L4

Page 46

44

LEBENSGESCHICHTEN – WER BIST DU WIRKLICH?

Fortsetzung folgt: Anne Frank Tagebuch

ag

Beste Kitty! Sonntag, 5. Juli 1942 Die Versetzungsfeier am Freitag ist nach Wunsch verlaufen, mein Zeugnis ist gar nicht so schlecht. Ich habe ein Ungenügend in Algebra, zwei Sechsen, zwei Achten und sonst alles Siebenen. Zu Hause haben sie sich gefreut. Aber meine Eltern sind in Notenangelegenheiten sowieso anders als andere Eltern. Sie haben sich nie etwas aus guten oder schlechten Zeugnissen gemacht und achten nur darauf, ob ich gesund bin, nicht zu frech und Spaß habe. Wenn diese drei Dinge in Ordnung sind, kommt alles andere von selbst. ...

mp eV

erl

Liebe Kitty! Mittwoch, 8. Juli 1942 Zwischen Sonntagmorgen und jetzt scheinen Jahre zu liegen. Es ist so viel geschehen, als hätte sich plötzlich die Welt umgedreht. ... Aber Kitty, du merkst, dass ich noch lebe, und das ist die Hauptsache, sagt Vater. Ja, in der Tat, ich lebe noch, aber frage nicht, wo und wie. Ich denke, dass du mich heute überhaupt nicht verstehst, deshalb werde ich einfach anfangen, dir zu erzählen, was am Sonntag geschehen ist. Um 3 Uhr … klingelte jemand an der Tür. Ich hatte es nicht gehört, da ich faul in einem Liegestuhl auf der Veranda in der Sonne lag und las. Kurz darauf erschien Margot ganz aufgeregt an der Küchentür. „Für Vater ist ein Aufruf von der SS gekommen“, flüsterte sie. „Mutter ist schon zu Herrn van Daan gegangen.“ ...Als Margot und ich in unserem Schlafzimmer saßen, erzählte sie, dass der Aufruf nicht Vater betraf, sondern sie. Ich erschrak erneut und begann zu weinen. Margot ist sechzehn. So junge Mädchen sollten sie wegschicken? Aber zum Glück würde sie nicht gehen, Mutter hatte es selbst gesagt. Und vermutlich hatte auch Vater das gemeint, als er mit mir über Verstecken gesprochen hatte. Verstecken! Wo sollten wir uns verstecken? In der Stadt? Auf dem Land? In einem Haus, in einer Hütte? Wann? Wie? Wo? ...

Oly

Liebe Kitty! Donnerstag, 9. Juli 1942 So gingen wir dann im strömenden Regen, Vater, Mutter und ich, jeder mit einer Schul- und Einkaufstasche, bis obenhin voll gestopft mit den unterschiedlichsten Sachen. Die Arbeiter, die früh zu ihrer Arbeit gingen, schauten uns mitleidig nach. In ihren Gesichtern war deutlich das Bedauern zu lesen, dass sie uns keinerlei Fahrzeug anbieten konnten. Der auffällige gelbe Stern sprach für sich selbst. Erst als wir auf der Straße waren, erzählten Vater und Mutter mir stückchenweise den ganzen Versteckplan. Schon monatelang hatten wir so viel Hausrat und Leibwäsche wie möglich aus dem Haus geschafft, und nun waren wir gerade so weit, dass wir am 16. Juli freiwillig untertauchen wollten. Durch diesen Aufruf war der Plan um zehn Tage vorverlegt, sodass wir uns mit weniger gut geordneten Räumen zufrieden geben mussten. ... Liebe Kitty! Samstag, 30. Januar 1943 Ich dampfe vor Wut und darf es nicht zeigen. Ich würde am liebsten mit den Füßen aufstampfen, schreien, Mutter gründlich durchschütteln, weinen und was weiß ich noch alles wegen der bösen Worte, der spöttischen Blicke, der Beschuldigungen, die mich jeden Tag aufs Neue treffen wie Pfeile von einem straff gespannten Bogen und die so schwer aus meinem Körper zu ziehen sind. Ich möchte Mutter, Margot, van Daan, Dussel und auch Vater anschreien: „Lasst mich in Ruhe! Lasst mich endlich mal eine Nacht schlafen, ohne dass mein Kissen nass von Tränen ist, meine Augen brennen und Schmerzen in meinem Kopf hämmern! Lasst mich weg, weg von allem, am liebsten weg von der Welt!“ Aber ich kann es nicht. Ich kann sie keinen Blick auf die Wunden werfen lassen, die sie mir zufügen. Ich würde das Mitleid und den gutmütigen Spott nicht aushalten, auch dann noch würde ich schreien müssen!...


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook

Articles inside

Eifersucht

7min
pages 86-88

Happy End

1min
page 85

Romeo und Julia

10min
pages 79-82

Dichterwerkstatt: Liebespoesie

2min
page 78

Dichterwerkstatt: Der Fischer

1min
page 77

Das Spiegelbild

6min
pages 71-73

Dichterwerkstatt: Nis Randers

3min
pages 69-70

Nachts schlafen die Ratten doch

7min
pages 65-68

Armut in Österreich

3min
pages 62-64

Leseprobe: Keiner dreht mich um

9min
pages 51-54

Trinken Weltmeister

3min
pages 55-56

Dichterwerkstatt: Die Katze

2min
pages 49-50

Trägerin

3min
pages 47-48

Apple-Gründer

4min
pages 44-45

Tagebuch Marie Curie – die erste Nobelpreis

3min
page 46

Zitatenpinnwand

1min
page 43

Dinge/It’s a nerd’s world

2min
page 42

Elefanten – kluge Dickhäuter mit Familiensinn

2min
page 41

Fleischkonsum in Österreich

3min
pages 33-34

Der Weihnachtsfrieden von 1914

5min
pages 38-39

Dichterwerkstatt: Der Zipferlake

1min
page 40

Zitate und Gedichte verstehen

1min
page 26

Fledermäuse

3min
pages 31-32

Das Bewerbungsgespräch

1min
page 24

eigener Sache

3min
pages 21-22

Bestnote

2min
page 18

Deine Konzentration schulen

1min
page 16

Was sind meine Stärken?

5min
pages 11-14

Buddys unendliche Geschichte

2min
page 17

MEINE ZUKUNFT

5min
pages 19-20

EIN BLICK ZURÜCK UND EINER VOR

3min
pages 5-6

Wie der Körper spricht

1min
page 15

Blockschrift, Druckschrift, Schreibschrift

7min
pages 7-10
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.