«Wir müssen für eine vielfältige Welt kämpfen» Lesben wurden nicht nur wegen ihrer Sexualität diskriminiert, sondern immer auch als Frauen, sagt die Historikerin Corinne Rufli. INTERVIEW KLAUS PETRUS
Corinne Rufli, noch bis vor wenigen Jahrzehnten mussten sich homosexuelle Frauen und Männer hierzulande verstecken, sie wurden geächtet und ausgegrenzt, weshalb sie in unserer Gesellschaft unsichtbar waren. Trifft diese Einschätzung zu? Für einige gilt das noch heute. Und ja, viele Homosexuelle haben alles dafür getan, dass niemand davon erfuhr, weil sie Angst vor den Konsequenzen hatten, und das mit gutem Grund. Es drohte ihnen der Ausschluss aus der Familie, Job- oder Wohnungsverlust oder gesellschaftliche Stigmatisierung. Bis in die 1980er-Jahre war das Bild der idealen bürgerlichen Familie mit ihren klaren Geschlechterrollen sehr mächtig. Allerdings gab es immer schon Homosexuelle, die sich ganz gut arrangieren konnten in dieser heteronormativen Gesellschaft, sie schufen sich eine lebbare Welt. Was aber nicht selten mit ihrem Stand oder der sozialen Klasse zu tun hatte. Wie meinen Sie das? Ende des 19. Jahrhunderts gab es viele Frauenpaare, oft Akademikerinnen, die aus privilegierten bürgerlichen Verhältnissen stammten. Sie wollten einen Beruf ausüben, und eine Ehe hätte das verhindert. Oder sie konnten sich ein Leben ohne einen Ehemann leisten. Lange war das Leben als Lesbe oder als Schwuler jedoch mit Schweigen gekoppelt. Solange nicht darüber geredet wurde, musste auch nicht geurteilt werden. Wie kam es zur Stigmatisierung von Homosexuellen? Mit dem Aufkommen der Sexualwissenschaft Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Homosexualität und später die Heterosexualität erfunden. Vorher dachten die Menschen nicht in solchen Kategorien. Es war eine Zeit, in der Pflanzen in Gattungen eingeteilt wurden und Menschen in Rassen. Mit diesen Kategorisierungen nahm auch die Pathologisierung und Kriminalisierung von Homosexuellen ihren Lauf. Damit entstanden enge und krude Vorstellungen davon, was Homosexuelle sind. Dabei sind Sexualität und Begehren nichts Starres, wir können sie nicht einfach in Schubladen stecken. In den 1970er-Jahren haben sich Homosexuelle allmählich politisch organisiert und «Lesbe» wurde zu einem Kampfbegriff. Erste Zusammenschlüsse von frauenliebenden Frauen gab es bereits zu Beginn der 1930er-Jahre, so auch in Zürich. Auch der Begriff «Lesbe» war schon bekannt, obschon Ausdrücke wie «Freundin» oder «Artgenossin» geläufiger waren. Bereits damals versuchten Frauen, organisiert im «Damenclub Amicitia», gemeinsam mit Männern auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen, eine Öffentlichkeit zu schaffen und in der Gesellschaft für Toleranz zu werben. Diese Frauengruppe war allerdings klein, und 14
sie überlebte den Zweiten Weltkrieg nicht. Viel wissen wir noch nicht darüber, darum forsche ich dazu. In den 1970er-Jahren entstanden dann politische Bewegungen, die viel dazu beitrugen, dass Schwule und Lesben eine Stimme bekamen und in unserer Gesellschaft sichtbarer wurden. Gerade Lesben waren in der feministischen Frauenbewegung stets an vorderster Front dabei. Wurden sie durch ihre Sichtbarkeit auch angreifbarer? Ja. Bis heute gilt: Wer sich der heteronormativen Rollenzuteilung verweigert, muss mit Diskriminierung oder Gewalt rechnen. Maskuline Lesben werden angepöbelt, den femininen wird ihr Lesbischsein abgesprochen, gleichgeschlechtliche Paare, die mit ihren Partner*innen Hand in Hand spazieren, laufen Gefahr, verprügelt zu werden, wie kürzlich in Zürich geschehen. Waren die meisten Homosexuellen in den 1970er-Jahren politisch aktiv? Nein, nur eine Minderheit. Viele wollten gar nicht auf die Strasse gehen und protestieren, für sie hatte das Lesbisch- oder Schwulsein nichts mit Politik zu tun. Sie empfanden sich nicht als Teil der neuen politischen Bewegung. Andere fühlten sich auf einer persönlichen Ebene nicht diskriminiert. Sie konnten zum Beispiel ihre Beziehung zu einer anderen Frau offen ausleben, ihre Familien wussten Bescheid. Die sichtbaren, feministischen Lesben prägten so das Bild der «Lesbe», das mitnichten auf alle zutraf. So lehnten und lehnen bis heute viele frauenliebende Frauen den Begriff «Lesbe» als Selbstbezeichnung ab. Wie unterschieden sich lesbische und schwule Biografien? Die Frauen wurden nicht bloss diskriminiert, weil sie lesbisch waren, sondern vor allem, weil sie Frauen waren. Und als Frauen mussten sie bis weit in die 1970er-Jahre sehr rigiden Bildern entsprechen: Sie sollten gute Ehefrauen und Mütter sein. Frauen, die davon abwichen, galten als triebhaft oder frigide. Weibliche Formen des Begehrens existierten nicht, es wurde nicht darüber geredet. Hinzu kam die Abhängigkeit: Frauen hatten weniger Bil-
Geschichten von frauenliebenden Frauen Frauen über 75, die aus ihrem Leben erzählen möchten, können sich bei Corinne Rufli melden. Sie interessiert sich für alle Geschichten, ganz gleich, ob das Begehren für Frauen gelebt werden konnte oder nicht, ob es nur eine kurze Episode war oder eine lebenslange Beziehung: corinne.rufli@gmail.com oder Surprise Redaktion, Münzgasse 14, 4001 Basel, Stichwort Rufli
Surprise 508/21