Die ferne große Zeit Kalabrien und Sizilien sind zwei Regionen, die – bei aller Unterschiedlichkeit – doch einiges gemeinsam haben, vor allem die Tatsache, dass ihre historisch große Zeit sehr lange zurückliegt: Beide gehörten zur Magna Graecia, beide erlebten ihre Hochblüte im Mittelalter zur Zeit der Stauferkönige. Die gemeinsame Geschichte unter den Bourbonen des Königreichs Neapel wurde nur durch Napoleon und seine Parthenopeische Republik kurz unterbrochen (Sizilien geriet nicht unter den Einfluss des Franzosen), nach dem Wiener Kongress wurde das alte Herrschergeschlecht im »Königreich beider Sizilien« wieder installiert. Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts lag die Vereinigung aller italienischen Staaten in der Luft. Der bourbonische Süden stellte sich zunächst ein föderatives republikanisches System vor, bald darauf aber strebte Sizilien nach völliger Unabhängigkeit. Die Regenten in Neapel aber erkannten nicht den Zug der Zeit, sie huldigten nicht einmal mehr dem Wahlspruch des ersten spanisch-bourbonischen Königs in Neapel, Karl IV.: »Alles für das Volk, aber nichts durch das Volk.« Blutig unterdrückten sie jede republikanische Regung, die doch das Fanal des Jahres 1860 bildeten. Sowohl Ferdinand II., »Re Bomba« und (in Anlehnung an Attila) »Geißel Gottes« genannt, als auch Franz II., der verhasste »Franceschiello«, unternahmen nichts, um das Misstrauen in die Staatsführung zu verkleinern. Dieses Misstrauen ging sogar so weit, dass man 1836, als in Messina die Cholera ausbrach, davon überzeugt war, von der Regierung beauftragte Vergifter hätten die Krankheit hervorgerufen. 1860 ließ sich der Volkszorn nicht mehr zurückhalten: Am 11. Mai 1860 landete Garibaldi bei Marsala, am 1. Dezember besuchte Vittorio Emanuele II. die Insel, 1861 fand eine Volksabstimmung statt: Jahrhunderte der Fremdherrschaft waren vorbei, Sizilien und der bourbonische Süden zu einem Teil Italiens geworden.
Verhängnisvolle Einheitsregierung Die Ernüchterung folgte jedoch bald. All das, was an Verbesserungen versprochen worden war, setzte man nicht in die Tat um; man beließ vielmehr die großteils korrupten Beamten der Monarchie im Amt, änderte das mittelalterliche Latifundiensystem nicht, Steuern und Zölle sorgten dafür, dass wirtschaftlich keine Verbesserung eintrat. »Es wurde das Gegenteil dessen gemacht«, schreibt Luigi Natoli, »was am 1. Dezember das Königswort versprochen hatte. Statt der angekündigten Eintracht säte man Hass; statt einer Regierung mit Verbesserungen und einer Verwaltung, die die moralischen 15
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