. Der Verein «Aufsuchende medizinische Hilfe für Wohnungslose Bochum» versorgt in Bochum Betroffene. Neben Problemen wie Atemwegserkrankungen oder Entzündungen habe das Team oft mit psychischen Problemen zu tun, sagt Hans-Gerd Schmitz, der als Arzt zweimal pro Woche ehrenamtlich für den Verein auf Bochums Strassen unterwegs ist. «Es ist schwer zu sagen, ob die Leute wegen dieser Probleme auf der Strasse gelandet sind, oder ob das Leben auf der Strasse zu diesen Problemen geführt hat.» Oft könne den Menschen vor Ort geholfen werden, in Notfällen aber würde man sie in ein Krankenhaus bringen. Auch für diese Kosten kann der Verein dank Spendengeldern aufkommen.

BODO, BOCHUM/DORTMUND

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Hoffentlich sind Sie nüchtern, denn gleich geht es um viele Zahlen. Um eine Million Joints. Pro Tag. So viel wird in der Schweiz gekifft. Dies gemäss einer soeben veröffentlichten Studie der Stiftung Sucht Schweiz, der Universität Lausanne und Unisanté. Eines ist damit sicher: «Die Prohibition funktioniert nicht sehr gut.» So drücken es, sehr freundlich, die Studien-Autoren aus. Wie schlecht, zeigt der Blick in die polizeiliche Kriminalstatistik. 2018 wurden 35 728 Straftaten betreffend den Konsum illegaler Substanzen verzeichnet. Die Mehrheit, also 18 186, entfiel auf Hanf. Nehmen wir einmal an, dass es rund 300 000 starke Konsumenten sind, die diese Million Joints rauchen, jeweils drei, vier am Tag: Nur 18 werden erwischt. Nicht das einzige Missverhältnis. Wie die Studie weiter feststellt, ist Cannabis volumenmässig zwar der grösste Markt verbotener Drogen. Doch der Umsatz liegt mit jährlichen 340 bis 500 Millionen Franken tiefer als beim Kokain. Dort werden in der Schweiz mit fünf Tonnen pro Jahr 490 bis 620 Millionen umgesetzt. Nimmt man als Äquivalent zum Joint eine Linie Koks à zwanzig bis dreissig Milligramm an, wären dies auch fast eine halbe Million Lines am Tag. Doch wegen Kokain-Konsums gab es 2018 nur 5374 Verzeigungen. Die Studie gewährt auch Einblick in die Cannabis-Produktion und den Markt. Eine Besonderheit ist die Vielfalt der Akteure. Importierte und einheimische Ware halten sich die Waage. Häufige Herkunftsländer sind Spanien, die Niederlande oder Albanien. Der Grossteil des hiesigen Anbaus stammt aus grösseren Anlagen – doch ein überraschend hoher Anteil von zehn Pro-

zent ist Marke Eigenanbau. Personen mit ein paar Pflanzen auf dem Balkon liefern also Stoff für 100 000 Joints am Tag. Eine veritable Volksbewegung! Und doch kann die Schweiz keinen klaren Umgang damit finden: 1951 wurde Cannabis auf die Liste der verbotenen Betäubungsmittel gesetzt – der Konsum blieb erlaubt. 1975 wurde auch dieser verboten – mit Straffreiheit bei kleinen Mengen zum Eigenkonsum. Auch das Stimmvolk ist unentschieden: 1997 lehnte es ein Totalverbot von Cannabis mit 71 Prozent ab. Ein Jahr später erteilte es mit 73 Prozent der generellen Straffreiheit beim Betäubungsmittelkonsum eine Abfuhr. Ebenso unschlüssig sind die Räte in Bern. 2001 schlug der Bundesrat vor, Cannabis zu legalisieren. Der Nationalrat trat nicht darauf ein. Erst 2008 konnte eine sehr zögerliche Freigabe für medizinischen Hanf verabschiedet werden. Derweil hat sich von Kanada bis Uruguay die Erkenntnis durchgesetzt, dass ein legaler, aber regulierter Markt gegenüber der Repression Vorteile hat. Etwa Steuereinnahmen. Dem US-Bundesstaat Washington spülte der Cannabis-Handel 2017 315 Millionen in die Kassen, mehr als der Alkohol. Das Geld investiert der Staat vor allem ins Gesundheitssystem. Das wäre doch auch eine Idee für die Schweiz: Cannabis freigeben und besteuern, dann die Einnahmen in die Prämienverbilligung stecken. Stattdessen doktert man immer noch mühsam an einer breiteren Zulassung von Medizinalhanf herum. Letzten Juni hat der Bundesrat dazu mal wieder eine Vorlage in die Vernehmlassung geschickt. Wieder werden Jahre vergehen. Derweil vor allem Kriminelle weiter vom Verbot profitieren.

Y VONNE KUNZ

ist Gerichtsreporterin in Zürich.

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ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING

kurrenz auszumerzen. Und das nicht einmal aus eigener Tasche, denn Uber macht noch gar nicht wirklich Profit, sondern mittels Investorengeldern. Uber ist sozusagen der junge, verzogene Selfmade-Millionär der Taxibranche! Der gar nicht selfmade ist, sondern geerbt hat. Oder der schillernde Angeber, der all seine teuren Konsumgüter auf Pump gekauft hat und wahrscheinlich niemals abbezahlen kann. Oder der Haifisch, der die kleinen Fische frisst und dann behauptet, er sei nun mal einfach der bessere Fisch. Aber das ist mir alles egal, ich habe ja gesagt, da bin ich neutral. Wirklich schlimm ist nur, dass Uber einen schlechten Menschen aus mir macht!

Moumouni …

… fährt Taxi Ich habe ja eine neutrale Meinung zu Uber. Neutral im Sinn von: Ich profitiere klar davon, dass es Uber gibt, gleichzeitig ist mir bewusst, dass Uber eigentlich kein Unternehmen ist, das ich unterstützen sollte, oder so. Ich fahre aber ab und zu doch mit Uber umher. Die Fahrten sind viel günstiger als mit dem Taxi, im Ausland ist es oft sicherer, weil man über die App sieht, zu wem man einsteigt und die Route nachverfolgen kann und ausserdem im Vorhinein weiss, was man zahlen wird. «Uber ist wirklich mega praktisch!», gehe ich mir selbst auf die Nerven. Eigentlich ist Uber alles andere als ein praktisches Unternehmen. Mit dem Vorwand der ach so modernen «sharing economy» fing Uber an, sich als solches zu vermarkten. Ein Grossteil 6

aller Uber-Fahrenden jedoch ist nicht einfach sowieso unterwegs oder hat frei und denkt sich, «ach, da könnt ich doch noch jemanden Nettes mitnehmen!», sondern fährt hauptberuflich und zu schlechten Bedingungen, wenn man bedenkt, dass weder der Fahrzeugverschleiss noch die Versicherungen des selbständig arbeitenden Fahrers gedeckt sind. Nicht sonderlich nachhaltig. Oder fair. Uber ist ausserdem auch überhaupt nicht praktisch, weil der unternehmerische Erfolg nur theoretisch existiert: Sie haben zwar weltweit Taxiunternehmen in die Ecke gedrängt und in den Ruin getrieben, Preise gedrückt und Märkte übernommen. Ihre tiefen Preise entstehen aber nicht, weil Uber das Lenkrad neu erfunden hat, effizienter ist und nur mit dem Methan furzender Kühe fährt, sondern weil die Fahrten subventioniert werden – eben um die Kon-

Vor der nächsten Fahrt öffnet sich in der App immer ein Fenster zur Bewertung des letzten Fahrers, seltener: der letzten Fahrerin. Inzwischen hat Uber bewirkt, dass ich finde, es reicht nicht, wenn mein Fahrer seinen Job macht, nein, er muss auch noch meinen Musikgeschmack haben oder zumindest so tun und mir ausserdem in seinem Privatauto witzige oder berührende Anekdoten aus seinem Privatleben erzählen, damit ich in der App «tolles Gespräch» und «gute Musik» anklicken kann. Unter dem Vorwand des Gedankens, dass nicht jeder fünf Sterne bekommen kann, weil sonst die wahren Fünf-Sterner gar nicht mehr herausstechen, habe ich angefangen, die Hemdfarben meiner Fahrer gegeneinander auszuspielen. Wahrscheinlich wäre es moralisch ok, die gewonnene Gunst in Trinkgeld zu transformieren, aber das passiert dann doch nicht («Meine Bewertung ist ja schon ein ‹Tip(p)›, höhö!»). Es fing mit der Option an, in der App den Wohlgeruch des Autos mit einem Diamantenicon zu versehen. Dann liess ich meine Uberfahrer Zungenbrecher aufsagen, zwang sie, mich mit Essen zu bestechen, Methan in den Tank zu furzen, ein Rad zu erfinden und Kinder anzufahren. Hilfe!

FATIMA MOUMOUNI

spart für eine Taxifahrt mit einer grummligen Taxifahrerin, um wieder zurück in die Normalität zu kommen.

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INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: BUNDESAMT FÜR STATISTIK: SITUATION DER AUSGESTEUERTEN PERSONEN. BFS AKTUELL. NEUCHÂTEL 2019

Die Sozialzahl

Ausgesteuert Von 2014 bis 2018 wurden jährlich zwischen 35 000 und 40 000 Personen aus der Arbeitslosenversicherung ausgesteuert. Sie haben ihr Anrecht auf ein Taggeld verwirkt, ohne eine neue Stelle gefunden zu haben. Etwas mehr als die Hälfte von ihnen bekommt allerdings innert eines Jahres wieder eine Anstellung, ein Drittel bleibt erwerbslos und ein Zehntel zieht sich aus dem Arbeitsmarkt zurück. Schaut man sich die Entwicklung über die mehrere Jahre an, so sind nach vier bis fünf Jahren 63 Prozent der ausgesteuerten Arbeitskräfte wieder erwerbstätig, 15 Prozent sind noch auf Stellensuche und 22 Prozent haben die Suche nach einem Job aufgegeben. Hier stellen sich zwei Fragen: Wie sieht die Erwerbstätigkeit von Ausgesteuerten aus, die wieder eine Stelle gefunden haben? Und gibt es spezifische Risikofaktoren, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Aussteuerung führen? Die Antwort auf die erste Frage fällt knapp aus: Viele Ausgesteuerte müssen Abstriche beim Arbeitsverhältnis und beim Lohneinkommen in Kauf nehmen, sobald sie wieder eine Stelle finden. So ist der Anteil jener, die nur in befristeten Arbeitsverträgen angestellt werden, auf Abruf arbeiten oder temporär beschäftigt werden, deutlich höher als bei Erwerbstätigen ohne Aussteuerung. Besonders gravierend ist der Lohnverzicht. Während der mittlere Stundenlohn bei allen Arbeitnehmenden 36,10 Franken beträgt, beläuft er sich bei Arbeitnehmenden nach der Aussteuerung auf 28,00 Franken. Bei den 45- bis 64Jährigen ergibt sich sogar eine Differenz von 13,10 Franken, was einer mittleren Einbusse von 30 Prozent entspricht.

deutlich häufiger sozialstaatliche Unterstützungsleistungen als die Gesamtbevölkerung, und zwar unabhängig davon, ob sie wieder eine Stelle finden. Während bloss 3 Prozent der Gesamtbevölkerung Sozialhilfe oder Mietzinsbeiträge erhalten, sind es bei den Ausgesteuerten 14 Prozent. Es liegt also auf der Hand, dass die Arbeitslosenversicherung alles daransetzen müsste, eine Aussteuerung zu vermeiden. Damit kommen wir zur zweiten Frage: Gibt es Risikofaktoren, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Aussteuerung führen? Hier ist die Antwort etwas komplexer. Das Risiko, ausgesteuert zu werden, ist nämlich nicht bei allen Arbeitslosen gleich hoch. So sind vor allem ältere Arbeitslose, Personen mit einem tiefen Bildungsabschluss (Sekundarstufe 1), Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen, ausländische Personen und Alleinlebende überdurchschnittlich häufig von Aussteuerung bedroht. Zum Beispiel liegt der Anteil der 45- bis 64-jährigen Ausgesteuerten bei 48 Prozent, während er bei der Erwerbsbevölkerung nur 42 Prozent und bei allen Stellensuchenden, die von den Regionalen Arbeitsvermittlungsstellen registriert werden, 41 Prozent beträgt. Diese Betrachtung übersieht allerdings, dass viele Arbeitslose mehrere der Risikofaktoren auf sich vereinen. Bei ihnen ist die Gefahr der Aussteuerung also ungleich grösser. Für sie müsste man die Arbeitslosenversicherung neu ausrichten, man müsste sie frühzeitig und gezielt bei der Stellensuche unterstützen. Es bräuchte spezifische Formen der beruflichen Nachqualifikation, Weiterbildung und Umschulung. Es ist an der Zeit, dass die Arbeitslosenversicherung einen neuen Auftrag erhält.

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Verringert sich das Einkommen nach einer Aussteuerung, steigt die Gefahr der Verarmung. Ausgesteuerte beziehen

Ausgesteuerte nach Arbeitsmarktstatus und Zeitspanne seit der Aussteuerung, 2015-2018 Erwerbstätige 100%

75%

Erwerbslose

Nichterwerbspersonen

12%

15%

17%

18%

22%

33%

22%

18%

16%

15%

55%

63%

64%

66%

63%

1 bis weniger als 2 Jahre

2 bis weniger als 3 Jahre

3 bis weniger als 4 Jahre

4 bis 5 Jahre

50%

25%

0% Weniger als 1 Jahr

Aufgrund eines Rundungsfehlers im Datensatz ergeben die Zahlen in der dritten Spalte zusammen nur 99 Prozent.

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Ăœber 2500 Freiwillige in 600 Teams beteiligten sich an der Zählung.

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Durchgezählt Erhebung Berlin hat seine Obdachlosen gezählt

und befragt. Das Ergebnis ist überraschend. TEXT FELIX HUESMANN

FOTOS TIMO STAMMBERGER

«Ich würde gerne arbeiten», sagt Marianna Paduran. «Putzen zum Beispiel, oder was anderes. Aber ohne Wohnung ist das schwer.» Wer nicht einmal eine Adresse hat, hat es nicht leicht, Arbeit zu finden. Die 52-Jährige sitzt mit ihrem Mann Ioan Dorel an einem Esstisch der City-Station der evangelischen Berliner Stadtmission. Die beiden sind vor wenigen Minuten aus der Kälte hereingekommen. Dem 59-jährigen Ioan sieht man an, wie er sich gegen die niedrigen Temperaturen schützt: ein Hemd, darüber ein dick gefüttertes Sweatshirt und zwei Jacken. Hier gibt es nicht nur Wärme, hier bekommen arme und wohnungslose Menschen für wenig Geld gutes Essen, können duschen und ihre Wäsche waschen. Beratungsgespräche gibt es kostenlos dazu. Vor acht Jahren ist das Ehepaar aus Rumänien nach Deutschland gekommen. Seitdem leben sie in Berlin, leben auf der Strasse. Wie ihnen geht es geschätzten Tausenden in der deutschen Hauptstadt, die auch die Hauptstadt der Obdachlosigkeit ist. Die Mieten wurden in den letzten Jahren immer höher, die Wohnungen immer knapper. Wie viele Menschen hier obdachlos sind, weiss aber niemand genau. Die meisten Schätzungen von Wohlfahrtsverbänden wie der Caritas bewegten sich in den vergangenen Jahren zwischen 6000 und 10 000. New York, Paris, Berlin Mit diesem Unwissen will die Landesregierung aufräumen. Statt ihre Zahl zu schätzen, sollen die Obdachlosen gezählt und befragt werden. In Deutschland ist die Hauptstadt, die sich einst damit rühmte, «arm aber sexy» zu sein, in diesem Umfang damit eine der Pionierinnen. Sonst gab es nur in Dortmund im letzten Jahr eine kleinere Zählung. In der Schweiz wurde im vergangenen Jahr ein ähnliches, ebenfalls regional begrenztes Vorhaben umgesetzt: Forschende der Fachhochschule Nordwestschweiz hatten über mehrere Monate Obdachlose in sozialen Einrichtungen in Surprise 470/20

Basel-Stadt gezählt und befragt. Zusätzlich hatten sie in einer Nacht mit rund vierzig Studierenden Schlafende im öffentlichen Raum gezählt. Die Studie kam zum Ergebnis, dass in Basel-Stadt etwa hundert Menschen im engeren Sinne obdachlos sind. Die Zahl der beim Verein für Gassenarbeit Schwarzer Peter gemeldeten Personen ohne eigenen Wohnsitz liegt derzeit bei rund 350 Personen. (Zum Unterschied zwischen Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit siehe Kasten Seite 12.) Die Berliner Zählung orientiert sich an ähnlichen Projekten in Grossstädten wie New York und Paris. In New York City schwärmen schon seit 2005 einmal jährlich tausende Freiwillige zur Strassenzählung aus. Die französische Hauptstadt begann 2018 ebenfalls mit einer jährlichen Zählung. In der «Nuit de la solidarité» werden Obdachlose zudem nach Geschlecht, Alter, Herkunft und anderen Informationen befragt, die Aufschluss darüber geben sollen, wer dort auf der Strasse lebt. Mit Klemmbrettern durch die Nacht Das interessiert auch Berlin. Aus der «Nuit de la solidarité» wird hier die «Nacht der Solidarität». Am Abend des 29. Januar 2020 drängen sich in einem kahlen Raum unter den Gleisen des Bahnhof Zoo etwa zwanzig Freiwillige in auffälligen blauen Westen. 2600 Freiwillige beteiligen sich in der ganzen Stadt an der Zählung. Hier am Bahnhof Zoo, wo künftig eine neue Beratungs- und Begegnungsstätte für Obdachlose entstehen soll, werden vier der insgesamt mehr als 600 Zählteams noch ein letztes Mal instruiert. «Wir wollen keine Obdachlosensafari», erklärt ein Verwaltungsmitarbeiter. Es gibt klare Regeln: keine Fotos, niemanden wecken und erst recht keine Zelte oder Hütten öffnen. Journalisten dürfen nicht mitgehen, aus Respekt vor den Betroffenen und um diese zu schützen. Dann geht es los, raus in die Kälte – in dieser Januarnacht liegt die Temperatur vier Grad über dem Gefrierpunkt. Gezählt wird in jedem der zwölf Berliner Bezirke, 9


Ergebnisse Obdachlosenzählung Es wurden insgesamt 1976 obdachlose Menschen gezählt. Von den 807 draussen aufgefundenen Personen liessen sich 288 Menschen auch befragen. Von den 288 Befragten sind:

39weiblich

(14%)

243

Die Armut in Rumänien erscheint Marianna Paduran und Ioan Dorel schlimmer als das Leben auf den Strassen Berlins.

männlich (84%)

6 keine Angabe (2%)

Die 288 Befragten stammen aus:

113

Deutschland (39%)

140 31

EU (49%)

Drittstaaten (11%)

4 keine Angabe (1%) Von den 288 Befragten leben:

Rund ein Drittel der Gezählten liessen sich auch befragen.

117 18

alleine

mit mind. einem Tier

QUELLE: NACHT DER SOLIDARITÄT – ERGEBNISSE 07.02.2020

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initiiert und ist sich dieser Probleme bewusst. «Wir gehen nicht davon aus, dass wir heute alle Obdachlosen in dieser Stadt zählen werden», hatte sie am Abend der Aktion gesagt. «Aber wir werden am Ende Erkenntnisse haben und mehr Klarheit darüber, welche Menschen eigentlich wo leben, welche Sprachen sie sprechen und welche Unterstützung sie benötigen.»

jedem Freiwilligenteam wurde zuvor ein fester Bereich zugewiesen. Mit Klemmbrettern und Fragebögen laufen sie nun ihre Routen ab. Jeder Obdachlose, den sie antreffen, wird auf einem Bogen vermerkt. Es geht jedoch nicht bloss ums Zählen. Die Freiwilligen sollen mit möglichst vielen der Gezählten auch ins Gespräch kommen – klar strukturiert anhand von fünf vorgegebenen Fragen: Wie alt sind Sie? Was ist Ihr Geschlecht? Was ist Ihre Nationalität? Seit wann leben Sie auf der Strasse? Mit wem leben Sie auf der Strasse zusammen? In vierzehn Sprachen sind diese Fragen nebst erklärenden Piktogrammen auf die Zählzettel gedruckt. Die Antworten darauf sollen, mehr noch als die nackte Zahl des Wieviel, künftig die Berliner Wohnungslosenpolitik beeinflussen. Auch in der City-Station der Stadtmission werden die Gäste in dieser Nacht befragt. In den kalten Wintermonaten wird aus der Tagesstätte eine Übernachtungsstelle. Wer keine Bleibe hat, kann hier kostenlos schlafen. Anders als vielerorts dürfen sogar Hunde mitgebracht werden. Zwanzig Männer und zehn Frauen finden in zwei Surprise 470/20

Räumen Platz. Anna-Sofie Gerth ist Sozialarbeiterin und Diakonin und leitet die Einrichtung. «Die Berliner Stadtmission hat lange dafür gekämpft, dass verlässliche Zahlen erhoben werden», sagt sie am Tag darauf im Gespräch. Ihren Gästen musste sie jedoch zunächst nahebringen, was eine solche Zählung überhaupt soll. «Viele waren erstmal sauer, dass wir sie befragen wollen», sagt Gerth. «Sie dachten, es ginge um sie persönlich und sei eine Art Überprüfung. Erst als wir ihnen erklären konnten, dass die Befragung anonym ist und dass mit den Ergebnissen auch die Hilfe für sie verbessert werden soll, änderte sich ihre Einstellung.» Die Zählung und Befragung sei ein guter Start, jedoch kein Allheilmittel. Auch wegen eines sehr grundsätzlichen Problems: Die erhobenen Zahlen seien chronisch ungenau, sie könnten die Realität unmöglich abbilden. «Viele Menschen wollen nicht als obdachlos erkannt werden.» Sie geben sich alle Mühe, unsichtbar zu sein, und schlafen an Plätzen, an denen sie nicht gefunden und vertrieben würden, sagt Gerth. Berlins Sozialsenatorin Elke Breitenbach von der Partei Die Linke hat die Zählaktion

Passgenaue Hilfe Auch Werena Rosenke hält die Obdachlosenzählung für einen «guten ersten Schritt». Rosenke ist Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, die alle zwei Jahre Schätzungen über die Zahl der Wohnungs- und Obdachlosen in Deutschland veröffentlicht. «Seit über zwanzig Jahren fordern wir die Einführung einer Statistik», sagt Rosenke. Nur mit genauen Zahlen können Kommunen und Wohlfahrtsverbände ihre Hilfen für Wohnungs- und Obdachlose passgenau planen. Wenn bekannt ist, wie viele Menschen in einer Stadt ohne Wohnung sind, können dort nicht nur die Plätze in Notunterkünften angepasst werden. Es entsteht auch ein realistisches Bild, wie viele Wohnungen fehlen. In Städten wie Berlin, in denen Wohnraum zunehmend Mangelware ist, ist das eine wertvolle Information. Ab 2022 will die Bundesregierung den Forderungen nachkommen. Alle Notunterkünfte in Deutschland sollen dann jährlich an einem Stichtag im Januar ihre Gäste zählen. Das reiche jedoch nicht aus, sagt Rosenke. Ein grosser Teil der Menschen ohne Wohnung werde von dieser Statistik nicht erfasst. «Ungefähr siebzig Prozent der Wohnungslosen, die in Beratungsstellen kommen, sind nicht in Unterbringung», erklärt sie. Stattdessen schlafen sie bei Freunden und Verwandten oder ungeschützt auf der Strasse. Auch diese Menschen möchte Rosenke erfasst wissen. Aufsuchende Zählungen wie die in Berlin könnten dabei helfen. Wichtig sei, und da sind sich AnnaSofie Gerth und Werena Rosenke einig, dass auf die Zählung auch reale Veränderungen folgen und die Erkenntnisse genutzt werden, um das Hilfesystem anzupassen. In Paris wurden beispielsweise viel mehr Frauen gezählt, als zuvor auf der Strasse vermutet wurden. Jetzt sollen dort mehr Frauennotschlafstellen geschaffen werden. Ganz ohne Sorgen betrachtet Gerth die Zählung jedoch nicht. «Die Frage nach der Dunkelziffer beschäftigt mich 11


schon», sagt sie. Was geschieht, wenn am Ende der Zählung eine Zahl dasteht, die niedriger ist als die bisherigen Schätzungen? Werden den Hilfseinrichtungen die vielfach ohnehin knappen Mittel dann noch weiter gekürzt?

«Die Berliner Stadtmission hat lange dafür gekämpft, dass verlässliche Zahlen erhoben werden.» ANNA-SOFIE GERTH, LEITERIN CIT Y-STATION

Überraschendes Ergebnis Acht Tage nach der «Nacht der Solidarität» stellt Elke Breitenbach auf einer Pressekonferenz die ersten Ergebnisse vor. Der Saal der Senatsverwaltung ist voll mit Journalistinnen und Interessierten. Alle warten gebannt auf die eine Zahl: Wie viele Obdachlose wurden in der Nacht gezählt? Die Antwort kommt überraschend, liegt sie doch tatsächlich weit unter den meisten bisherigen Schätzungen: 1976. 807 Menschen leben direkt auf Berlins Strassen, der Rest in der Kältehilfe, in Zügen und Bahnhöfen, in Spitälern und ein paar wenige auch in Polizeigewahrsam. Nur jede dritte Freiwilligengruppe hat überhaupt Obdachlose angetroffen. Wie hoch die Dunkelziffer ist? Schwer zu sagen. Klar ist: Die reale Zahl der Obdachlosen ist höher als die gezählte. Wie hoch, ist weiterhin unklar. «Aber es werden sich sicher nicht 8000 Menschen versteckt haben», sagt Breitenbach. Von den über 800 auf der Strasse Gezählten liess sich etwa ein Drittel auch befragen. Die wichtigsten Erkenntnisse: Mehr als die Hälfte ist zwischen 30 und 49 Jahre alt, 84 Prozent sind männlich. Fast die Hälfte der Befragten lebt schon seit mehr

Wohnungslos oder obdachlos? Um genau differenzieren können, wie prekär die Lage von Menschen ohne festen Wohnsitz ist, unterscheidet der Europäische Dachverband der Obdach- und Wohnungslosenhilfe FEANTSA zwischen Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit. Demnach gilt als obdachlos, wer auf der Strasse, auf öffentlichen Plätzen oder in einer nicht für Wohnzwecke gedachten Unterkunft lebt. Auch wer in einer Notunterkunft schläft, gilt als obdachlos. Als wohnungslos hingegen zählen Menschen, die für eine befristete Dauer in Einrichtungen für Wohnungslose wohnen, beispielsweise in einer befristeten Übergangswohnung. Auch Frauen, die wegen häuslich er Gewalt ihre Wohnung verlassen haben und kurz- bis mittelfristig in einer Schutzeinrichtung beherbergt sind, werden als wohnungslos gezählt. Genauso Geflüchtete und andere Immigrantinnen und Immigranten, wenn sie in Aufnahmeeinrichtungen untergebracht sind. Zudem zählen Personen als wohnungslos, die aufgrund einer fehlenden Wohnung freiwillig in Strafanstalten, medizinischen Einrichtungen oder Jugendheimen bleiben. WIN

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30%

29%

56% der 288 befragten Personen waren zwischen 30 und 49 Jahre alt. Drei Personen waren noch nicht volljährig.

25%

(83)

27% (78)

20%

18%

15%

(51)

10%

5%

0%

0% Alter

< 13

1%

2%

(10)

3% (10)

7% (21)

(3)

14–17

5%

5%

> 65

keine Angabe

(13)

18–20

als drei Jahren auf der Strasse und nur 39 Prozent sind deutsche Staatsbürger. 49 Prozent kommen aus dem EU-Ausland. Dass fast die Hälfte der befragten Obdachlosen aus der EU kommen, ist nicht überraschend. EU-Bürgerinnen und -Bürger geniessen Freizügigkeit, gerade aus den ärmeren Ländern Südosteuropas sind in den letzten Jahren viele nach Deutschland gekommen. Um zu arbeiten, sich ein besseres Leben aufzubauen – ganz so wie Marianna Paduran und Ioan Dorel, die täglich in die City-Station kommen. Viele von ihnen werden Opfer von Arbeitsausbeutung, so

Jedem der Teams wird einer der zwölf Bezirke zugewiesen.

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3%

(6)

21–24

25–26

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beschreibt es Sozialsenatorin Elke Breitenbach. Einige landen schliesslich auf der Strasse. Wer nicht bereits sozialversicherungspflichtig in Deutschland gearbeitet hat, hat in den ersten fünf Jahren keinen Anspruch auf Sozialleistungen. Das heisst auch: keinen Anspruch auf eine Unterbringung, zu der die Kommunen sonst verpflichtet sind. Für jene, die Anspruch auf Sozialleistungen haben, stimmt die vielbemühte Formel «Niemand muss auf der Strasse schlafen!» zumindest theoretisch. Für viele Migranten ist sie schlichtweg falsch. Breitenbach sagt, die Zählung habe in dieser Hinsicht bestätigt, was man eigentlich längst wisse. «Wir befinden uns in einer Notlage», erklärt die Sozialsenatorin, weil die Bundesgesetzgebung nicht vorsehe, dass diesen Menschen in Deutschland nachhaltig geholfen wird. Die Position der Bundesregierung aus CDU und SPD ist, dass Migranten aus dem europäischen Ausland in ihre Heimat zurückkehren könnten und in Deutschland deshalb «freiwillig» obdachlos sind. Breitenbachs Partei Die Linke fordert hingegen, Deutsche und EU-Ausländer gleich zu behandeln. Breitenbach will trotz der Gesetzeslage «gucken, wie wir die Beratung und Unterstützung verbessern können». Ob die Ergebnisse aus der «Nacht der Solidarität» zur Munition für die Forderung nach Gesetzesänderungen werden? «Die Bundesregierung steht hier in der Verantwortung zu handeln», sagt sie. Und auch: «Wir können nicht zusehen, wie diese Menschen auf der Strasse zugrunde gehen.»

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In der Berliner Verwaltung soll nun gemeinsam mit Expertinnen und Wohlfahrtsverbänden diskutiert werden, welche weiteren Schlüsse aus den Ergebnissen der Zählung gezogen werden. Eins stellt Breitenbach bereits klar: Auch wenn das gezählte Ergebnis unter den Schätzungen liegt, werden keine Mittel gekürzt. 2021 soll wieder gezählt und befragt werden. Dieses Mal jedoch im Frühjahr oder Sommer, um Vergleichswerte aus wärmeren Jahreszeiten zu bekommen. Die «Nacht der Solidarität» soll zum langfristigen Projekt werden. Ob sich auch für Menschen wie Marianna Paduran und Ioan Dorel etwas ändern wird? Unklar. Bis dahin versucht das rumänische Ehepaar, so wie bisher in Berlin durchzukommen. Sie werden weiterhin im Zelt in einem Waldstück schlafen und im Winter in der City-Station. Ioan Dorel, dem erst kürzlich künstliche Venen eingesetzt wurden, will weiter ein kleines bisschen Geld mit dem Verkauf des Berliner Strassenmagazins Motz verdienen. Hoffnung setzen die beiden auch in die deutsche Gerichtsbarkeit. Derzeit versuchen sie auf dem Prozessweg zu erreichen, dass sie aufgrund von Dorels Erkrankung Sozialleistungen und damit eine Wohnung erhalten. Zurück nach Rumänien wollen sie nicht. Die Armut, die sie dort erwarte, sei schlimmer als das Leben auf der Strasse in Berlin.

SurpriseTalk: Mehr zu dieser Geschichte erfahren Sie von Autor Felix Huesmann im Podcast mit Simon Berginz: surprise.ngo/talk

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Ein Haus für fast alle Aktivismus Das feministische Streikkollektiv Zürich hat im letzten Sommer

ein Haus bezogen. Nach dem Streik ist hier vor dem Streik. Ein Besuch. TEXT MIRIAM SUTER

«Feminismus oder Schlägerei» steht auf einem kleinen, handgemalten Plakat über dem Briefkasten. Stösst man die Eingangstür auf, wird man von Glitzer begrüsst, durch einen Lametta-Vorhang geht es ins Innere des ehemaligen Quartierhauses am Sihlquai. Zwei Mitglieder des Streikkollektivs führen mich ins Dachgeschoss. Hier ist das Atelier, hier werden Streikplakate gebastelt, hier liegt ein Nippel am Boden: «Wem der wohl gehört?», fragt Lea*. Sie ist 30 und gehört zum Streikkollektiv, das basisdemokratisch organisiert ist. Das bedeutet: Keines der Mitglieder will mit Namen in der Presse auftreten, es geht um die Kraft des ganzen Organs, nicht um die Präsenz einzelner Individuen. Das gilt auch für die 29-jährige Berfin*. Auf einem hölzernen Deckenbalken im Atelier steht in cremefarbener Handschrift: «Kein Nippel ist illegal», daneben klebt ein zweiter Papiernippel, Lea klebt den vom Boden dazu. Sie sind Teil der Bastelaktion einer Aktionsgruppe und wolSurprise 470/20

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len darauf aufmerksam machen, dass weibliche Nippel in den sozialen Medien zensiert werden – während männliche Nippel unbehelligt gezeigt werden dürfen. Das Streikkollektiv ist vernetzt mit Organisationen wie beispielsweise dem Frauen*Zentrum, der FIZ Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration und FIST (feminstisches internationalistisches solidarisches Treffen). «Für den Frauenstreik arbeiteten wir auch mit Gewerkschaften zusammen, es bestehen jedoch keine Abhängigkeiten, wir sind parteiunabhängig, autonom und dezentral organisiert», sagt Lea. Das Haus ist offen für «Flint»-Personen, die Abkürzung bedeutet «FrauenLesbenInterTrans». Männer, spezifisch Cis-Männer, also Menschen, die sich ihrem biologischen männlichen Geschlecht zugehörig fühlen, müssen draussen bleiben – ausser während den monatlichen Sitzungen, dort engagieren sich Cis-Männer solidarisch in der Kinderbetreuung. 15


Lea erklärt: «Es ist immens wichtig, dass es Räume gibt, in denen sich Flint-Menschen unter sich treffen und austauschen können. Es heisst immer, der öffentliche Raum sei für alle offen. Aber wenn man mal genau hinschaut, merkt man, dass das nicht stimmt.» Noch immer sei der öffentliche Raum in Männerhand: Sie besitzen den grössten Teil der Macht, können also bestimmen, welche Räume wie genutzt werden. «Am Frauenstreik war die ganze Stadt ein ‹safer space›, wir fühlten uns draussen sicher und bekamen ein Gefühl dafür, wie sich gesellschaftliches Zusammenleben in einem feministischen Sinn anfühlen könnte», sagt Lea. Wenn man die Partnerin nicht zu küssen wagt Im Streikhaus kann man dieses Gefühl in einer Art Mikrokosmos erleben. Durch diese Erfahrung, erklärt Berfin, kann dies nachher auch im öffentlichen Raum eingefordert werden. «Es geht hier im Streikhaus auch darum, Strategien für den persönlichen Alltag zu erarbeiten. Ein ‹safer space› bedeutet für jede Person etwas anderes.» «Safer», also sicherer, bezeichnen die beiden das Streikhaus, weil sich die Menschen hier sicherer fühlen als im öffentlichen Raum. Denn viele Frauen und Flint-Personen fühlen sich nicht überall im öffentlichen Raum wohl. Ein klassisches Beispiel: Eine Frau läuft alleine nach dem Ausgang nach Hause und kommt an einer Gruppe Männer vorbei, die ihr Sprüche hinterherrufen. Diese Erfahrung dürfte vielen Frauen bekannt vorkommen – sie zeigt, dass sich die Geschlechter im öffentlichen Raum mit unterschiedlicher Selbstverständlichkeit bewegen. Für Menschen, die nicht heterosexuell sind, wird diese Diskriminierung vervielfacht: Lesbische Frauen etwa, die sich nicht trauen, ihre Partnerin in der Öffentlichkeit zu küssen, oder schwule Männer, die nicht Händchen halten, da sie fürchten, verprügelt zu werden. Dies geschieht auch in der Schweiz noch immer, etwa nach der letztjährigen «Pride» oder vermehrt im Vorfeld der Abstimmung über die Erweiterung der Anti-Diskriminierungsstrafnorm im Februar. Im hinteren Teil des Obergeschosses gibt es einen Ruheraum, hierher konnten sich an der Eröffnungsparty im September alle LEA , STREIKKOLLEK TIV diejenigen zurückziehen, denen der Lärm zu viel wurde. Solche Rückzugsräume hat das Kollektiv überall im Haus eingerichtet. Über eine schmale Treppe gelangen wir, von Rotlicht beleuchtet, hinunter in den ersten Stock. Hier sind mehrere Sitzungsräume und das Lager des Gratisladens im Erdgeschoss: ein grosser Haufen Kleider, Schuhe, Taschen, angesammelt durch private Spenden oder das Leeren des eigenen Kleiderschranks von Mitgliedern des Kollektivs. Im Raum daneben befinden sich, säuberlich aufgeräumt und in Regalen verstaut, Utensilien der verschiedenen externen Gruppen, die sich im Haus einquartiert haben, wie etwa Flyer der Gruppe

«Es heisst, der öffentliche Raum sei für alle offen. Aber das stimmt nicht, wenn man genau schaut.»

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«Ni Una Menos». Ursprünglich in Argentinien gegründet, hat sich in Zürich ein Schweizer Zweig der feministischen Gruppierung gebildet. «Nicht eine weniger» bedeutet der Name auf Deutsch, die Gruppe macht auf Femizide aufmerksam – also Morde an Frauen, die umgebracht wurden, weil sie Frauen sind. Es ist diese sexistische Gewalt, die Berfin und Lea von allen feministischen Anliegen mit am meisten beschäftigt: In der Schweiz ermordet im Schnitt alle zwei Wochen ein Mann eine Frau. «Immer, wenn ein Femizid begangen wird, ruft die Gruppe am darauffolgenden Donnerstag auf dem Ni-una-menosPlatz zu einer Kundgebung auf.» Gemeint ist der Helvetiaplatz, «wir haben den für uns umbenannt», erzählt Lea. 2020 war dies bereits fünfmal der Fall. An der Wand hängt ein kleines Plakat: «Be careful with each other, so we can be dangerous together.» Vieles im Haus ist noch am Entstehen, etwa die feministische Bibliothek im hinteren Teil des ersten Stocks. Noch ist der Raum etwas karg eingerichtet und ausgerüstet, aber einige Werke liegen bereits auf dem Tisch: «Frauen im Laufgitter» von Iris von Roten, «Fleischmarkt» von Laurie Penny oder «Vergewaltigung» von Mithu M. Sanyal. Im Erdgeschoss betreten wir den Bewegungsraum mit wunderschönem Parkettboden und einem riesigen Spiegel. Hier finden Tanzkurse statt, aber auch Unterricht in Kampfsport, Yoga, verschiedenen Tanzarten und Theater werden angeboten. Das Programm wird von verschiedenen Externen zusammengestellt, die Räume werden kostenlos vergeben. Als Gegenleistung wird ein Engagement im Haus erwartet – zum Beispiel Putzdienst. Wir gehen vorbei an einem weiteren Ruheraum, «Das ist kein Hängerraum» steht auf einem Zettel an der Tür. Im Innern: zwei Sofas, ein Schrank, ein kleines BERFIN, STREIKKOLLEK TIV Regal in der Ecke, am Boden ein Teppich. Die Infrastruktur für die Kinderbetreuung müsse noch dringend ausgebaut werden, sagt Lea. Einmal im Monat trifft sich das Kollektiv zur Haussitzung, hier können externe Gruppen vorsprechen, wenn sie im Haus etwas machen wollen. Später sitzen wir im Erdgeschoss auf gemütlichen, bunt zusammengewürfelten Sofas und trinken Mate-Tee. Im hinteren Teil des grossen Raums ist die Bar. Betrieben wird sie von der AG Heldin*nenb*ar, die sich zusammengefunden hat. Der Blick geht auf einen grossen Garten mit einer Schaukel, einem Sandkasten – und Platz für eine kleine Bühne. «Im Sommer würden wir gern ein Festival veranstalten, stell dir vor, wie schön das wäre hier im Garten», sagt Lea. Manchmal spielen die Kinderbetreuerinnen von der Autonomen Schule Zürich im Garten mit den Kids, bei ihnen selbst gebe es zu wenig Räume, ergänzt Berfin. Das Haus umfasst 720 Quadratmeter, die Miete kostet 2700 Franken im Monat. Ein Glücksfall, ein solches Haus

«Wir erreichen durchaus Leute ausserhalb der feministischen Bubble.»

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mitten in Zürich gibt es eigentlich gar nicht. Bezahlt wird die Miete mit Spenden von Privatpersonen, Genossenschaften und gewerkschaftsnahen Vereinen und den Einnahmen an Solipartys. «Ich habe das Inserat dafür gesehen und es an verschiedene Mitglieder des Kollektivs weitergeleitet», sagt Berfin. Vor dem Frauenstreik im letzten Juni hielt das Kollektiv seine Sitzungen entweder bei Park Platz, einer Zwischennutzung auf dem ehemaligen Parkplatz neben dem alten Bahnhof Letten, oder in Büros von verschiedenen Gewerkschaften oder im Maxim Theater ab. «Das war immer ein Stress, und es war eigentlich schon lange klar, dass wir eigene Räume brauchen.» Vorbereitungen für den Weltfrauentag Der Stress war dann auch der Grund für die Bewerbung, als das Haus im letzten Sommer von der Raumbörse Zürich ausgeschrieben wurde. Die Bewerbung wurde von ungefähr dreissig verschiedenen Leuten gemeinsam geschrieben. «Ich glaube, es war deshalb so gut, dass wir sofort in die engere Auswahl kamen und letztlich den Zuschlag erhalten haben», sagt Berfin. «Wie gross das Kollektiv ist, ist schwer zu sagen.» Vor dem Frauenstreik seien bis zu achtzig Menschen an den Vorbereitungssitzungen gewesen: Menschen mit und ohne Aufenthaltsbewilligung, mit und ohne Verantwortung für Kinder, People of Colour, in queeren und hetero Beziehungen, jung und alt, mit und ohne Beeinträchtigung, mit bezahlter, unterbezahlter oder unbezahlter Arbeit. Aber was ist mit den Menschen, die sich vom Streik nicht angesprochen fühlen? «Wir erreichen durchaus Leute ausserhalb der feministischen Bubble», meint Berfin. «Aber wenn jemand total antifeministisch eingestellt ist oder unsere Anliegen als unwichtig empfindet, dann sind wir natürlich der falsche Ort.» Das Streikbüro ist freitagnachmittags von 15 bis 19 Uhr geöffnet und neben zahlreichen AG-Sitzungen findet zudem an jedem ersten Samstag im Monat ein grosses feministisches Vernetzungstreffen statt. Aktuell laufen die Vorbereitungen für den nächsten Streik: Der findet am 8. März statt, dem Weltfrauentag. Im Fokus steht dieses Mal der Care-Bereich – Menschen, die in der Kinderbetreuung arbeiten, aber auch Mütter und Grosis werden auf dem Flyer angesprochen. Treibende Kraft ist neben dem Streikkollektiv die Zürcher Trotzphase, eine Gruppe von Fachpersonen aus der Kinderbetreuung. Die Mitglieder setzen sich gegen ausbeuterische Anstellungsverhältnisse in Kitas ein. Für Lea und Berfin ist die feministische Arbeit mit dem letztjährigen Frauenstreik erst richtig angelaufen. «Es war so ermächtigend, zu sehen, wie viele wir sind», sagt Lea. Dass rund um den Globus Mächte an Einfluss gewinnen, die lang erkämpfte Frauenrechte wieder beschränken wollen, stimmt die beiden nachdenklich. Aber für Berfin ist klar: «Das bedingungslose Einfordern von Raum bereitet mir seit dem Frauenstreik keine Mühe mehr. Im Gegenteil: Wir sind viele, wir sind laut, und wir lassen uns nicht mehr das Wort verbieten.» * Namen geändert

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Ein letztes Zuhause Hospiz Wenn Obdachlose sterben, sind sie oft allein. Im europaweit ersten

Obdachlosenhospiz werden sie auf ihrem letzten Weg begleitet. Statt anonym auf der Strasse oder in der Notschlafstelle sterben sie hier in Geborgenheit. TEXT RIKE UHLENKAMP

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Katze Sara ist von einem der ehemaligen Gäste des Hospizes ßbriggeblieben.

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«An das Sterben kann man sich nicht gewöhnen»: Pflegerin Anette Erdelji (rechts) im Gespräch mit Leiterin Désirée Amschl-Strablegg.

Sie waren verabredet. Doch Hans Mitterbacher ist nicht da. Seit mehr als einer Stunde warten drei Frauen im kleinen Büro des Hospizes auf ihn. Er weiss, dass er Visite hat. Doch statt nach seiner Bestrahlung im Krankenhaus direkt zurückzukehren, geht er spazieren. Spazieren, das heisst für ihn: früher oder später im Wirtshaus «Zu den drei goldenen Kugeln» zu landen, nur wenige hundert Meter vom Hospiz entfernt. Dort trinkt er Bier, raucht. «Das passiert», sagt Désirée Amschl-Strablegg. Die 45-Jährige leitet das Team der Palliativpflege im Vinzidorf-Hospiz, Europas erstes und bisher einziges für obdachlose Menschen. Im April 2017 eröffnete es auf dem Friedhofsgelände der St. Leonhard-Gemeinde im Osten von Graz. Menschen ohne festen Wohnsitz, Krankenversicherung, Geld, mit bewegenden Lebensgeschichten und schwerkrank, finden hier ein Zuhause. Manchmal ihr erstes, fast immer ihr letztes. Das Leben derjenigen, die durch alle Netze der Gesellschaft gefallen sind, in ihr keinen Fuss mehr fassen können, endet oft allein, einige sterben auf Parkbänken oder in Notschlafstellen. Viele von ihnen meiden Krankenhäuser, Palliativstationen und Hospize. «Mit ihrer unkonventionellen Art zu leben tun sie sich mit den Strukturen in herkömmlichen Einrichtungen sehr schwer», erklärt Amschl-Strablegg. Die Todkranken fühlen sich nicht verstanden und beispielweise durch die Forderung, auf Alkohol zu verzichten, ihrer Freiheit beraubt. «Wir versuchen, auf ihren eigenwilligen Lebensstil einzugehen», sagt AmschlStrablegg. Auch im Obdachlosenhospiz gibt es Regeln. Eine Nachtruhe, zum Schutz der Bewohner. Doch Bier und Wein, Zigaretten, Besuch von Freunden von der Strasse sind erlaubt. In dem von Spenden finanzierten Hospiz gibt es Platz für zwei «Gäste», wie die Bewohner hier genannt werden. Eine Betreuerin Surprise 470/20

steht rund um die Uhr bereit, eine Gruppe von Pflegekräften und Medizinern kümmern sich, dazu ehrenamtliche Mitarbeitende. Betritt man das Haus, erinnert wenig an einen Ort des Sterbens. In der Wohnküche flimmern Musikvideos über den Fernsehbildschirm, es riecht nach Poulet vom Mittagessen. Sara, die Katze eines ehemaligen Bewohners, hat sich in einem der Wäschekörbe im Flur zusammengerollt und schnurrt. Nur wer genau hinschaut, findet Hinweise, dass Menschen hier ihre letzten Lebensmomente verbringen, zum Beispiel eine Vase voller Steinchen, die in der Küche steht. Eine Helferin hat auf sie die Namen der Verstorbenen geschrieben: Michael, Ondre, Herr Ludwig. Leben und Sterben in enger Gemeinschaft Zum Sterben mussten viele der Gäste nur über einen schmalen Weg gehen. Sie kamen aus dem Vinzidorf. Die Containersiedlung, die direkt gegenüber vom Hospiz liegt, wurde vor mehr als 25 Jahren von Wolfgang Pucher gegründet. In Graz als der «Armenpfarrer» bekannt, wollte er wohnungslosen und chronisch alkoholkranken Männern eine Heimat geben, die sie sonst nirgendwo in der Stadt finden. Anders als in Notschlafstellen und anderen Obdachlosenasylen darf jeder einen sieben Quadratmeter grossen Container so lange bewohnen, wie er möchte. «Als wir überlegten, wo das Hospiz in Graz eröffnet werden soll, war schnell klar, dass hier der richtige Ort dafür ist», sagt Désirée Amschl-Strablegg. Seit sieben Jahren arbeitet sie als Leiterin der Palliativstation im Grazer Elisabethinnen-Krankenhaus. Nonnen des Ordens hatten die Idee zu dem Hospiz. Auch Hans Mitterbacher ist aus dem Dorf in das Hospiz gezogen. Noch gehört ihm Container Nummer 2a. Auf seinem Bett liegt eine Gitarre, an der Wand hängen Postkarten und Magazinschnip21


sel idyllischer Berglandschaften. Die Leiterin des Dorfes, Sabine Steinacher, musste ihm versprechen, dass alles in seinem Container bleibt, wie es ist – bis er zurückkommt oder stirbt. Vor vier Jahren kam Mitterbacher das erste Mal ins Vinzidorf, war schon damals Alkoholiker, hatte mehrere Schlaganfälle hinter sich, schwere Leberschäden und war inkontinent. Schnell wurde klar, dass er in diesem Zustand im Dorf nicht versorgt werden konnte. Er ging in ein Pflegeheim, kümmerte sich dort um Hasen, Ziegen, Katzen. Das tat ihm gut. Auch körperlich ging es ihm schnell besser. Doch als er die starren Regeln des Heimes, vor allem das Alkoholverbot, nicht mehr aushielt, zog er aus, irrte umher, schlief auf der Strasse, in Notunterkünften. Im April 2018 kehrte er ins Vinzidorf zurück. Doch nur wenig später verschlechterte sich sein Zustand erneut. Er verlor viel Gewicht, war ständig heiser. Im Herbst vergangenen Jahres bekam er die Diagnose: Kehlkopfkrebs. Mehrmals die Woche wird der Tumor bestrahlt. Um ihm das Atmen zu erleichtern, wurde eine Kanüle eingesetzt, dazu eine Magensonde gelegt. Ihn erneut in ein Heim zu schicken, brachte Sabine Steinacher nicht übers Herz. «Wir hätten ihn damit wieder aus der Umgebung, die ihm vertraut ist, herausgerissen.» Hans Mitterbacher hatte Glück. Ein Bett im Hospiz wurde frei. Nur ein paar Schritte von seinem Container entfernt kümmert sich Anette Erdelji rund um die Uhr um ihn, püriert ihm Bananenmilch, wenn er vor Schmerzen kaum schlucken kann, sucht ihm Hemden, Pullover und Jacken aus einem Lager gespendeter

Kleidung aus, hört ihm zu. «Es ist nichts mehr von mir da», röchelt Hans Mitterbacher. Langes Sprechen fällt ihm schwer. Er schaut an sich herunter, hebt seinen dünnen Arm. «Die zwanzig Kilo weniger merke ich.» «Natürlich merken Sie die», antwortet Erdelji, die vor ihm sitzt. Mitterbacher, dessen Wangen eingefallen sind, hat sein T-Shirt hochgezogen, den Zugang zu der Magensonde freigelegt. Die Pflegerin drückt einen hellen Brei durch die Spritze in den Sondenschlauch. «Sind Sie nervös?», fragt die 47-Jährige mit dem rollendem R ihres kroatischen Akzents. Sie nimmt seine rechte Hand, drückt sanft zu. Lächelt. «Wir zwei, wir schaffen das.» Kein Kontakt zur Familie Vor 64 Jahren in Kärnten geboren, wuchs Mitterbacher mit vier Geschwistern in der Oststeiermark auf, lernte Automechaniker und Elektriker. Später verpflichtete er sich als Soldat und ging mit dem Bundesheer nach Zypern. Er heiratete, bekam eine Tochter. Im Hospiz besucht ihn niemand. Zu seiner Familie, seiner Tochter hat er keinen Kontakt. Er braucht lange, um Menschen zu vertrauen, um Hilfe anzunehmen. Doch Anette Erdelji gibt nicht auf. Seitdem er in das Hospiz eingezogen ist, hat er 2 Kilo und 200 Gramm zugenom-

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Viele Gäste kommen aus dem Containerdorf gegenüber.

Hospizbewohner Hans Mitterbacher ist mittlerweile verstorben.

men. Wenn sie von diesem kleinen Erfolg berichtet, spürt man einen kurzen Moment ihre Hoffnung. Ginge er regelmässig zur Bestrahlung, könnte sich sein Zustand doch vielleicht stabilisieren? Vielleicht könnten dann die Kanüle und die Magensonde entfernt werden? Vielleicht könnte er dann doch noch einmal zurück in seinen Container ziehen? Er wäre nicht der erste Gast des Obdachlosenhospizes, den die Pflegerinnen und Ärzte aufgepäppelt haben. Der vielleicht letzte Abschied Insgesamt siebzehn Menschen sind seit Bestehen im Hospiz untergekommen. Neun Monate dauerte der längste Aufenthalt. Josef dagegen war nur ein Wochenende da. Während Hans Mitterbacher und Anette Erdelji vor der Tür des Hospizes eine Zigarette rauchen, flackert neben ihnen eine Kerze. Sie wird angezündet, wenn einer der Gäste stirbt. Josef ist bereits der zweite Mitbewohner, den Mitterbacher innerhalb von drei Wochen verliert. «Wenn jemand stirbt, dann ist es für den anderen Bewohner sehr schwer», sagt Anette Erdelji. «Hans hat zu mir gesagt, als Nächstes bin ich an der Reihe.» Sie sitzt im Schaukelstuhl in der Ecke des Wohnzimmers. Auf ihrem Schoss liegt ein Notizbuch mit Erinnerungen an die Verstorbenen. Ein paar Zeilen Text, einige Bilder. Erdelji blättert durch die Seiten. Sie schmunzelt. «Es heisst immer, dass es mit jedem Mal leichter wird, so ist es aber nicht. An das Sterben kann man sich nicht gewöhnen», sagt sie. «Es schaut schön aus bei uns, wir haben viel Spass, aber wenn du das Leid und die letzten Stunden begleitest, ist das schon sehr hart.» Am nächsten Morgen müssen sich Anette Erdelji und Hans Mitterbacher verabschieden. Er geht spazieren, hat sich Mantel und Hut angezogen, Erdelji fährt nach drei Wochen in Graz nach Surprise 470/20

Hause, zu ihrem Mann und ihren zwei Kindern nach Kroatien. Für die nächsten Wochen kümmert sich eine andere Pflegerin um Mitterbacher. Er umarmt sie, streichelt ihr über den Hinterkopf durch ihre kurzen Haare. «Immer schön brav essen, hörst du!», sagt sie. «Zu Befehl», erwidert er, lupft seinen Hut, schiebt ihn ein Stück aus der Stirn und verschwindet in der kalten Luft. Obwohl sich Anette Erdelji für ihre Heimreise Make-up aufgelegt hat und eine bunte Bluse trägt, wirkt sie müder und trauriger als sonst. Ob der Mensch, mit dem sie ihren Alltag teilt, noch lebt, wenn sie zurückkehrt? Sie weiss es nicht: Jeder Abschied kann der letzte sein. Zwei Monate nach der Recherche starb Hans Mitterbacher im Vinzidorf-Hospiz. Er hörte auf, zur Bestrahlung zu gehen, pfiff auf alle Ratschläge. «Damit hat er uns eine wunderbare Lektion gelehrt», schreibt Désirée Amschl-Strablegg in der Nachricht, in der sie den Reportern den Tod mitteilt. «Genau damit konnte er bis zum letzten Tag tun, wonach ihm der Sinn stand ... leben!»

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«Es geht hier um eine geteilte Verantwortung» Fotografie Das Fotomuseum Winterthur zeigt die Wanderausstellung

«Fotografinnen an der Front». Direktorin Nadine Wietlisbach sagt, wieso es wichtig ist, die Ursprünge der Kriegsfotografie zu verstehen.

«Fotografinnen an der Front» ist primär eine historische Ausstellung, die zurückschaut. Glücklicherweise gibt es immer mehr Fotojournalistinnen und Korrespondenten aus betroffenen Regionen, die der Welt ihre Sicht zeigen. Doch in der Vergangenheit stammten die meisten Fotografinnen und Fotografen an der Front aus dem Westen. Als Spartenmuseum richten wir unseren Fokus auf die Wurzeln der Kriegsfotografie. Es ist wichtig, die Ursprünge zu kennen, um den Wandel zu verstehen, der sich in dieser Branche vollzieht.

Die acht Fotografinnen in der Ausstellung stammen aus westlichen Ländern, doch gezeigt werden Bilder aus allen Weltregionen. Wieso wird ein rein abendländischer Blickwinkel gezeigt?

«Fotografinnen an der Front», Ausstellung, 29. Februar bis 24. Mai, Fotomuseum Winterthur, Di bis So 11 bis 18 Uhr, Mi bis 20 Uhr (Mi 17 bis 20 Uhr freier Eintritt), Grüzenstrasse 44/45. fotomuseum.ch

FOTO: ANNE MORGENSTERN

Nadine Wietlisbach, der Titel dieser Ausstellung, «Fotografinnen an der Front», lässt vermuten, dass es in der Kriegsfotografie einen spezifisch weiblichen Zugang geben muss. Ist dem so? Nein. Für die Fotografinnen gelten die gleichen Regeln wie für ihre männlichen Kollegen. In muslimischen Ländern wird ihnen zwar eher Zugang zu Care Institutionen oder in Familien gewährt, aber ansonsten gibt es keine Unterschiede. Diese Ausstellung möchte aber explizit darauf aufmerksam machen, dass Kriegsberichterstattung keine reine Männerdomäne ist und dass bereits während des Zweiten Weltkriegs Frauen wie zum Beispiel die Amerikanerin Lee Miller die Gräuel des Krieges festhielten. Millers Bilder vom Vormarsch der Alliierten in der Normandie gegen das Deutsche Reich 1944 sind von Hass geprägt. Sie sind ungeschönt und direkt.

Geben Sie uns ein Beispiel, wo sich dieser Wandel zeigt. Es geht um die Tatsache, dass sich Bilder heute viel schneller verbreiten als der Kontext, in dem sie entstanden sind. Ein Foto, losgelöst vom Zusammenhang, in dem es gemacht worden ist, kann falsch Was treibt Frauen an, sich dem Risiko auszusetzen, interpretiert oder sogar für Propagandazwecke missWietlisbach bekam braucht werden. Denken wir zum Beispiel an die während ihrer Arbeit getötet zu werden? Die 2015 den Swiss Art Folterbilder aus Abu Ghraib, auf denen Mitglieder deutsche Fotografin Anja Niedringhaus wurde der US-Army 2004 mit Gefangenen posieren. Diese Award für ihre 2014 in Afghanistan getötet. Diese Korrespondentinnen sind radikale Persönlichkuratorische Arbeit. Bilder haben Soldaten gemacht. Der Kontext musste keiten, die sich sehr bewusst für einen entbehrungsim Nachhinein hergestellt werden, nachdem der reichen Werdegang entscheiden. Viele verzichten auf PartnerSkandal aufgedeckt worden war. Weil heute jeder jederzeit Fotos schaften oder Kinder. Ihr innerer Antrieb besteht darin, die machen und auch in Echtzeit verschicken kann, sind alle beteiligten Personen, die in schriftlicher oder visueller Form BerichtWeltgemeinschaft mit ihren Bildern zu informieren, Zusammenhänge offenzulegen und wachzurütteln. Die amerikanische Foerstattung betreiben, stark gefordert. Die umfassenderen Zusamtografin Carolyn Cole, die selber über bewaffnete Konflikte in menhänge müssen erklärt werden. Es geht hier um eine geteilte Liberia, im Kosovo oder im Irak berichtet hat, wird uns in einem Verantwortung. Gespräch am 1. März persönliche Einblicke in den Berufsalltag gewähren. Darf man im Zusammenhang mit Kriegsfotografie auch von Ästhetik sprechen? «Fotografinnen an der Front» zeigt Bilder von Kriegen, die im Kriegsfotografien entstehen nicht wie ein Gemälde als singuläre Bildkörper, sondern haben den Zweck, in den Massenmedien zu Zeitraum von 75 Jahren stattgefunden haben – und teilweise informieren. Sobald jemand durch eine Kamera blickt, tut sie immer noch toben. Was verbindet sie alle? dies aber auch immer mit einem gestaltenden Auge. Daraus kann Die Frage: Wie konnte es so weit kommen? Und das Elend. Ganz egal, ob es sich um den Kosovokrieg, den Zweiten Weltkrieg oder man keinen Vorwurf machen. Das Gestalten geschieht an der den Spanischen Bürgerkrieg handelt: Die Zeiten mögen sich änFront nicht aus künstlerischen Ambitionen, sondern aus jourdern, aber das Elend, das diese Kriege auslösen, ist immer das nalistischen Motiven heraus. gleiche.

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BILD(1): CAROLYN COLE / LOS ANGELES TIME BILD (2): SUSAN MEISELAS / MAGNUM PHOTOS BILD (3): ANJA NIEDRINGHAUS, PICTURE ALLIANCE / AP IMAGES

INTERVIEW MONIKA BETTSCHEN


Ein Held aus Papier Buch Das Bilderbuch «Ein Blatt im Wind»

ist eine heiter-melancholische Liebeserklärung an die Zeitung.

FOTO: ZVG

Es ist selten geworden: Das Rascheln von Zeitungspapier in Cafés oder Zügen. Vor allem das der grossen Blätter, in denen zu lesen eine Kunst ist, die Platz beansprucht. Auf Schlagzeilen, Sensationen und kurzes Lesefutter getrimmte Gratiszeitungen im Tabloid-Format und das Flimmern von Tablets und Smartphones haben überhandgenommen. Und auch wenn sich das Medium Zeitung trotz schwindender Auflagen noch hält, so hat es doch etwas Nostalgisches an sich. Doch ganz abgesehen von der Diskussion um Wert und Bedeutung von Zeitungen, um Inhalt und Relevanz – eine Zeitung kann noch mehr sein als bedrucktes Papier. Daran erinnert uns das Bilderbuch «Ein Blatt im Wind» des kolumbianisch-argentinischen Autorenduos José Sanabria und María Laura Díaz Dominguez. Das Buch erzählt eine heiter-melancholische Geschichte, in der eine Zeitung höchstselbst der Protagonist ist. Ein Held aus Papier, der mit vielen anderen an einem etwas unwirtlichen Ort geboren wird und in die grosse Welt aufbricht. Doch während all seine Geschwister schon bald über die Kiosktheke hinweg ihre übliche Bestimmung finden, wird unser Held von einem Wind erfasst, seine Seiten flattern auseinander und treten jede für sich eine Reise an. Es sind lauter kleine Abenteuer, die vor uns aufblättern. Manches, was die Blätter erleben, mag rein praktischer Natur sein, anderes ist dafür umso poetischer. Denn die Zeitungsseiten dienen nicht nur zum Putzen, Auslegen und Einwickeln. Natürlich kann man sie auch falten, zum Schiffchen oder zur bunt gefleckten Malermütze. Oder Schutz darunter finden, wie etwa ein Liebespaar im Schneegestöber (welches Tablet oder Smartphone wäre dazu in der Lage?). Die Seiten trösten und wärmen, begegnen Freude und Leid. All das gesehen aus den Augen der Zeitung selbst, die dabei immer auch auf der Suche nach ihrer eigentlichen Bestimmung ist. Zu guter Letzt findet sie diese auch. Und macht durch eine Nachricht einen Mann so glücklich, dass er – wie «ein Blatt im Wind» – beflügelt abhebt. Mit diesem bunten Geschichtenreigen und den farbenreichen Illustrationen, die Anklänge an die naive Malerei haben, liest sich «Ein Blatt in Wind» wie eine Liebeserklärung an das Medium Zeitung. Eine Liebeserklärung, die an Kindheitserinnerungen anknüpft, an eine Zeit, in der Zeitungen über ihren Inhalt hinaus die Fantasie beflügeln konnten. CHRISTOPHER ZIMMER

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José Sanabria, María Laura Díaz Dominguez: Ein Blatt im Wind NordSüd 2018 CHF 23.90

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BILD(1): JUNGES THEATER BASEL, BILD(2): STAPFERHAUS / ANITA AFFENTRANGER, BILD(3): THEO GLINZ / KUNSTMUSEUM THURGAU BILD(4): BETONY VERNON / ALI MAHDAVI

Veranstaltungen

Basel «UNTITLED [2020]», Theater, Do, 12. März, Fr, 13. März; Mi bis Fr, 18. bis 20. März, Do und Fr, 26. und 27. März, weitere Daten bis Do, 30. April, je 20 Uhr, Junges Theater Basel, Kasernenstr. 23. jungestheaterbasel.ch

Wer ab und zu das Gefühl hat, Theater sei irgendwie zu einer leicht überholten Gattung geworden, der muss mal wieder ins Junge Theater Basel, um festzustellen: Dem ist nicht so. Hier werden die Themen auf die Bühne geworfen, die unsere Welt definieren, unser Denken bestimmen, die wehtun und Lust machen. Jetzt gastiert Henrike Iglesias hier, und auch Henrike ist nicht irgendwer. Sondern ein queerfeministisches Theaterkollektiv, das gerne Rollenbilder zerfetzt. Gemeinsam mit sechs jungen Baslerinnen schaut sich Henrike Iglesias in UNTITLED [2020] das emanzipatorische Potenzial von Selbstporträts und Erzählungen über das frauliche Selbst an und fragt zum Beispiel: Welche Versionen von uns wollen wir mit anderen teilen? (Ein paar Möglichkeiten kennen wir ja schon: Frauen, die gerettet werden. Frauen, deren Kopf es nicht aufs Bild geschafft hat. Frauen, die auf Kühlerhauben DIF liegen. Das kann ja nicht alles sein, finden auch wir.)

Lenzburg «FAKE. Die ganze Wahrheit», Ausstellung, bis 28. Juni, Di bis So 9 bis 17 Uhr, Do bis 20 Uhr, jeden Sonntag um 11 Uhr öffentliche Einführung, Stapferhaus Lenzburg, Bahnhofstrasse 49. stapferhaus.ch Dass es in der Literatur so etwas wie einen unzuverlässigen Erzähler geben kann, ist etwas vom Bes-

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ten, was man in der Schule lernt. Also einen Erzähler, der – wie man mit der Zeit merkt – selbst nicht vertrauenswürdig ist. Das ist grossartig und ein bisschen gruselig. Wenn nun das Stapferhaus zu einem «Amt für die ganze Wahrheit» wird und zu Beginn ein sogenannter Chefbeamter eine Einweisung in die Materie gibt, scheint das ein wenig in die gleiche Richtung zu gehen – denn wer kann schon für sich beanspruchen, die «ganze Wahrheit» zu erklären? Das Stapferhaus widmet sich in seinen Ausstellungen drängenden zeitgenössischen Fragen und hat mit dem Fake voll ins Schwarze getroffen. Das Wort können wir vielleicht schon nicht mehr hören, aber hier geht es um mehr als nur Fake News. Sondern darum, was man

mit der Wahrheit alles anstellen kann. – Ehrlich währt am längsten? «Fake» währt aber auch schon sehr lange. Die Ausstellung läuft seit 2018 und ist jetzt bis Juni verlängert worden. DIF

Warth TG «Konstellation 10 - Nackte Tatsachen», Ausstellung, bis Ostermontag, 13. April, Mo bis Fr 14 bis 17 Uhr, Sa und So 11 bis 17 Uhr, Kunstmuseum Thurgau, Ittinger Museum, Kartause Ittingen. kunstmuseum.tg.ch Kleider sind nicht nur funktionale Dinge, sondern waren schon immer auch Zeichen und Bedeutungsträger – man denke nicht nur an Angesagtes wie Hoodies oder Versace, sondern auch an die Uniform, das Ornat, die Mönchskutte oder die Handwerkerkluft. Aber: Auch der nackte Körper ist Bedeutungsträger. Adam und Eva streifen in nackter Unschuld durch das Paradies. Und es ist nur ein Fetzen, der die Blösse des leidenden Jesus am Kreuz verdeckt. Figuren werden entblösst, wenn es um existenzielle Verletzlichkeit oder Verführung geht. Und der schöne Körper ist in der Kunst oft eine Vorstellung von göttlicher Harmonie. Trolle und Ungeheuer dagegen sind hässliche Nackte, die alles Negative der menschlichen Natur – nun eben – verkörpern. Es sind diese symbolischen Aufladungen der Nacktheit, die das Kunstmuseum Thurgau zusammengetragen hat. DIF

Zürich «Rausch», diverse Veranstaltungen, «120 Tage im Rausch», Gruppenausstellung (Eintritt frei), bis Anfang Juli, Mo bis Sa, 9 bis 22 Uhr, Karl der Grosse, Kirchgasse 14. karldergrosse.ch Karls Thema ist bis in den Sommer hinein der Rausch. Der Zustand, der uns die Grenzen der eigenen Wahrnehmung ausloten lässt. Genauer kann man ihn fast nicht fassen, den Rausch. Weil er genauso

sehr angenehmes Sich-berauschen-Lassen sein kann (noch dazu von allem Möglichen wie Literatur, Sport, Sex und Einkaufen) wie natürlich auch ein hässlicher Zustand. Der Rausch ist facettenreich, und so suchen die Künstlerinnen und Künstler im Thema so Unterschiedliches wie Wahn und Vernunft, Ekstase und Mathematik, Fleischliches wie Geistliches. Die Autorin Jana Vanecek bloggt derweil im täglichen Schreibrausch auf furor-poeticus.ch, das Autorenkollektiv JETZT begibt sich auf einen literarischen Trip ins Dunkel der menschlichen Seele, und Ende April erklärt ein Sensorikexperte, wie der nichtsahnende Konsument beim Shopping mit bewegten Bildern, der richtigen Beleuchtung, Musik und gewissen Gerüchen ganz gezielt in den Kaufrausch gestürzt wird. DIF

Winterthur «Federn – wärmen, verführen, fliegen», Ausstellung, bis 1. Juni, Di bis So 10 bis 17 Uhr, Do bis 20 Uhr, Gewerbemuseum Winterthur, Kirchplatz 14. gewerbemuseum.ch Die Feder ist genial. Sie ist multifunktional, wärmt, fliegt. Federt. Schmückt, tarnt. Hält trocken. Alles Fähigkeiten, die man sonst eher von modernen Hightech-Materialien kennt. Die Feder aber ist ein Kunststück der Natur und kommt dennoch alltäglich daher. Aber nicht etwa banal: Sonst hätte sie nicht Eingang gefunden in Kulturgeschichte, Design, Kunst und Popkultur. Die Ausstellung im Gewerbemuseum staunt, wirft aber auch einen kritischen Blick auf die Entwicklung der Biodiversität und das Geschäft mit Vogelfedern. DIF

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öfter setzen müssen. Eine Frau erklärt in einer slawisch klingenden Sprache einer Reisegruppe ausführlich etwas, wahrscheinlich die Bedeutung Tinguelys, die sich nicht in zwei oder drei Sätzen abhandeln lässt. Oder die Geschichte der Brunnenenten. Immer wieder bleiben Menschen auf dem Trottoir stehen und schauen zuerst aus sicherer Distanz, ob nicht die Gefahr besteht, bespritzt zu werden, und wagen sich erst dann vorsichtig näher. So auch vier Herren aus dem benachbarten Süddeutschland. Sie erkundigen sich, wo der Bahnhof sei, misstrauen aber den gegebenen Erläuterungen. Ihrer Ansicht nach müsste sich der Bahnhof im Norden befinden, während der Wegweisende nach Südwesten zeigt, wie anhand des Sonnenstandes ermittelt wird. Vielleicht suchen sie ja den Badischen Bahnhof, während er auf den Bahnhof SBB deutet. Andernorts hiessen diese Nordbzw. Südwestbahnhof, und damit wäre die Sache klar.

Tour de Suisse

Pörtner in Basel Surprise-Standort: Theater Basel Einwohnerinnen und Einwohner: 200 408 Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 37,7 Sozialhilfequote in Prozent: 6,7 Anzahl Liter Wasser im Tinguely-Brunnen: 55 000

Auch wenn das auf der anderen Strassenseite gelegene Stadtcasino gerade umgebaut wird, ballt sich hier auf engem Raum eine Menge Kultur. Das Theater Basel, vor dem eine begehbare Eisenplastik steht, das Stadt- und ein Kult-Kino, die Kunsthalle, ein Comicladen, dazu temporär ein Fonduestübli. Nicht zu vergessen: der Tinguely-Brunnen, der für Glatteisgefahr auf dem Gehweg sorgt, wie ein Schild warnt. Kunst kann gefährlich sein. Oder auch nicht, denn auch auf den umliegenden Treppen wird vor Glatteis gewarnt, und so weit spritzt der Brunnen nun auch wieder nicht. Ohnehin droht keine Glatteisgefahr, weil es viel zu warm ist.

ten oder für eines jener Hefte, die in den Sitztaschen von Flugzeugen stecken und Städte, die von der Fluggesellschaft angeflogen werden, mit spektakulären Bildern zu begehrlichen Reisezielen aufhübschen. Ein Mann setzt sich und zündet eine Original Krumme an. Solches Räucherwerk wird eigentlich nur weit, weit draussen auf dem Land oder an Schwingfesten vermutet, nicht an Hotspots urbaner Hochkultur. Auf der tiefer unten gelegenen Terrasse spielen Kinder, scheuchen die Tauben auf, während sich der Fotograf der Ente widmet, die durch den Brunnen schwimmt. Am Ende ist er im Auftrag einer Ornithologiefachzeitschrift unterwegs.

Ein Fotograf hat sich mit seinem Stativ vor dem Brunnen aufgebaut. Er mag im Auftrag des Tourismusbüros oder einer internationalen Lifestyle-Zeitschrift arbei-

Der Brunnen hat eine anziehende Wirkung auf junge Eltern mit Kleinkindern, alte Leute, Touristen und Raucher, kurzum auf alle, die Zeit haben oder sich

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In der offenen Kirche Elisabethen tagt eine geschlossene Gesellschaft. Das Grenzwachtkorps wacht darüber, dass keine Unbefugten sich Zutritt verschaffen. Das Café, das in der Kirche untergebracht ist, ist offen. Die Aussenplätze sind gut belegt und bieten Aussicht auf die Glaspyramiden, die an den Innenhof des Louvre erinnern, wenn man schon lange nicht mehr im Innenhof des Louvre war. Aus dem Innern der Kirche schmettert ein Marsch. Es klingt, als spiele ein ganzes Orchester, als finde die Beerdigung einer wichtigen Persönlichkeit statt, eines verdienten Grenzwächters vielleicht. Die jungen Menschen draussen an den Tischen trinken unbeeindruckt «Unser Bier».

STEPHAN PÖRTNER

Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01 Madlen Blösch, Geld & so, Basel 02 Zubi Carosserie, Allschwil 03 Kaiser Software GmbH, Bern 04 Schluep & Degen, Rechtsanwälte, Bern 05 RLC Architekten AG, Winterthur 06 Stellenwerk AG, Zürich & Chur 07 Neue Schule für Gestaltung, Bern 08 SpringSteps GmbH, Bülach 09 Steuerexperte Peter von Burg, Zürich 10 Büro Dudler, Raum- und Verkehrplanung, Biel 11

Infopower GmbH, Zürich

12 Dr. med. dent. Marco Rüegg, Herzogenbuchsee 13 Peter Gasser Schreinerei AG, Feuerthalen 14 Barth Real AG, Zürich 15 Hedi Hauswirth, Psychiatrie-Spitex, Oetwil a. S 16 Ruggle Partner, Rechtsanwalt/Mediation, ZH 17 Al Canton, azienda agricola biologica, Le Prese 18 Happy Thinking People AG, Zürich

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten Josiane Graner, Juristin, wurde in ihrem Leben von schweren Schicksalsschlägen getroffen. Sie kämpft und steht immer wieder auf. Ein Geschäftsprojekt, das sich zum Flop entwickelte, führte sie 2010 zu Surprise. Ihr Geschäftspartner hatte sich ins Ausland abgesetzt und sie mit dem Schuldenberg allein gelassen. Um ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu bestreiten, verkauft Josiane Graner in Basel das Strassenmagazin. Zudem ist sie für den Aboversand zuständig. Dank des SurPlus-Programms erhält sie ein ÖVAbonnement und Ferientaggeld. Diese Zusatzunterstützung verschafft der langjährigen Surprise-Verkäuferin etwas mehr Flexibilität im knappen Budget.

Die ganze Geschichte lesen Sie unter: surprise.ngo/surplus

19 Stefan Mörgeli Beratungen, Meilen 20 SONNENREIFE, Mo Ruoff, Basel 21 Maya-Recordings, Oberstammheim 22 Wortstark, Zürich 23 Praxis Carry Widmer, Wettingen 24 DD4U GmbH, IT Projektierung und Beratung 25 Gemeinnützige Frauen Aarau

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 15 Verkaufende des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlusProgramm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 | Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!


Wir alle sind Surprise

#467: Zeit der Utopien

#467: Zeit der Utopien

«Ausgezeichnet»

«Gut, dass man sich engagiert»

Als ehemalige Redaktorin von SRF gratuliere ich Ihnen allen zum Niveau von Surprise. Journalistisch und sprachlich sehr professionell, bringt es immer wieder auch schöne inhaltliche Überraschungen, beispielsweise Simon Jäggis ausgezeichneten Artikel «Zeit der Utopien» mit den Illustrationen von Luca Schenardi. Bitte einfach weiter so, und ich freue mich schon auf die nächste Begegnung mit «meinem» Surprise-Verkäufer.

Es ist doch klar, dass die erste Frage bei einer Begegnung nicht «Woher kommst du?» sein darf; sie tönt fordernd und ein wenig aggressiv. Wenn das Gespräch nun schon länger dauert und tiefer wird, ist jedoch dieselbe Frage meiner Meinung nach durchaus erlaubt. (Wir in den Ferien mögen es doch auch, freundlich nach unserer Herkunft gefragt zu werden; feindlich ignoriert zu werden macht Unwohlsein.) Ich kenne sogar Beispiele, wo Einwanderer sich leicht verärgert wunderten über das (vermeintliche) Desinteresse der Einheimischen, weil (aus Angst vor RassismusVorwürfen) nie nach dem Kulturhintergrund und nach der Lebensgeschichte gefragt wurde.

Es dämmert einmal mehr im Wald der sozialen Utopien! Wie hatte doch der Schriftsteller Max Frisch in seiner berühmten Frankfurter Friedensrede am 19. September 1976 gesagt: «Ohne Utopien wären wir Lebewesen ohne Transzendenz.» Von jeher will der Mensch seiner Sehnsucht nach Transzendenz Ausdruck verleihen. Das wird ebenso zur Herausforderung für Religionsgemeinschaften, die heute das Risiko eingehen müssen, angeschwärzt zu werden. Wenig Sinn macht es dabei, stets auf die Fehler der eigenen oder anderer Religionen hinzuweisen. Stattdessen ist Selbstkritik angesagt – am eigenen Lebensstil, an der neuen Sklaverei, die sich im Mega-Konsum online und offline austobt. Gut, dass nun erneut jugendliche Geister sich dafür engagieren.

W. LICHTENSTEIGER, Niederhasli ZH

S. SCHMID-KEISER, St. Niklausen LU

L. FREI, Basel

Korrigendum

#466: Nie wieder Wurzel-Smalltalk

«Kunst ist das Spiegelbild meiner Seele»

«Unwohlsein»

Hans Rhyner, Surprise-Stadtführer und -Verkäufer in Zürich, hat im Kulturbeitrag «Hauptsache, ihr seid da!» (Heft 469) Auskunft darüber gegeben, was ihm Kunst und Kultur bedeuten. Wir haben ihn dabei verjüngt: Hans Rhyner ist 65, nicht 42. Wir entschuldigen uns für den Fehler.

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Sara Winter Sayilir (win) Diana Frei (dif), Klaus Petrus (kp) Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

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Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Semhar Negash, Stephan Pörtner, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Felix Huesmann, Dina Hungerbühler, Sascha Montag, Timo Stammberger, Miriam Suter, Rike Uhlenkamp, Gabi Vogt

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name

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FOTO: KLAUS PETRUS

Surprise-Porträt

«Ich habe nie den Reichtum gesucht» «Müsste man mich beschreiben, wäre das passendste Wort wohl ‹Nomade› oder ‹Überlebenskünstler›. Mit siebzehn Jahren zog ich per Autostopp durch Europa, schlief draussen und lebte von Tag zu Tag. Später heuerte ich auf einem Öltanker an, gondelte um Afrika nach Kuwait. Ich lebte auch in Holland, doch das Reisefieber packte mich immer wieder. Nach Mexiko kam ich mit meinen letzten 500 Dollar. Um mich über die Runden zu bringen, verkaufte ich Comics. In die Hefte klebte ich Annoncen für meine Dienste als Sprachlehrer – so habe ich doppelt Geld verdient und auch meine Frau kennengelernt. Sie buchte mich als Sprachlehrer und rettete mich vor dem Verhungern. Vier Jahre lebten wir in Mexiko, dann zogen wir in die Schweiz. Wir besuchen die Familie in Mexiko regelmässig, aber dort zu wohnen ist nicht ungefährlich. Inzwischen bin ich ruhiger geworden. Ich kann auf ein bewegtes Leben zurückblicken. Dabei habe ich oft gedacht: «Huere Siech, was machi?!» Bisher habe ich immer eine passende Überlebensstrategie für mein Nomadendasein gefunden. Die Leute werden sehr erfinderisch, wenn sie nur genug tief in der Klemme stecken oder nicht so behütet aufwachsen. Bei mir war das so. Wir waren fünf Geschwister und sehr arm, die Jüngsten wurden weggegeben. Wenn ich bei meinen Eltern im St. Galler Rheintal war, halfen wir Kinder unserem «Nachbuur», um ein paar Kartoffeln zu ergattern. Als sich meine Eltern trennten, kam ich zu einem Bauern. Ich wurde nicht misshandelt, wie man das von anderen Verdingkindern hört. Aber für die Bauernfamilie war ich eine billige Arbeitskraft.

Réne Georges Senn, 68, verkauft Surprise in Zürich. Er hat immer eine Überlebensstrategie für sein Nomadendasein gefunden.

Teil wegsterben. Die Menschen, die neu ins Quartier ziehen, sind meist weniger offen. Es gibt solche, die schon seit sechzehn Jahren an mir vorbeilaufen, ohne mich nur einmal anzuschauen.

Wahrscheinlich wäre ich Analphabet geblieben, hätte es keinen obligatorischen Schulunterricht gegeben. Gerne wäre ich Koch geworden. Mein Vormund wollte aber, dass ich ‹AutoService-Mann› lerne. Das war während des Autobooms der Sechzigerjahre. Doch ich merkte schnell, dass dies kein Job für mich war. Irgendwann bin ich abgehauen, um die Welt zu entdecken. Nach meinem ersten Trip durch Europa kam ich 1969 nach Zürich – die Hippieszene war gerade im Aufschwung. Ich konsumierte Drogen und verkaufte Haschisch. Immer wieder arbeitete ich temporär als Angestellter. Insgesamt sechs Jahre war ich bei der Migros im Postbüro. Dann zog es mich wieder in die Ferne. Auf Reisen vergass ich die Drogen, war frei und unabhängig. Ich habe nie den Reichtum gesucht, ich brauchte meine Freiheit. Deshalb waren Temporär-Jobs das Richtige für mich. Doch irgendwann hiess es, ich sei zu alt dafür.

Ich fühle mich nicht alt, bin aber dem Tod schon einige Male knapp entkommen. So war ich während des grossen Erdbebens von 1985 in Mexiko-Stadt. Hätte unser Haus nicht wie durch ein Wunder gehalten, wäre unsere ganze Familie ausgelöscht worden. Wenn man an den zerstörten Häusern der Nachbarn vorbeiläuft und überall den Tod sieht, jedoch selbst verschont bleibt – das fährt einem ein. Schon als Kind bin ich dem Tod von der Schippe gesprungen. Als kleiner Junge fiel ich in eine Grube und wurde schwer verletzt. Ein paar Jahre später wäre ich beinahe ertrunken. Wenn ich auf mein Leben zurückschaue, muss ich sagen: Ich bin schon oft mit einem blauen Auge davongekommen. Daher bin ich für mein Leben sehr dankbar und mache das Beste daraus – trotz der vielen Steine im Weg.»

Und so kam ich zu Surprise. Seit über sechzehn Jahren verkaufe ich das Heft in Zürich beim Bahnhof Wiedikon und Enge. Ich schätze den Kontakt zu den Menschen, doch die Zeiten haben sich geändert. Früher hatten die Leute Zeit, heute rennen sie auf den Zug. Ich verliere immer mehr ältere Stammkunden, die zum

Aufgezeichnet von DINA HUNGERBÜHLER

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Sinnvoll schenken Starke Frauengeschichten Warum werden insbesondere armutsbetroffene Frauen «unsichtbar»? Wie (über-)leben Frauen auf der Gasse? Unsere Expertinnen zeigen bei den Frauenarmuts-Touren eine andere Seite von Zürich, Basel und Bern und geben Antwort auf diese Fragen.

Verschenken Sie einen Gutschein für einen Sozialen Stadtrundgang mit den Surprise Stadtführerinnen Sandra Brühlmann, Danica Graf, Franziska Lüthi oder Lilian Senn. Die Gutscheine können via Mail an info@surprise.ngo oder mit dem Talon bestellt werden.

Talon einsenden an: Surprise, Münzgasse 16, 4051 Basel Weitere Infos über die Sozialen Stadtrundgänge von Surprise unter: www.surprise.ngo/stadtrundgang

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GESUCHT: DER FAN-SCHAL FÜR DIE NATI 2020! Die Strassenfussball-Nationalmannschaft nimmt im Sommer 2020 am Homeless World Cup in Tempere (Finnland) teil – mit Ihrem Schal im Gepäck? Wie in den Jahren zuvor überreichen unsere Spieler auch in diesem Jahr ihren Gegnern zum Handshake handgemachte Fanschals. Machen Sie mit! Der Schal sollte zirka 16 cm breit und 140 cm lang sein, Fransen haben und – Sie hätten es erraten – in Rot und Weiss gehalten sein. Gestrickt, gehäkelt, genäht: alles geht! Die Spieler unserer Nati werden den schönsten Schal küren – der Gewinnerin oder dem Gewinner winkt ein attraktiver Überraschungspreis!

Bitte schicken Sie den Schal bis spätestens 1. Mai 2020 an: Surprise | Strassenfussball | Münzgasse 16 | CH-4051 Basel

NG, U T ACH TIG, FER EN! ICK STR


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