LEBENSGESCHICHTEN – WER BIST DU WIRKLICH?
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Der 1. Dezember 1955 ist das historische Datum der schwarzamerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Das Datum setzt eine Frau, Mrs. Rosa Parks, wohnhaft in Montgomery. An diesem Tag, es ist ein Donnerstagnachmittag, steigt Rosa Parks in einen städtischen Linienbus, folgt dem Hinweisschild FARBIGE und setzt sich in die fünfte Reihe links hinter die für weiße Fahrgäste reservierten Sitzreihen.
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Leseprobe: aus „Keiner dreht mich um“ von Arnulf Zitelmann
Es ist dunkel, kalt, der Verkehr fließt langsam. Das Weihnachtsgeschäft ist im vollen Gang. Rosa Parks ist müde, sie hat einen langen Arbeitstag hinter sich. Der Bus füllt sich. „Macht den weißen Herrschaften Platz“, ruft der Busfahrer.
haben. Bis zur gerichtlichen Verhandlung des Falls kann sie auf freiem Fuß bleiben, wenn sie eine Kautionssumme hinterlegt. Rosa Parks bedauert höflich. Sie habe nicht genügend Geld dabei, ob sie telefonieren dürfe? Der Offizier deutet auf den Apparat, und Rosa Parks ruft im Büro der NAACP an, verlangt den Vorsitzenden E. D. Nixon zu sprechen.
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Im Farbigenteil stehen drei Schwarze auf und suchen sich einen Stehplatz. Rosa Parks bleibt sitzen. Der Fahrer mustert die Frau, er kennt sie nicht. Sie ist mittleren Alters, adrett gekleidet, trägt eine randlose Brille und die Augen dahinter sind aufmerksam und ruhig. Betrunken ist die Frau offenbar nicht. „Komm, steh schon auf“, sagt der Fahrer und deutet auf ihren Platz. Rosa Parks schüttelt den Kopf. „Nein“, sagt sie, „ich bleibe.“ Sie hat die Einkaufstasche auf dem Schoß, ihr tun die Füße weh und sie lässt es darauf ankommen. Rosa Parks ist Näherin, eine Zeit lang hat sie Büroarbeiten für die NAACP erledigt und weiß, dass sie jetzt nicht laut werden darf, sonst gibt sie dem Fahrer einen Vorwand, sie vor die Tür zu befördern. Der zuckt die Schultern, steigt aus und sieht sich nach einem Polizisten um. Im Bus ist es still geworden. Rosa Parks wartet.
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Endlich erscheint der Fahrer mit zwei uniformierten Beamten. Sie greifen die Frau und ziehen sie von ihrem Sitz. „Was wollen Sie mit mir?“, fragt Rosa Parks immer noch ruhig. Die Polizisten stoßen sie vorwärts. Rosa Parks wehrt sich nicht und lässt auch keine Schimpfkanonade los.
Dann steht sie auf der Straße. Der Fahrer ist froh, dass sich der Vorfall ohne Radauszene erledigt hat. Er löst die Bremse und bugsiert den Bus aus der Parkbucht, er hat Fahrzeit aufzuholen. Die Uniformierten bringen Rosa Parks auf die Polizeiwache. Der Dienst habende Beamte füllt ein Haftformular aus. Rosa Parks wird beschuldigt, die Verkehrsvorschriften übertreten zu
„Nixon ist unterwegs im Dienst“, teilt ihr die Sekretärin mit. „Aber er wird noch vorbeischauen. Soll ich eine Nachricht hinterlassen?“ Als Nixon spätabends ins Büro kommt, findet er den Zettel. Er kennt Rosa Parks, wählt die Nummer der Polizeiwache, um die Einzelheiten zu erfahren. Die Schicht am Wachtisch hat gewechselt und dem jungen Beamten sagt Nixons Name nichts. „Das geht Sie einen Dreck an“, fertigt er den Anrufer ab. Nixon sieht das anders.
adrett: gepflegt, geschmackvoll
NAACP: National Association for the Advancement of Colored People (= Nationale Organisation für die Förderung farbiger Menschen); schwarze Bürgerrechtsorganisation in den USA bugsieren: an eine bestimmte Stelle bringen Kautionssumme: größere Geldsumme, die als Bürgschaft für die Freilassung eines Untersuchungshäftlings hinterlegt werden muss