Kung Fu als Oberbegriff aller chinesischen Stile kann man grob einteilen in die nördlichen und südlichen Stile. Diese kann man wieder einordnen m die »starren« und in die »flexiblen« Stile. Die »starren« (manche Autoren schreiben »harten«) Stile bevorzugen, was wir Chinesen »lange Brücken« und weite Stände nennen. Die südlichen »starren« Stile erkennt man an starken »Brücken«-Armen (starken Armtechniken in Angriff und Abwehr) und kräftigem Oberkörper -Einsatz. Die nördlichen »starren« Stile zeichnen sich aus durch feste, stabile Stände und kraftvolle Tritte. Die »flexiblen« Stile (manche Autoren schreiben »weiche» Stile) - und dies gilt sowohl für die nordlichen al s auch für die südlichen Stile bevorzugen Nahkampftechniken (Körper an Körper) und engere Stande. Außerdem setzen die flexiblen Stile Arme und Oberkörper raffinierter ein. Wing Tsun soll zwischen Szechwan und Yunnan entstanden, in Fukkien weiterentwickel t und dann in Futshan (Kanton) berühmt geworden sein. Viele Jahre lang bemüh te ich mich, die Geschichte des Wing Tsun zu ergründen, wobei ich zu folgenden Ergebnissen kam: :
1. Es gibt einen Tai Leung Berg an der Grenze zwischen Szechwan und Yunnan. (* 1) 2. Im nördlichen Teil Thailands, der an die Yunnan -Grenze anschließt, gab es einen thailändischen Kampfstil, der »Ling Lum« (Luftaffe) genannt wurde. Zu meiner Verblüf fung weisen die Bewegungen und Prinzipien dieses Stiles, von dem die Thais sagten, daß er der Vater des modernen ThaiBox-Sportes sei, eine so unglaubliche Ähnlichkeit zu unserem chinesischen Wing Tsun auf, daß man nicht mehr von Zufall oder Parallelentwicklung sprechen kann. (*2) 3. Die Kung -Fu-Stile, die in Fukien, Min-nam, Chiu-chow und Hak ka populär waren, verwenden normalerweise enge Stände, kämpfen Körper an Körper (Nahkampftaktik) und benutzen Schritte, die in den Stand des Gegners eindringen. Sie bewegen beide Arme vor der Brust und lassen keine Deckungslücken, sie halten ihre Ellenbog en zentral. Dies entspricht der WT -Auffassung, ist - wie Sie aber jetzt erkennen - nicht nur Bestandteil des Wing Tsun, sondern Merkmal vieler Stile aus dieser Gegend. (*3) Trotz dieser Hinweise gibt es immer noch Bedenken. Der nördliche Teil Thailands lie gt im extremen Südwesten Chinas. Fukien und Min-nam aber liegen an der Süd-OstKüste Chinas. Wie paßt das zusammen ? Dazu mu ß man wissen, daß damals während einer langen Zeit die meisten Chinesen, die nach Thailand auswanderten, aus Chiu-chow und Min-nam kamen. Dieser Gesichtspunkt könnte meine Bedenken zerstreuen und das Problem lösen. Wie dem auch sei, für mich steht fest, daß der thailändi sche »Luft-Affe«Stil in enger Verwandtschaft zum Wing Tsun steht, zumindest liegen ihre Ursprünge sehr nahe zusammen. Es ist wohl richtig zu sagen, daß Wing Tsun aus einer
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Auswahl von Bewegungen besteht, die von Bewohnern der Küsten-Provinzen Südost-Chinas praktiziert wurden. Die se Methoden wurden dann von einem oder mehreren genialen Kämpfern verbessert und zu dem heute bekannten WingTsun-System weiterentwickelt. Diese Auffassung ist wohl wahrscheinlicher als die bekannte Legende von einer einzigen Schöpferin. Ich neige jedenfalls mehr dazu zu glauben, daß das heutige Wing -Tsun-System, wie es von Generation zu Gen eration weitergegeben wurde, das kollektive Produkt der persönlichen Auffassungen und In terpretationen seiner jeweiligen Großmeister ist, die es jeder für sich - immer ausgeklügelter gestalteten und es immer besser und raffinierter weitergaben, indem sie nicht die Menge der Bewegungen vergrößerten, wie es andere norts immer wieder geschieht, sondern die Erkenntnis be herzigten, daß weniger mehr ist und deshalb lieber das Konzept des Wing Tsun immer klarer und konsequenter faßten. Ich habe schon immer die Legende von der Schöpfung des Wing-Tsun-Systems bezweifelt. Ng Mui soll das Wlng Tsun-Kung-Fu erfunden haben, nachdem sie den Kampf zwischen einem Fuchs und einem Kranich beobachtet hatte (andere Quellen sprechen von Kranich und Schlange). Wenn dem so war, was für eine Kampfkunst hatte Ng Mui vorher ausgeübt ? Shaolin-Kung-Fu ? Wir dürfen aber bitte nicht glauben, daß ihr Shaolin-Kung-Fu dem heute be triebenen Shaolin-Kung-Fu entsprach. Tatsächlich ist das heutige sog. Shaolin-Kung-Fu nur ein ganz verschwo mmener Oberbegriff für viele verschiedene Stile. Z.B. behaupten sowohl Hung Gar als auch Wing Tsun Shaolin -Stile zu sein. Aber ihre Bewegungen sind nahezu entgegengesetzt! Es ist sicher, daß sie nicht denselben Ursprung haben. Wenn man sagt, daß Ng Mui Wing Tsun aufgrund einer Inspiration, aufgrund eines Gedankenblitzes kreierte, dann muß sie schon vorher eine gewisse Vorstellung von dem neuen Stil gehabt haben, so daß diese Inspiration vielleicht in Wirklichkeit nur der letzte Anstoß war. Auch manch ande re Punkte bei der Schöpfungslegende des Wing Tsun erregen meinen Zweifel. Wie kam es, daß Yim Wing Tsun den Gangster Wong besiegen konnte, ohne daß sich die Unter welt (chinesische Mafia) später an ihr rächte ? Hat die Verbrennung des Fukien-Shaolin-Klosters wirklich stattgefunden ? Hat es Ng Mui wirklich gegeben ? Dieses Authen tizitätsproblem haben wir bei den legendären und mythi schen Entstehungsgeschichten der meisten Kung Fu -Stile Schuld daran tragen unter anderem besonders die chinesi schen Autoren vergangener Zeit, die Bücher nicht unter ihrem eigenen (unbekannten) Namen verfaßten, sondern sich zum Zwecke größerer Werbewirksamkeit der Namen berühmter Schriftsteller bemächtigten bzw. die Titel von renommierten klassischen Werken benutzten. Viele chin esische Bücher unter anderem auch über Kampfkünste -wurden auf diese Weise verfälscht. Deshalb sollten wir Büchern über die Entstehungsgeschichte chinesischer Kampfkünste zunächst nur den Wahrheitsgehalt von Ro manen oder Märchen zuerkennen, solange jed enfalls, bis handfeste Tatsachen oder Beweise die Behauptungen glaubhaft untermauern.