Wystan Hugh Auden
RITUALE BEDEUTUNG Anmerkungen zu Cavalleria rusticana
Giovanni Verga war kein doktrinärer Naturalist. Er schrieb über die sizilianischen Bauern, weil er unter ihnen aufgewachsen war, sie eingehend kannte, sie liebte und sie darum als unverwechselbare Wesen erblickte. Die ursprüngliche Erzählung Cavalleria rusticana, welche in dem Band Vita dei campi (1880) erschien, unterscheidet sich in vielen wesentlichen Punkten von der dramatisierten Fassung, die Verga vier Jahre später schrieb und auf der das Libretto aufbaut. In der Erzählung ist Turiddu, der Held, das verhältnismäßig unschuldige Opfer seiner Armut und seines stattlichen Aussehens. Santuzza ist hier nicht die entehrte, schutzlose Kreatur, die wir aus der Oper kennen, sondern die Tochter eines reichen Mannes, die sehr wohl für sich zu sorgen weiß. Turiddu bringt ihr Ständchen, umwirbt sie, hat aber keine Aussichten, ihre Hand zu erringen, da er nichts besitzt, und wiewohl er ihr nicht gleichgültig ist, verliert sie doch den Kopf nicht. Wenn sie darum Alfio das Verhältnis Turiddus mit Lola verrät, ist dies viel boshafter und unsympathischer als in der Oper. Der Grund schließlich, den Turiddu Alfio dafür angibt, dass er auf einen Kampf auf Leben und Tod mit ihm besteht, ist nicht Santuzzas Zukunft – er hat sie vollkommen vergessen –, sondern die Zukunft seiner alten, mittellosen Mutter. Santuzzas Verführung, die brutale Art, in der Turiddu sich von ihr abwendet, ihr Fluch über ihn, seine Reue am Ende, das alles wurde von Verga später hinzugefügt, als er Santuzza zu einer großen und sympathischen R olle für die Duse umgestalten musste. Als Thema für ein kurzes Libretto ist dieser Zusammenhang hervorragend geeignet. Die Situation ist stark, geschlossen und unmittelbar durchsichtig; sie bietet Rollen für die richtige Zahl von Sängern; und die Gefühlsregungen, die durch sie ins Spiel gebracht werden, sind W YSTA N H UGH AU DEN
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