Essen und kulturelles Erbe als ein Fest der Freiheit
P O O N A M C H AW L A K U LT U R F Ü H R E R I N , A U T O R I N U N D Ü B E R S E T Z E R I N
N O C H B E V O R I C H A U S D E M A U F Z U G S T E I G E , weiß ich, dass ich am richtigen Ort ange-
kommen bin. Durch die leicht angelehnte Wohnungstür strömt mir ein verführerischer Duft von Gewürzen, Knoblauch und Zwiebeln entgegen. Ich klopfe vorsichtig an und betrete die Wohnung mit dem üblichen Allô, um meine Ankunft anzukündigen. »Ich bin in der Küche; komm einfach rein«, höre ich sie rufen. In der Küche finde ich Poonam Chawla. Die kleine Frau mit schulterlangem Bob und einem geknöpften Kleid schlurft zwischen Herd und Arbeitsplatte hin und her, wo sie Hühnchen-Kebab auf Platten legt und große Mengen an scharfem Daal aus roten Linsen in Bowls löffelt. »Hier unterrichte ich«, erklärt sie mir in ihrer für Pariser Verhältnisse großen Küche, die den Blick auf einen sattgrünen Hofgarten freigibt. Alle Arbeitsflächen sind randvoll mit hausgemachten Zutaten, Kräutern und Gewürzen zustellt, darunter ihr selbst gemischter Masala Chai. »Heute Morgen habe ich ein Video mit einem Rezept für ein Curry aus Broccoli und Kartoffeln für meine Website gemacht. Ich muss das auch noch ausprobieren. Broccoli ist ein neues, sehr reichhaltiges Gemüse; in Indien verwenden wir eher Blumenkohl.« Und schon habe ich etwas gelernt! Ich helfe ihr, das Mittagessen auf dem Tisch im Esszimmer zu servieren, dann setzen wir uns hin und sprechen zwei Stunden lang über die Unwägbarkeiten ihres Lebens, ihrer Karriere als Übersetzerin, Kulturführerin und Autorin und über die heilende Kraft von Mahlzeiten. Wir gehen ja immer davon aus, dass Amerika in der Vorstellung von Immigranten das Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist, aber Frankreich und insbesondere Paris steht den USA in dieser Hinsicht in nichts nach. Und das war Chawla, die mit sechzehn begann, Französisch zu lernen, schon sehr früh klar. An der Jawaharlal Nehru University in Neu-Delhi spezialisierte sie sich auf französische Linguistik und strebte eine Karriere im Tourismus an. Und hier traf sie auch ihren Mann, den sie mit vierundzwanzig aus Liebe heiratete – gegen den Willen ihrer Eltern. »Er kam aus einer anderen Kaste. Er war kein Arzt, sondern Reisevermittler. So haben sie der Heirat ihren Segen gegeben, sie aber nicht unterstützt.« GESCHICHTENERZÄHLERINNEN
201