LITERATUR
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Musketierinnen im Museum der Fehler Mit „Das mangelnde Licht“ beschließt Nino Haratischwili ihre georgische Trilogie und erweckt die 1990er-Jahre zum Leben rüssel 2019: Euro-Schickeria drängt B sich auf einer Vernissage. Die Ausstellung präsentiert das Werk der jung verstor-
benen erfolgreichsten Fotografin Georgiens. Im Publikum befinden sich auch die drei Jugendfreundinnen der Künstlerin, eine davon ist Keto, die Erzählerin. Der Bewusstseinsstrom, den die Bilder in ihr auslösen, bildet, unterbrochen vom Austausch der Erinnerungen mit ihren einstigen Gefährtinnen, das Gerüst des Romans. Nino Haratischwili, geboren 1983 in Tbilissi, damals noch Hauptstadt der georgischen SSR, und mit zwölf Jahren nach Deutschland gekommen, schließt mit „Das mangelnde Licht“ eine Trilogie ab. Diese begann mit der großartigen, drei Generationen umfassenden Familienchronik georgischer Frauen („Das achte Leben“) und setzte sich im etwas reißerischen Politthriller „Die Katze und der General“ fort, der die Kriminalgeschichte des postsowjetischen Verfalls zum Thema hatte. Nun zoomt die Autorin auf die 90erJahre: Chaos, Anarchie und Aggression von außen finden im Abchasien-Konflikt ihren Höhepunkt. In einem Kontinuum der Illegalität zwischen korrupten Politikern, faschistoiden Paramilitärs und jugendlichen Drogendealern versuchen sich vier Mädchen aus dieser Welt von Machismus und Gewalt mit ihren je eigenen Mitteln zu emanzipieren: mit dem kämpferischen Bildjournalismus der Fotografin Dina, dem Engagement für Freiheit und Menschenrechte Iras, die zur amerikanischen Staranwältin aufsteigen wird, und Nenes Manipulation der Männerwelt mit den Waffen einer Femme fatale.
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Wie aus sich öffnenden Schubladen zaubert die Autorin das Personal ihres Romans hervor – Handwerker, Mitgliedern der Intelligenzija und der alten Nomenklatura
Auch der Blick der Erzählerin ist von ihrem Be-
rufsweg als Restauratorin geprägt: Schichten aufdeckend schweift er in der Ausstellung von Bild zu Bild, die Erinnerungen füllen die Zeiträume des Davor und Danach. So verdichten sich Dinas fotografische Momentaufnahmen – von lyrischen Stimmungsbildern bis zu schockierenden Kriegsszenarien – im Text langsam zu einem Panorama von historischer Tiefenschärfe. Wobei sich Keto darüber im Klaren ist, wie sehr die Wirkung, die ein Bild entfaltet, vom Augenblick der Betrachtung abhängt: „Kein historisches Ereignis, kein historischer Moment, keine Zeit ist wiederholbar, und dementsprechend muss man jede Restaurierung als die Erhaltung von einem Stück Gegenwart begreifen, das die Vergangenheit umklammert hält.“ Haratischwilis Thema ist das Verhältnis von Augenblick und Zeitfluss, stockendem Erinnern und plastischer Vergegenwärtigung. Es bestimmt die im Vergleich mit ihren früheren Büchern anspruchsvollere Erzählstruktur aus einer Perspektive der Vorzukunft: Bei Betrachtung eines Bildes enthüllt sich ein Teil dessen, was erst später verstandesmäßig zur Gänze erfasst wird. Der Kontrast zwischen dem klug konstruierten Aufbau und der Rollenprosa einer wenig kontrollierten Erzählerin macht den Reiz des Gesamtentwurfs aus: Zwei Ausbrüche, die eigentlich Einbrüche sind, bilden den zeitlichen Rahmen des 22 Jahre umfassenden Geschehens. Im Tbilissi der
Nino Haratischwili: Das mangelnde Licht. Roman. Frankfurter Verlags anstalt, 832 S., € 35,–
späten 80er-Jahre dringen die sich als Viererbande verstehenden Mädchen in den nächtlichen Botanischen Garten ein und entfliehen so der belastenden Umwelt. Hier entsteht auch das erstes Foto, dem Keto in der Ausstellung wieder begegnet. Und im Morgengrauen Brüssels werden die nicht mehr ganz so jungen Damen, wieder um allein zu sein, die Barriere eines Parks übersteigen. Sie sehen sich nun, ohne Dina, als ihres d’Artagnans beraubte Musketiere. In einer weiteren Eingangsszene wird der
Hauptschauplatz skizziert: ein Konglomerat von Holz- und Steinbauten, verbunden durch Treppenaufgänge und Lauben. Wie aus sich öffnenden Schubladen zaubert die Autorin das den verschiedensten Gesellschaftsschichten entstammende Personal ihres Romans hervor – lebendig gestaltete Einzelporträts von Handwerkern, Mitgliedern der Intelligenzija und der alten Nomenklatura. Dort wohnen die Familien der Mädchen, auch die beiden beeindruckenden Großmütter der Erzählerin: literaturaffine ältere Damen, die sich als Übersetzerinnen und Sprachlehrerinnen durchs Leben schlagen. Ihr Dauerstreit ist ein Lichtblick in der sonst düsteren Atmosphäre des Buches. Und dann spricht die Erinnerung, stotternd und stockend, so manches verdrängend, evoziert eindrucksvolle Tableaus.
Stromausfälle spielen dabei eine große Rolle: Die Mädchen bleiben in einem Riesenrad stecken und sehen in der Ferne, wie erste Feuer des Bürgerkriegs über der Stadt aufflammen; Menschenmassen strömen aus blockierten Metros in die dunklen Schächte. Dazwischen lebensfrohe Bilder blühender Landschaften vor dem Panorama des Kaukasus, voll Wein und Tafelfreuden, ganz so, wie man sich Georgien vorstellt. Manchmal, vor allem wenn „Eros das frühlingliche Vorspiel“ unterbricht, kippt der Überschwang ins Pathos und in den Kitsch, was aber damit zu erklären ist, dass man es mit der Gedankenwelt eines leicht überspannten Teenagers, gespiegelt in den Reflexionen einer verunsicherten Migrantin, zu tun hat. Einen Vorwurf kann man der Autorin bezie-
hungsweise dem Lektorat trotzdem nicht ersparen: Wäre man mit Adjektiven etwas behutsamer umgegangen, hätte man einige der 830 Seiten einsparen können. Nino Haratischwilis erzählerische Kraft hilft über diese Längen hinweg, die so den Lesefluss nicht hemmen: „So schreiten wir durch dieses Museum der Fehler und geben uns der Illusion hin, wenigstens für ein paar Stunden die Toten wieder zum Leben zu erwecken.“ THOMAS LEITNER