«Ohne Rechte hat man keine Perspektive» In keiner Bevölkerungsgruppe sind so viele Menschen obdachlos wie unter Sans-Papiers. In Lausanne können sie zu den gleichen Bedingungen in Notschlafstellen übernachten wie Menschen mit Aufenthaltsrecht, sagt Éliane Belser, Leiterin der Nothilfe der Stadt Lausanne. INTERVIEW LEA STUBER
Éliane Belser, wie die aktuelle Obdachlosigkeits-Studie aufzeigt, sind in Lausanne knapp 80 Prozent der 122 befragten Obdachlosen Papierlose. Warum ist der Anteil so hoch? Éliane Belser: In Lausanne haben wir eine ziemlich grosse Community aus Subsahara-Afrika, zu der weitere Menschen stossen, und verglichen mit kleineren Städten viele Arbeitsmöglichkeiten, auch Schwarzarbeit. Daneben sehe ich aber vor allem die Erklärung, dass Lausanne – wie auch Genf – meines Wissens die einzigen wirklich niederschwelligen Hilfsangebote für prekäre Menschen bieten. Das bedeutet, dass auch Sans-Papiers Zugang haben. In den meisten Städten – beispielsweise in Fribourg – schränken die Notschlafstellen ein, wen sie aufnehmen. In manchen dürfen nur Menschen übernachten, die in diesem Kanton oder sogar in dieser Stadt angemeldet sind. Die Folge: Sans-Papiers finden wir dann nicht in diesen Strukturen, sondern woanders – in einer WG beispielsweise oder bei Bekannten. Wenn für die Studie nun die Menschen in Anlaufstellen gezählt werden, ist der Anteil von Sans-Papiers in Lausanne folglich höher. Ob es in anderen Städten wirklich weniger obdachlose Sans-Papiers gibt oder ob sie sich einfach anders organisieren, bleibt offen. In Basel, Bern, Luzern, Zürich und St. Gallen dürfen Ortsfremde weniger Nächte in Notschlafstellen bleiben als Ortsansässige, sie zahlen zudem oftmals mehr. In Lausanne haben Sans-Papiers zwar eine weniger hohe Priorität, ansonsten gelten für sie aber dieselben Bedingungen. Welche Überlegungen stecken dahinter? Das Angebot wurde schon 1992 und 1993 geschaffen und ist seither gewachsen. Die Stadtregierung sagte damals: Diese Menschen sind hier. Wenn sie Hilfe zum Überleben brauchen, hat Lausanne eine Verantwortung. Die Stadt muss helfen, ihre Grundbedürfnisse zu decken – mit Lebensmitteln, Zugang zu Hygiene oder Übernachtungsmöglichkeiten. Vielleicht passt die Parallele nicht ganz genau, aber wenn das Internationale Komitee vom Roten Kreuz in einem Konflikt humanitäre Hilfe anbietet, fragt es nicht: Sind Sie Afghan*in? Sind Sie Syrer*in? Oder gehören Sie zur Miliz? Es bietet allen Hilfe an. 14
Was sind dabei die besonderen Herausforderungen? Wir können nur punktuell und temporär helfen. Darüber hinaus ändert sich für die Menschen ohne Papiere nichts. Ich will nicht sagen, dass es entmutigend ist, aber es ist ein Problem. Wenn wir nicht eines Tages eine Lösung wie die Regularisierung von Sans-Papiers haben, wie etwa in Genf mit der «Opération Papyrus», werden immer mehr Menschen hier leben, die keine Rechte haben. Ohne Rechte hat man keine Perspektive. Man kann nicht regulär arbeiten, nicht wohnen. Bei Menschen mit einer Aufenthaltserlaubnis und jenen aus dem EU-Raum, die in der Schweiz drei Monate arbeiten dürfen, ist die Dynamik eine andere. Sie kann man begleiten auf ihrem Weg zu etwas anderem, drei Monate, sechs Monate, dann können sie ein Asylgesuch stellen, erhalten vielleicht die Aufenthaltsbewilligung. Sie können eine Wohnung finden, aus der Nothilfe herauskommen und etwas aufbauen. Weil die Angebote bei uns so niederschwellig sind, haben viele Menschen, die zu uns kommen, sehr, sehr wenige Möglichkeiten. Alleine auf städtischer Ebene können also keine langfristigen Lösungen für Menschen ohne Wohnung und ohne Papiere gefunden werden. Nein, denn die Asylpolitik ist national und kantonal geregelt. Als Stadt haben wir nicht viel Handlungsspielraum. Warum denken wir beim Thema Obdachlosigkeit noch immer eher an Drogen als an Migration und Aufenthaltsrecht, obwohl über 80 Prozent der Obdachlosen eine ausländische Nationalität haben? Diese Sicht ist in der Deutschschweiz wohl häufiger, denke ich. Wahrscheinlich deshalb, weil die Angebote nicht für Menschen ohne Status vorgesehen sind. Wenn die Notschlafstellen nur für im Kanton oder in der Stadt gemeldete Menschen zur Verfügung stehen, haben sie zwangsläufig ein bestimmtes Publikum. Und da stehen tatsächlich oft auch andere Themen im Vordergrund: Drogenkonsum, psychische Probleme oder Schwierigkeiten auf Surprise 525/22