Bücher-Herbst 2021

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SACHBUCH

Auf dem Weg zu Big Data zerfällt die Wahrheit Medien: Byung-Chul Han reflektiert das Informationsregime und das Ende von verbindlichen „Tatsachen“ n seinem neuen Essay „Infokratie“ Ilosoph schreibt der 1959 in Seoul geborene PhiByung-Chul Han ganz am Ende ei-

nen Satz, bei dem einem angst und bange wird: „Im totalitären Staat, der auf einer Totallüge aufgebaut ist, ist das Wahrsprechen ein revolutionärer Akt. (…) In der postfaktischen Informationsgesellschaft hingegen geht das Pathos der Wahrheit gänzlich ins Leere. (…) Die Wahrheit zerfällt zum Informationsstaub, der vom digitalen Wind verweht wird. Sie wird eine kurze Episode gewesen sein.“ Das klingt nicht zufällig wie ein Echo jenes be-

rühmten Satzes von Michel Foucault, mit dem dieser einst dem Menschen nachgerufen hat. Der Mensch sei eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeige, schrieb Foucault, womöglich auch das baldige Ende. Dann könne man sehr wohl wetten, „dass der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“. Byung-Chul Han verabschiedet nicht den Menschen, sondern eine bestimmte Form des menschlichen Miteinanders, die sich mit der Demokratie entwickelt hatte: rationale Kommunikationsweisen, die auf Basis eines gemeinsam geteilten Wahrheitsgrundes zu Willensbildung führten. In der Informationsgesellschaft gebe es diesen gemeinsamen Boden der Tatsachen nicht

mehr. Argumente würden durch Meinungen ersetzt, Informationen per Algorithmen und künstlicher Intelligenz über digitale Plattformen geteilt und verbreitet. So gingen Sinn und Ordnung verloren. Ein Informationsregime entstehe, das alle politischen Entscheidungen beeinflusse. „Im Gegensatz zum Disziplinarregime werden nicht Körper und Energien, sondern Informationen und Daten ausgebeutet.“ In klarer, pointierter Sprache lässt Han all die Schreckensszenarien einer schönen digitalen Big-Brother-Gesellschaft an uns vorbeiziehen. Das ist nicht neu. Aber in der suggestiven Zusammenstellung wird einem der Bruch mit unserer ehemals vertrauten Lebenswelt doch drastisch bewusst. Was Foucault als Disziplinarregime beschrieben hat – die Herrschenden setzen auf Überwachen und Strafen –, weicht nun einer ganz anderen Logik: „Im Informationsregime bemühen sich die Menschen von sich aus um Sichtbarkeit, während das Disziplinarregime sie ihnen aufzwingt.“ Die Konsequenz daraus: Die Menschen, so Han, legen sich selbst Fesseln an, indem sie fortwährend kommunizieren und Daten produzieren. Freiheit werde suggeriert, und doch seien wir gefangen in einer vermeintlichen Wohlfühlgesellschaft. Selbstverwirklichung sei aber nur ein anderes Wort für die Preisgabe jeglicher Intimität. Han führt aus, welche politischen Folgen

es hat, wenn narrative Strukturen durch das Numerische ersetzt werden: Big Data statt Diskurs. Politiker folgen nicht wertegeleiteten Idealen, sondern momenthaften Stimmungsbildern. Demokratie, so Han, werde zur Infokratie. Der Kommunikationsrausch halte die Menschen in einer neuen Unmündigkeit fest. Rational handeln kann aber nur, wer inne-

Byung-Chul Han: Infokratie. Digitalisierung und die Krise der Demokratie. Matthes & Seitz Berlin. 92 S., € 10,30

hält und einen gewissen Bezug zu Tatsachen wahrt. Wer ständig kommentiert und likt, wird schwer einen klaren Gedanken fassen können. Das freilich ist ein Einfallstor für Desinformation. Informationskriege haben wir schon bei den letzten Wahlen in den USA erlebt. Kaum lässt sich dabei mehr von Lügen sprechen: Realität wird einfach nicht mehr anerkannt. Filterblasen verstärken Effekte der Fragmentierung. Die Digitalisierung, so Han, beschleunige den Zerfall der Lebenswelt. Der Diskurs werde durch Glauben und Bekenntnis ersetzt, wer Gegenargumente liefere, werde nicht mehr als Diskurspartner akzeptiert, sondern als Feind verachtet. Byung-Chul Hans Buch ist dunkel und hellsichtig, eine ernüchternde Bestandsaufnahme der Entwicklung des digitalen Zeitalters, das so große Versprechen bereitzuhalten schien. Es ist ein deprimierendes Buch. Denn Auswege zeigt es nicht auf. ULRICH RÜDENAUER

Zwischen Meinungsfreiheit und Verschwörung Medien: Sheera Frenkel und Cecilia Kang sprachen mit 400 Insidern über die fragwürdigen Praktiken von Facebook or einer Weile hat das Weiße Haus V einen Mitschuldigen für die sinkende Impfbereitschaft ausfindig gemacht: Face-

book. Die über die soziale Plattform verbreiteten Falschinformationen und Verschwörungstheorien sorgten mit dafür, dass auch in den USA die Infektionen mit Covid-19 wieder drastisch zunehmen, war sich die Regierung sicher. Soziale Medien wie Facebook würden Menschen umbringen, sagte Joe Biden ziemlich unverblümt. Daraus sprach eine generelle Frustration, ein Unbehagen, das der Internetriese Facebook seit Jahren nährt. Entgegen allen Beteuerungen seines Gründers Mark Zuckerberg wurden die mit dem Unternehmen in Verbindung gebrachten Missstände nie ernsthaft angegangen. Wie Facebook die Welt auch zum Schlechten verändert, auf Vorwürfe reagiert und zur Destabilisierung ganzer politischer Systeme beiträgt – das zeigt nun eindrucksvoll das Buch zweier investigativer Journalistinnen der New York Times. Sheera Frenkel und Cecilia Kang haben sich

jahrelang mit den Praktiken von Facebook auseinandergesetzt, Interviews mit 400 Insidern geführt, die Rolle von Co-Geschäftsführerin Sheryl Sandberg genau ins Visier genommen. Es ist ein intimer Einblick in einen Konzern, dessen Geschäftsmodell auf Transparenz basiert und der doch wie kaum ein zweiter versucht, interne Vorgänge vor der Öffentlichkeit zu verbergen.

Was Facebook heute dank Zuckerberg und seiner rechten Hand Sheryl Sandberg ist: ein gieriges Wesen, das alle von seinen Nutzern freiwillig gelieferten Daten in Geld verwandelt. Keiner der unzähligen Skandale scheint diese rund laufende Maschine ins Stocken zu bringen: Datenleaks, die Einflussnahme Russlands auf die Präsidentschaftswahl 2016 durch auf Facebook geschaltete Anzeigen zeigen, die fortwährende Verbreitung „alternativer Fakten“, der Cambridge-Analytica-Skandal oder der verheerende Völkermord an den Rohingya in Myanmar, der durch ungefilterte Hassposts auf Facebook entscheidend forciert wurde. Sicherheitsbedenken stehen stets an zweiter Stelle. An erster kommt Zuckerbergs Credo, die User an das Medium zu binden und durch den Newsfeed und bestimmte Angebote dafür zu sorgen, dass sie so viel Zeit wie möglich auf der Seite verbringen. Die Verweildauer sorgt für den enormen Profit. Erst wenn Protest überhandnimmt, reagiert die Geschäftsführung – mit beschwichtigenden Worten und Versprechungen, die selten eingehalten werden. Die Meinungsfreiheit sei die oberste Richtlinie, betont Zuckerberg immer wieder. „Facebook hatte wieder und wieder die Möglichkeit, das Richtige zu tun“, sagt der Menschenrechtler Matthew Smith, „aber sie taten es nicht. Nicht in Myanmar. Sie hatten die Wahl und entschieden sich dafür, nicht zu helfen.“

Weil das so ist, wurden in den letzten Jahren Forderungen laut, den Konzern zu zerschlagen. Besonders hart traf Zuckerberg ein Artikel in der New York Times, in dem der Facebook-Mitbegründer Chris Hughes genau das schrieb: „Mark war Facebook, und Facebook war Mark. Und solange er das Sagen hatte, gab es nur eine Lösung für die zahllosen Probleme der Firma: Die Regierung musste sich einschalten und das Unternehmen in mehrere Einzelteile zerlegen.“ Dieses Szenario ist nicht vom Tisch. Es ist der

Sheera Frenkel, Cecilia Kang: Inside Facebook. Die hässliche Wahrheit. S. Fischer, 384 S., € 24,90

Albtraum schlechthin für den Kontrollfreak Zuckerberg. Liest man Frenkels und Kangs „hässliche Wahrheit“ über Facebook, könnte die Zerschlagung allerdings der einzige Schritt sein, um die Machtkonzentration des Unternehmens zu brechen. Dass das allerdings den Geist zurück in die Flasche drängen wird, bezweifeln auch die beiden skrupulös recherchierenden, scharfsinnigen Journalistinnen: „Selbst wenn die Regulierungsbehörden oder Zuckerberg selbst eines Tages beschließen sollten, das FacebookExperiment zu beenden, wird die Technologie, die sie auf uns losgelassen haben, weiterbestehen.“ Alle, die sich in der schönen neuen Welt sozialer Medien bewegen, sollten „Inside Facebook“ lesen. Und beim nächsten Besuch auf Facebook zumindest darüber nachdenken, was sie mit Mark Zuckerberg teilen wollen. ULRICH RÜDENAUER


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