Herausforderin traditioneller Frauenrollen im jüdischen Glauben
DELPHINE HORVILLEUR RABBINERIN UND AUTORIN
A L S N U R E I N E V O N D R E I R A B B I N E R I N N E N in Frankreich ist Delphine Horvilleur eine
kontroverse Frau. Nicht weil sie Jüdin ist, sondern weil sie eine verheiratete Frau mit drei Kindern in einer Führungsposition einer religiösen Gemeinschaft und davon überzeugt ist, dass das Judentum und das jüdische Leben von Frauen innerhalb und außerhalb der Synagoge freier interpretiert werden sollten. Ihre progressiven Werte und ihr Engagement für einen interreligiösen Dialog sind der orthodoxen Mehrheit und dem Oberrabbiner des Zentralrats der Juden, dem staatlich anerkannten Leitungsorgan französischer Juden, von dem ihre Arbeit als Rabbinerin noch nicht anerkannt wurde, ein Dorn im Auge. Doch das steht ihrem Einsatz für die Veränderung der traditionellen Lehre, für Frauenrechte und für den Glauben als Teil der Pluralität von Identitäten in keiner Weise im Weg. Ihrem Humanismus und ihrem unermüdlicher Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus in Europa verdankt sie ihre Auszeichnung als eine von fünf Heldinnen gegen Extremismus und Intoleranz der Global Hope Coalition im Jahr 2018. Wir verbringen einen Vormittag im Stadtteil Marais und sprechen über ihre persönlichen Erfahrung mit dem jüdischen Glauben, dem Kampf zwischen Tradition und Modernität und der Komplexität eines religiösen Bekenntnisses mitten im französischen Universalismus. War deine Familie religiös? Ich stamme aus einer sehr kulturellen jüdischen Familie, aber wir haben den Glauben nicht sehr intensiv praktiziert. Wir lebten nach dem Modell des »französischen Judentums«, einer Identität, die eine unglaublich enge Bindung zu Frankreich und seiner Geschichte mit der jüdischen Herkunft verknüpfte. Mit anderen Worten: Meine Familie liebte Frankreich und hatte einen tiefen Respekt vor den säkulären Werten der Republik.
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L A PA R I S I E N N E