Bücher-Herbst 2021

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SACHBUCH

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Philosophie made in Vienna Philosophie: David Edmonds erzählt in einer plastischen Gruppenbiografie die Geschichte des Wiener Kreises

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avid Edmonds, der umtriebige britische Wissenschaftsjournalist, hatte schon des Längeren eine umfassende Kulturgeschichte des Wiener Kreises auf der Agenda. Sein Buch „Wie Ludwig Wittgenstein Karl Popper mit dem Feuerhaken drohte“ (2001) war quasi die Vorübung einer jahrzehntelangen Beschäftigung mit dem besonderen intellektuellen Nährboden der ehemaligen Habsburgermetropole in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der Vertreibung ihrer Exponenten. „Die Ermordung des Professor Schlick“ ist trotz seiner Kompaktheit ein erstaunlich vielseitiges Buch, das sehr geschickt Akzente setzt. Geschrieben für ein breites Publikum, fasst es prägnant Themen und Positionen mitsamt ihrer Einordnung in die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte zusammen, wobei es gleichzeitig die Aktivitäten des Wiener Kreises in das große historische Ganze einordnet. Bevölkert von streitbaren Charakteren mit oft seltsamen Auftritten, liefert die Studie eine farbige Gruppenbiografie und folgt den einzelnen Lebensläufen bis an ihr Ende. Die Exzentrik Ludwig Wittgensteins ist einigermaßen bekannt, weniger das laute und maßlose Selbstbewusstsein Karl Poppers, dem die Mitgliedschaft im Kreis verwehrt wurde.

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Die Mitglieder des Kreises hatten vielleicht nicht alle Antworten parat, aber sie stellten meist die richtigen Fragen – Fragen, mit denen Philosophen auch weiterhin ringen DAVID EDMONDS

Die Anfänge des Wiener Kreises reichten noch

in die Monarchie zurück, als Hans Hahn, Otto Neurath, Philip Frank und andere Physiker regelmäßig über den großen Theoriewandel in ihrer Disziplin diskutierten. Albert Einsteins Relativitätstheorie und die Arbeiten von Ernst Mach und Ludwig Boltzmann, in denen die klassischen Annahmen von Raum und Zeit gekippt wurden, bildeten den Bezugsrahmen eines theoretischen Aufbruchs, in dem die strenge Prüfung aller wissenschaftlichen Behauptungen im Mittelpunkt stand. 1922 kam der Berliner Moritz Schlick, der bei Max Planck über die Eigenschaften des Lichts dissertiert hatte, auf den Lehr-

David Edmonds: Die Ermordung des Professor Schlick. Der Wiener Kreis und die dunklen Jahre der Philosophie. C.H. Beck, 352 S., € 26,80

stuhl für Naturphilosophie an der Universität Wien. Seine charismatische Persönlichkeit zog eine große studentische Zuhörerschaft an, gleichzeitig bedeutete seine intellektuelle Ausstrahlung auch einen Schub für die kleine Diskussionsrunde, in der sich nun eine erweiterte Gruppe brillanter, streitbarer Köpfe zusammenfand, um die Philosophie des 20. Jahrhunderts zu revolutionieren. Ludwig Wittgenstein erlangte damals gerade mit dem 1918 vollendeten und 1921 publizierten „Tractatus logico-philosophicus“ einen Geniestatus in der Philosophie, was Moritz Schlick veranlasste, zu ihm zu pilgern und ihn zu den Kreis-Sitzungen einzuladen. Wittgenstein sagte zu, traf ausgewählte Mitglieder des Kreises regelmäßig zu Diskussionen und Lesungen, bei denen es oft heftig zuging und die mit einer gewissen Exzentrik gestaltet wurden. Um eine Gruppe zu einen, hilft nichts mehr, als

einen gemeinsamen Feind zu haben. Wenn die Mitglieder des Wiener Kreises etwas zu lachen haben wollten, dann lasen sie einander Martin Heideggers Ausführungen über den Tod vor und versuchten, diese in eine wissenschaftliche Sprache zu übersetzen. Stürmische Heiterkeit, so wurde berichtet, war garantiert. Heidegger, mit seinem 1927 erschienenen Werk „Sein und Zeit“ der angesagteste Philosoph jener Jahre, war für sie ein Gaukler, ein Schwindler, einer, der mit Sätzen wie „Das Nichts selbst nichtet“ Unsinn produzierte. Philosophie sollte darauf zielen, Klarheit in die Aussagen der Wissenschaft zu bringen, und nicht, metaphysischen Kauderwelsch in die öffentliche Debatte zu schleusen. Der heroische Kampf galt der Überwindung der Metaphysik. Rudolf Carnaps Essay „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ (1932), der sich an Heidegger abarbeitete, verspottete dessen behauptete Tiefgründigkeit auch öffentlich.

Allerdings waren Absagen an Metaphysik und Irrationalismus, als Austrofaschismus und Nationalsozialismus darangingen, die totale Macht zu ergreifen, politisch anstößig und gefährlich. Mit deren Kennzeichnung als „jüdisches Denken“ wurde die Basis für Ausgrenzung und Vertreibung gelegt. In Österreich galt der logische Empirismus als linkslastig, mochten manche aus dem Wiener Kreis noch so sehr den unpolitischen Habitus betonen. Der „Verein Ernst Mach“ wurde nach 1934 verboten. Otto Neurath, das politisch aktivste Mitglied, kehrte aus guten Gründen nicht mehr nach Österreich zurück. Als Moritz Schlick am 22. Juni 1936 auf der

Freitreppe der Wiener Universität ermordet wurde, mochte die Tat aus persönlichen Rachemotiven geschehen sein, die öffentliche Reaktion darauf war signifikant und einigermaßen eindeutig: Schlicks antireligiöse Philosophie sei „sehr zum Schaden für den Ruf Österreichs als eines christlichen Staates“ gewesen. Der Lehrstuhl wurde nicht nachbesetzt. Der große Exodus von Österreichs brillantesten Denkern hatte längst begonnen: Rudolf Carnap war schon 1931 nach Prag gegangen, während in Wien nach Schlicks Ermordung Friedrich Waismann endgültig seine Stellung verlor, Kurt Gödel einen Nervenzusammenbruch erlitt und so weiter. Letztlich schafften alle Mitglieder des Wiener Kreises den Sprung ins Exil nach Großbritannien oder in die USA, die meisten machten Karriere an Spitzenuniversitäten, aber nicht alle konnten Armut und Unsicherheit entkommen. Edmonds schildert auch die tragischen Schicksale. Sein Resümee über das Vermächtnis der einflussreichen Wiener Philosophenrunde: „Die Mitglieder des Kreises hatten vielleicht nicht alle Antworten parat, aber sie stellten meist die richtigen Fragen – Fragen, mit denen Philosophen auch weiterhin ringen.“ ALFRED PFOSER

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Literaturverlag Droschl www.droschl.com


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