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Wunderkind (Auszug) Ich sitze auf meinem Stuhl, die Hände kneten nervös den zerzausten roten Polsterstoff. Meine Füße stoßen gegen dunkles, poliertes Holz. »Zehn Minuten.« Mein Cello schläft noch neben mir, es ist ganz ruhig, erhebt sich auf der Seite liegend fast wie eine menschliche Silhouette. Wie gerne hätte ich es berührt. Einmal über den hölzernen Rahmen gestrichen, die Fugen entlang, wie ich es als Kind gemacht habe. Aber ich weiß nur zu gut, was passieren wird, in der Sekunde, in der meine Finger sich um den Hals schließen. Mir wird schwindelig werden, etwas Kaltes, Glattes wird sich auf meine Kehle legen, und dann werde ich die Stimme hören. »Pass bloß auf, dass du den Stuhl nicht zerfetzt. Der kostet dich dein halbes Honorar.« Oh nein. Bitte nicht. Nicht so früh. »Warum blinzelst du so?« Jetzt erst merke ich, dass es hinter meiner Stirn still ist und ich die spöttische Stimme meines jungen Kollegen gehört habe. »Hatte ich nicht vor.« Ich springe auf und glätte meinen Rock. »Würdest du bitte hinter die Bühne gehen? In drei Minuten ist Einlass, aber wenn du noch Zeit brauchst …« Als ich aufstehe, macht er einen respektvollen Schritt zurück. Hinter der Bühne wird mir sogar die Tür aufgehalten. Ich hoffe, du weißt das zu schätzen, flüstere ich lautlos. Keine Antwort. Bis ich wieder auf meinem Stuhl auf der Bühne sitze und darauf warte, dass es im Zuschauerraum dunkel wird. Die Lichter verändern sich. Sie werden tiefer, goldener, die Bühnenbeleuchtung wird aufgefahren. Die Staubpartikel, die in den Scheinwerferstrahlen schweben, tanzen in Bahnen in meine Richtung, steigen meine Lunge empor, das Licht breitet sich aus in meinen Kopf, und mir wird schwindelig. Naaa, hast du mich vermisst? Ich zucke zusammen. Geh weg! Wie wäre es mit ein bisschen Dankbarkeit? Halt die Klappe. Schließlich darfst du dich zwei Stunden lang ausruhen, während ich die Arbeit für dich erledige. Die würde ich liebend gerne selber …