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Annika Böttcher
#1 hinflug
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Am Tag unseres Abflugs verstand ich, warum die Erde rund ist. Wir saßen im Flugzeug, das weiß gegen die dunklen Scheiben des verglasten Gebäudes spiegelte, und die Motoren rauschten erst leise und dann immer schneller immer lauter. Und jetzt rasten wir los, dem Ende der Welt entgegen, dorthin, wovon ich geträumt hatte, fast mein ganzes Leben schon. Die Rollen tobten über das schwarze Feld, in meinen Ohren ein leises Pfeifen. Ich blickte aus dem Fenster auf die vorbeifliegenden Streifen, die die Bahnen einteilten. Nicht weit von uns landeten und starteten andere Maschinen, stellten sich Trimm- und Landeklappen auf, geräuschlos, fuhren Fahrwerke ein und aus, stemmten sich Querruder gegen die Luft, schwarz und weiß und grau, wie in einem Stummfilm, den man nicht versteht, weil man nicht weiß, warum die Menschen fliegen wollen. Dann hoben wir ab, stillschweigend und ehrfürchtig beinahe, und am Horizont zeichnete sich im frühen Morgenlicht eine klare eisblaue Linie ab, die sich sachte bog, an ihren Enden der Erde entgegen, in ihrer Mitte dem Himmel. Dorthin flogen wir. Und wir träumten auch, es war ja noch immer Vormittag, wir glitten weiter aufwärts und die Stewardessen konnten ihre kleinen Handwagen mit Saft und weichen Sandwiches noch nicht durch die schmalen Gänge schieben. Deshalb schlossen wir die Augen und träumten. Aber als unter uns die Alpen lagen, groß und steinig und vertraut von den Reisen nach Italien oder Griechenland, deuteten wir mit wachem Blick und ausgekühlten Fingern gegen die Scheiben nach unten: Sieh nur, dort liegt noch immer Schnee, obwohl schon längst August ist. Und unsere müden Nachbarn nickten schläfrig. In einer grauen, im dünnen Morgennebel gelegenen Stadt stiegen wir um, reihten uns in Schlangen, zogen Wartekärtchen, ließen unsere Reisepässe stempeln und Papiere stanzen. Hier hörten wir, was wir beim Abflug gesehen hatten: Streng justierte mechanische Abläufe. Technik, die sicher ineinandergriff. Dann liefen wir Gänge entlang und neben uns das erste Mal auch Menschen, die auf dem Weg in ihre Heimat waren, die in fremden Sprachen und Lauten auf ihre Babys einredeten, in bunten Tüchern und mit schmatzenden Gummisandalen über Laufbänder zu ihren Terminals gingen. Irgendwann, als das Gefühl für Zeit sich längst verloren hatte, bemerkten wir an den Rändern der Scheiben neben uns das Eis.