AKTUELL 30 Jahre Deutsche Einheit
Kaufkraft schlägt Wir Die Angleichung der Lebensstandards der ostdeutschen Länder an den Westen ist in punkto Wirtschaftskraft noch nicht erreicht, aber in punkto Kaufkraft zu mehr als 90 Prozent.
V
or 30 Jahren wurde die deutsche Teilung mit dem Beitritt der ostdeutschen Bundesländer zur Bundesrepublik Deutschland beendet. Der mehrheitliche Wille der Ostdeutschen zur Wiedervereinigung resultierte aus dem wirtschaftlichen Scheitern der DDR mit entsprechend großen Erwartungen an die Bundesrepublik: Man wollte möglichst schnell am westdeutschen Wohlstandsniveau teilhaben; allen nach Zusammenbruch des politischen Systems der DDR noch diskutierten Vorstellungen über einen eigenständigen ostdeutschen Weg wurde mit den Volkskammerwahlen im März 1990 eine Abfuhr erteilt. Als Teil der Bundesrepublik Deutschland, so die verbreitete Vorstellung damals, würde es auch zu einer baldigen Angleichung der wirtschaftlichen Lebensverhältnisse kommen – und zwar nicht durch Umverteilung von West nach Ost, sondern durch den raschen Aufbau einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft nach
Prof. Dr. Joachim Ragnitz Foto: ifo-Institut
ifo-Institut
Einführung der marktwirtschaftlichen Ordnung. Wie im westdeutschen Wirtschaftswunder der 1950er Jahre, so das Versprechen wahlkämpfender Politiker, würden marktwirtschaftliche Anreize zu einer Freisetzung unternehmerischer Initiative führen, die zusammen mit den Investitionen patriotisch gestimmter Unternehmen aus Westdeutschland schon bald die viel zitierten „blühenden Landschaften“ im Osten Deutschlands schaffen müssten. Heute wissen wir, dass diese Vorstellung falsch war; trotz massiver öffentlicher Anschubfinanzierung ist der Osten Deutschlands nahezu flächendeckend noch immer eine strukturschwache Region. Die Wirtschaftskraft, gemessen am Bruttoinlandsprodukt je Einwohner, beträgt im Schnitt gerade einmal 70 Prozent des westdeutschen Niveaus, und auch das Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigen, also die Arbeitsproduktivität, erreicht nur gut 80 Prozent des westdeutschen Wertes. Das liegt jedoch nicht nur daran, dass das Wirtschaftswachstum in den ostdeutschen Ländern hinter den Erwartungen zurückgeblieben ist, sondern zu einem erheblichen Teil auch daran, dass der Westen Deutschlands sich in den ver-
„Die Diskrepanz zwischen selbst erwirtschafteten und verfügbaren Einkommen ist zu einem guten Teil Folge der Ausgestaltung des Steuer- und Transfersystems in Deutschland.“
44
gangenen 30 Jahren positiv entwickelt hat: Lag die Wirtschaftskraft im Osten zum Zeitpunkt der Vereinigung auf dem westdeutschen Niveau der frühen 1960er Jahre, ist inzwischen immerhin das Niveau der späten 1980er Jahre erreicht. Ganz anders hingegen ist das Bild, wenn man als Zielgröße nicht die Wirtschaftskraft, sondern das materielle Einkommensniveau der Bevölkerung heranzieht und dabei auch noch berücksichtigt, dass die Preise vieler Güter, insbesondere aber der Mieten,
TREND 2/2020