Moralische Kompassnadel gegen Sexismus in der Werbung
CHRISTELLE DELARUE GRÜNDERIN UND GESCHÄFTSFÜHRERIN DER AGENTUR MAD&WOMAN
» D A M I T W A C H E I C H J E D E N M O R G E N A U F « , erzählt Christelle Delarue mit einem
breiten Grinsen und zieht die hauchdünnen, weißen Gardinen zur Seite, um den Blick auf das in Sonnenlicht gebadete Rathaus freizugeben. Die Promenade, auf der von Klimaschutzdemonstrationen bis zu Schwulenparaden alles stattfindet, erstreckt sich entlang ihres Vorgartens. Auf ihrem Balkon kann sie den Alltagstrubel, Feierlichkeiten und das gelegentliche Chaos aus der ersten Reihe verfolgen – ein atemberaubender Blick. »Egal, was auf der Straße passiert – die Energie spornt mich an«, erzählt sie mir und tritt zurück in das Wohnzimmer, weil die Bücher, die sorgfältig auf ihrem zweiten Schreibtisch, dem Wohnzimmertisch, gestapelt sind, durch einen Windstoß aufgeblättert werden. Beauté fatale von Mona Chollet liegt wie ein wichtiges Referenzmaterial direkt neben ihrem Computer. Die mit eleganten Säulen und Glasmalerei dekorierte Wohnung atmet den Geist von Aktivismus, nicht nur aufgrund ihrer Nähe zum Herzen der Stadt, sondern gerade wegen ihres doppelten Zwecks als Wohn- und Arbeitsraum. Sie dient als persönlicher Rückzugsort für Delarue, ist ihr Lieblingsplatz zum Lesen und Schreiben. Und jeden Samstagmorgen ist sie Treffpunkt für Frauen aus den Medien, die Opfer von sexuellen Übergriffen oder von Diskriminierung wurden und darüber sprechen und Unterstützung erhalten möchten. Delarue ist genau die Richtige, um eine solche Gruppe zu leiten: Die Idee zu ihrem Unternehmen Mad&Women, der ersten feministischen Werbeagentur in Frankreich, die sich dem Kampf gegen Geschlechterstereotype verschrieben hat, kam ihr, nachdem sie sich jahrelang gegen Sexismus in der Branche gestellt hatte. Sie betont, dass die globale Wirtschaft zu 85 Prozent von Frauen beeinflusst wird, aber 91 Prozent der Frauen haben das Gefühl, von den Werbemachern nicht verstanden zu werden.50 Vor diesem Hintergrund ist es – vor allem für Menschen, die Delarue als Kind gekannt haben –, nicht erstaunlich, dass sie es sich zur Aufgabe gemacht hat, Veränderungen für Frauen zu erwirken. Wir treffen uns bei anderer Gelegenheit zu einem Kaffee im Le Richer, als mich Delarue in ihre Kindheit entführt. Sie beschreibt sich selbst als »hyperaktive Plaudertasche«, als frühreifes I nnovatorinnen
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