Bücher-Herbst 2021

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LITER ATUR

FALTER 42 ∕ 21

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„Sie sollen ja nur geimpft werden“ Rechtzeitig zum 100. Geburtstag von Ilse Aichinger erscheint der Band „Aufruf zum Mißtrauen“

B

eruhigen Sie sich, armer bleicher Bürger des XX. Jahrhunderts! Weinen Sie nicht! Sie sollen ja nur geimpft werden. Sie sollen ein Serum bekommen, damit Sie das nächste Mal umso widerstandsfähiger sind!“ Der Titel dieser Neuerscheinung zu ihrem 100. Geburtstag stammt von einem der bekanntesten Texte Ilse Aichingers: Ihr legendärer „Aufruf zum Mißtrauen“ erschien 1946 in der radikal modernen Zeitschrift PLAN und erregte Aufsehen. Wie die anderen etwa 100 hier konzentrierten „Verstreuten Publikationen 1946–2005“ nahm die Autorin ihn nicht in eines ihrer Bücher auf, er war ihr „nicht gut genug geschrieben“. Die Leserinnen und Leser sollten, so die 25-Jährige damals, nach den Jahren der Nazi-Herrschaft, zuallererst sich selbst misstrauen: „Der Klarheit unserer Absichten, der Tiefe unserer Gedanken, der Güte unserer Taten!“ Keine halben Sachen zu akzeptieren, sich nicht zu fügen und zu begnügen, diese Haltung ist bezeichnend für Aichingers gesamtes Werk. Gegen die falsche Selbstsicherheit des beginnenden Wiederaufbaus bringt sie das Geschütz ihrer Literatur in Stellung: „Und wir beruhigen uns wieder. Aber wir sollen uns nicht beruhigen!“

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Gegen die falsche Selbstsicherheit des Wiederaufbaus optiert Aichinger für eine Haltung der Renitenz

Misstrauen, Trotz und Aufmüpfigkeit prägen

Aichingers Schreiben in 60 Jahren, von den ersten Veröffentlichungen voll jugendlichem Pathos bis zu den absichtslos wirkenden, angriffslustigen Kurztexten des Alterswerks. „Ich habe mir meine Renitenz bewahrt“, meint die Autorin in einem Interview. Diese richtet sich nicht allein gegen den Zwang sozialer Übereinkünfte, sondern gilt dem Auf-der-Welt-Sein an sich und dem Einverständnis damit. Mit dem ihr eigenen unbarmherzigen Witz ist Aichinger davon überzeugt, „dass positiv zu denken das Gegenteil von Denken ist“. Ihr Misstrauen gilt der eigenen Sprache wie dem Staat, etwa in Ge-

Ilse Aichinger: Aufruf zum Mißtrauen. Verstreute Publikationen 1946–2005. Hg. v. Andreas Dittrich. S. Fischer, 320 S. € 25,95

stalt der „Beamtenlogik“, die sich in den 1990er-Jahren der Reform der Rechtschreibung annimmt. Vehementer noch ist ihre Absage an den literarischen „Austrokoffer“ der schwarz-blauen Regierung zum Gedenkjahr 2005 als drohenden „Scheintod im von Schüssel konzipierten, handbemalten Gesamtkunstwerk – zugleich mit 130 Autoren und Autorinnen“. Der Band enthält aber auch charakteristische Erzählungen, Prosaminiaturen, szenische Dialoge und Gedichte. „Fräulein Kafka“ war Aichingers früher Spitz-

name, später wandte sie sich mit ihrem Bekenntnis zu den „Schlechten Wörtern“ von dieser Nachfolge ebenso ab wie vom Exquisit-Poetischen. Die Erscheinungsorte der beim Erstellen des „Digitalen Ilse Aichinger Literaturverzeichnisses“ (dial) gemachten Textfunde hat der Herausgeber im Anhang sorgfältig nachgewiesen und den Kontext erläutert. Nicht zuletzt ergibt sich aus etlichen autobiografischen Splittern in diesem Band ein Porträt oder doch eine Porträtskizze. Wir erfahren etwas über Aichingers Diskriminierung und Verfolgung als „Halbjüdin“, über das Heimweh nach der Geborgenheit in der Klosterschule der Ursulinen, über die Mutter, die als jüdische Ärztin ihre Stelle verlor, die Zwillingsschwester Helga, die mit einem Kindertransport nach England entkam und dort blieb. Haarsträubend ist die Geschichte vom freundlichen Nazidoktor und Euthanasieverbrecher Jekelius, die Aichinger in „Reise in den Antisemitismus“ anlässlich der Debatte über Martin Walsers Reich-Ranicki-Abrechnung „Tod eines Kritikers“ erzählt; tiefschürfend sind ihre Beobachtungen zur Literatur, zum Beispiel über Gert Jonke oder Hugo von Hofmannsthal, der ihr in seiner aristokratischen Attitüde mit guten Gründen suspekt ist. Durchaus dankbar resümiert Ilse Aichinger ihre Zeit in und mit der karriereentscheidenden „Grup-

pe 47“, wobei sie gegen die Konkurrentin Ingeborg Bachmann und deren Werk eine gar nicht kollegial verbrämte Abneigung hegt. Ein hintergründiges Gedicht schreibt Aichinger 1998 zum Tod von Ernst Jünger, der sich von seiner Marschetappe gemeinsam mit den Nazis nie distanzierte: „Wie stirbt man im Schlaf – / und vor allem: Wie lebt / man im Schlaf ?“ Wirklich beeindruckt war die Dichterin vom Beispiel der Geschwister Scholl, denen sie einen längeren Essay mit Briefzitaten und Zeugenberichten widmet – staunend über deren uneitle Konsequenz und unerschütterliche Fröhlichkeit bis zur Hinrichtung. Dieser tastende Versuch, die extreme Mutprobe ihrer Altersgenossen zu verstehen, macht den Band ebenso lesenswert wie die irrlichternd sprunghaften und dabei stets präzisen Räsonnements einer rebellischen Zeitgenossin. Als Einstieg in Aichingers Werk sollte man sich

aber vielleicht doch eher aus der achtbändigen Ausgabe des früh verstorbenen Literaturkritikers Richard Reichensperger bedienen, die „Aufruf zum Mißtrauen“ ideal ergänzt. Reichensperger ist es auch zu verdanken, dass die kinosüchtige Dichterin sich nach langem Schweigen wieder zu Wort meldete, unter anderem mit hellsichtigen Essays zu Größen der Filmgeschichte, etwa zur bewunderten Katherine Hepburn oder zum ins moralische Zwielicht geratenen Heinz Rühmann. Auf die Frage nach ihrem Debüt bekennt Aichinger 2005, sie habe den Roman „Die größere Hoffnung“ (1948) begonnen, weil sie für das Medizinstudium handwerklich zu ungeschickt war. „Ich könnte noch schreiben, weil ich eben nichts anderes kann, aber es genügt mir, so lange als möglich nicht zu schreiben – der schwierigere und eigentliche Teil der Arbeit. Denn es ist sich nicht das Vergehen von Zeit, sondern das der eigenen Person, auf das es ankommt.“ DANIEL A STRIGL


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