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Schneeengel Der Schnee fällt unbemerkt. Erst wenn er die Grenzen des Lichtkegels durchbricht, wird er sichtbar. Die Flocken glänzen warmorange. Die LED-Birnen haben diesen Teil der Stadt noch nicht eingenommen. Manche gehen durch die Dunkelheit. So unbemerkt wie der Schnee, bahnen sie sich ihren Weg, irren umher. Erst wenn sie die Grenzen des Lichtkegels überschreiten, werden sie sichtbar. Die Kristalle haben sich in Haaren und Wollmützen verfangen, haben sie ein zweites Mal eingekleidet. Eine eisige Mauer trennt sie vom Rest der Welt. Wenn sie die Lichtgrenzen verlassen, verschwinden sie wieder. Als wären sie nie da gewesen. Sie trägt Kopfhörer. Die Flocken haben keine Chance, auf ihnen zu verweilen. Der Bass schüttelt sie unbarmherzig ab. Ihre Ohren sind warm. Die Kälte erreicht sie nicht. Nur die lauten Töne trommeln auf sie ein. Sie schließen sie ab. Kein Autorauschen, Schneeknirschen, Windpfeifen dringt hindurch. Sie ist allein. Sie ist wie elektrisiert. Ihre Schuhe hinterlassen eine Spur im frischgefallenen Schnee, die fast sofort wieder aufgefüllt und unkenntlich gemacht wird. Nichts belegt ihre Anwesenheit. Nur sie weiß um ihre Existenz. Sie, die Laternen und der Schnee. Manchmal bleibt sie im Dunkeln stehen und betrachtet einen anderen. Jemanden, der im Kegel steht und die Hände reibt. Im nächsten Lichtschein. Nur kurz. Um sich einen Stummel anzustecken. Weiße Wolken umspielen schneebedeckte Locken. Als sie dann weitergeht, schwebt ein Lichtpunkt durch die Welt. Warmorange. Geborgt. Bis zur nächsten Laterne. Der Schnee fällt. Legt sich auf Brillengläser und Schultern. Sie vibriert durch die Straßen. Mit der Musik. Nicht einsam. Angekommen. Vielleicht. Als sie die Wohnungstür erreicht, wird sie sichtbar. Die Welt trommelt für einen Moment auf sie ein. Autorauschen. Schneeknirschen. Windpfeifen. Klingeln. Das Knacken der Sprechanlage. Jackenabgestreife. Treppenknarzen. Türquietschen. Lachen. »Wie siehst du denn aus?« Ein Schneeengel steht auf der Schwelle. Kopfhörer um den Hals. Eine Flocke auf der Nase. »Gut, dass du da bist.«