LESEZEIT
EL AVISO | 03/2022
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Ungers Krebs, Teil 2 Aus dem Roman “Wie viel ist ein Leben wert?” von Ralph D. Wienrich
Ohne jegliches Schuldgefühl allerdings kehrte er daher der Stadt, der er Anerkennung und respektablen Wohlstand verdankte, rechtzeitig den Rücken und stieg vor der dramatischen Pleite seiner einst renommierten New Yorker Bank aus seinem hochdotierten Arbeitsvertrag aus, belohnt noch mit einer Millionen Abfindung. Unger behandelte seine Vorahnung top secret. Die „gierige” Klientel blieb bei ihm außen vor. Sein ausgeprägter Geschäftssinn und der Bankkodex standen für Verschwiegenheit. Auch hier war er außen vor! Pragmatisch bis zu seinem letzten Arbeitstag, betrieb er alle anfallenden Geld-Geschäfte. Ganz gleich ob Landhaus, Villa, Bürogebäude oder hochprozentige Anleihe, Unger verkaufte jedem Kunden das, was er wollte. Klienten-Gier – wie sie in der Bank schlechthin dass Streben der Kunden nach satten Renditen salopp nannten – war für diesen hartgesottenen Investmentbanker die Vokabel schlechthin, mit der er sich auch aus dem Schneider wähnte. Weit weg – Segeln in der Karibik Den die Welt dann so vehement erschütternden Crash auf dem internationalen Finanzmarkt nahm
Sven Unger jedoch nicht mehr in dessen ganzer Heftigkeit wahr: Auf seiner 17,20 Meter großen französischen Beneteau genoss er bereits seit Wochen einhandsegelnd das türkisfarbene Wasser vor der Karibikinsel Jamaika. Im Reinen fühlte er sich mit sich und der Welt. Daran änderte auch Ungers Eingeständnis nichts, seinen spektakulären Wohlstand auf Kosten anderer gegründet zu haben. Zynisch dankte er der grenzenlosen Habgier jenen Rendite geilen Klienten, die sich von ihm schamlos abkochen ließen: Aus deiner Tasche in meine Tasche lautete gnadenlos sein Motto. Und die Bank kassierte immer mit! Alles war fließend geworden in New York. In einer gewaltigen Negativspirale ging der hochgelobte, professionelle Anstand vieler Geldinstitute, bedenkenlos auf dem Altar der schamlosen Gier und des unmoralischen Eigennutzes verloren. Die weltweit bejubelte Goldgräberstimmung, gefeiert an den wichtigen Börsen der Welt, ruinierte in Windeseile hoch angesehene Banken und überantwortete sie mit ihren Kunden spektakulär dem Untergang. Für den Freizeitsegler Unger stand im Augenblick allerdings etwas ganz anderes, sehr schönes, im Vordergrund: Seine nagelneue, komfortable Fahrtenjacht „Money”, die er noch mit dem vietnamesischen Koch Chuen Cha bewohnte. Für die Atlantiküberquerung, Mitte Juli, sollte noch ein versierter holländischer Skipper nebst Bootsmann an Bord kommen. Scarleses Anruf Aber noch lockte Europa nicht. Musste er doch seinen neuen, ebenfalls glänzend dotierten Job bei einer der ganz großen Frankfurter Banken erst am ersten September antreten. Vielmehr zerbrach er sich seit geraumer Zeit seinen Kopf über einen dieser letzten Anrufe in seiner New Yorker Bank. Es war der Anruf von Umberto Scarlese, der ihn an seinem vorletzten Arbeitstag noch erreichte und nachhaltig beunruhigte. Und Umberto, wie er seinen italienischen Kunden und Freund, ja, ihr Verhältnis konnte durchaus als freundschaftlich bezeichnet werden, nannte, hatte nur die eine ihn allerdings alarmierende Frage gestellt: „Das Geld meiner Familie ist doch von dir gut und sicher angelegt, oder?“ Die Schrecksekunde schien Unger ewig zu dauern. Mit quietschenden Reifen gewissermaßen lenkte er
die Scarlese Millionen von den Staaten ins sichere, aber kommunistische China um. Sven tätigte, ohne jedoch dafür von seiner Bank autorisiert worden zu sein, eine lukrative wie riskante Investition in die Elektrobranche Chinas. Ein Land, das der Scarlese Clan abgrundtief hasste. Die Familie, in deren Namen der Mann aus Umbrien sprach, war nicht irgendeine italienische Familie. Dieser Scarlese Clan, das waren 150.000 Hektar fruchtbaren Ackerlandes mit riesigen Tomatenfeldern, das waren die drei modernsten Pelatifabriken des Landes und das war die Familie, die mit das beste Olivenöl Italiens produzierte. Und das war auch die Familie, die mit der sogenannten ehrenwerten Gesellschaft keinerlei Probleme hatte. Wurzelte doch auch ihr aktueller Reichtum tief in den Generationen ihrer einst so gar nicht gesetzestreuen Vorfahren. Sven Unger hatte keine Ahnung, keinen weiteren konkreten Hinweis, aber er spürte hier, in der Karibik, wie die weitreichende Macht der Scarleses in dieser Idylle nach ihm zu greifen begann. Der Scarlese-Deal Sein neues Leben am Main entsprach noch lange nicht seinen Vorstellungen von einem unbeschwerten und sorgenfreien Leben a la New York. Sven war noch nicht so richtig in der Heimat angekommen. Vor allem war da die immer wieder in ihm aufsteigende Erinnerung an eines dieser intimeren Gespräche mit Umberto Scarlese, die langsam zur Angst mutierte: Mit seinem gewinnendsten und gleichsam gefährlichsten Lächeln hatte er ihm damals freundschaftlich auf die Schultern geklopft und alarmierend leise zu ihm gesagt: „Hör zu, Amigo wir machen den Deal. Ich investiere in Deinen Laden hier 150 Millionen Euro und du sorgst für absolute Sicherheit und eine ordentliche Rendite, aber nicht unter zehn Prozent. Und noch etwas: Keiner von euch fragt nach der Herkunft des Geldes, keiner von eurer Bank stellt auch nur eine einzige Frage, klar?“ Umberto Scarlese hatte Sven lange in die Augen geschaut, zwei Grappa bestellt, seinen Freund umarmt und gesagt, als er bereits im Gehen begriffen war: „Morgen werden Freunde meiner Familie die Ware anliefern.“ Danach hatte er gezahlt, sich aber noch einmal zu ihm umgedreht und mit einem verschlagenen Lächeln gedroht: „Geht was schief, so wartet die Lupara auf Dich”. Fortsetzung folgt ...