Bücher-Herbst 2021

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SACHBUCH

Pläne für eine neue Beziehung zur Welt Biologie: Robin Wall Kimmerers „Geflochtenes Süßgras“ legt einen späten Senkrechtstart hin

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Man zeigt seine Fürsorge nicht, indem man das, was man liebt, hinter einem Zaun wegsperrt

Mit der Taschenbuchausgabe hat ein unge-

wöhnliches Werk einen verzögerten Erfolgsweg eingeschlagen. Die Mundpropaganda gibt auffallend oft Werken einen Schub, die sich nicht so recht geschmeidig in eine Buchhandelsschublade einordnen lassen wollen. Für „Geflochtenes Süßgras“ gilt das sicher. Es ist vieles in einem: botanisches Werk, Erinnerungsliteratur, persönliche Lebens- und Erfahrungsgeschichte, kulturanthropologische Betrachtung, ökopolitisches Plädoyer für eine Kultur der Dankbarkeit im Umgang mit der Erde und ihren

Robin Wall Kimmerer. Geflochtenes Süßgras. Die Weisheit der Pflanzen. Aufbau, 462 S., € 24,70

Ressourcen, Fusion von indigenem und naturwissenschaftlichem Wissen in Bezug auf Pflanzen und Umwelt. Seine Autorin, Robin Wall Kimmerer, Jahrgang 1953, ist Botanikerin, Professorin für Pflanzen- und Umweltökologie an der State University of New York in Syracuse und Umweltaktivistin. Sie ist Angehörige des indigenen Volks der Potawatomi und hat es sich schon seit Studienzeiten zur Aufgabe gemacht, tradiertes indigenes Wissen zum Umgang mit Fauna, Flora und Landschaft in die modernen Umweltwissenschaften einzubringen. Das sind die äußeren Rahmenbedingungen für ein Buch, das sich am besten als große Reise beschreiben lässt, in der sich unzählige Einzelstränge zu einer hochpoetischen und wissensgetränkten Erzählung fügen – wie die einzelnen Halme des titelgebenden Süßgrases zu einem dicken Zopf. Süßgras spielt in indigenen Schöpfungsmythen und -ritualen eine zentrale Rolle. Es ist auch eine der Pflanzen, die in Kimmerers Buch die Protagonisten sind: als Lehrer für gelungene Kooperation, als Nahrung und als Material für Werkzeug und Alltagsgegenstände, als Träger von Schönheit, als Lebewesen innerhalb von indigenen Traditionen, die den Menschen als „kleinen Bruder der Schöpfung“ betrachten und nicht als deren Krönung. Es geht Kimmerer um die Fusion beider Perspektiven im Dienste dessen, was sie angesichts von Umweltzerstörung, Ressourcenausbeutung und entfesselter Marktwirtschaft (Letztere ist für sie „ein soziales Konstrukt“, das sich ausgebreitet hat „wie ein Buschfeuer“) die dringend benötigten „Sanierungspläne für unsere Beziehung zur Welt“ nennt. Sie plädiert für die „Fähigkeit zur Selbstbeschränkung“ oder das traditionelle indigene Nachhaltigkeitsprinzip der „ehrenhaften Ernte“, bei dem es darum geht, nie mehr zu nehmen, als man braucht, und stets etwas zurückzugeben.

Während man das Buch mit seinen Mäandern und Rückblicken, Details, Exkursen, Naturbetrachtungen und Selbstreflexionen inhaliert, taucht man in eine Fundgrube an Wissen ein. Wenn Kimmerer etwa ihre Bemühungen beschreibt, die vom Aussterben bedrohte Sprache der Potawatomi zu lernen, versucht man mit ihr über eine „Grammatik der Belebtheit“ nachzudenken: Es ist eine Sprache, in der 70 Prozent aller Wörter Verben sind (im Englischen sind es nur 30 Prozent), Zeitwörter wie „eine Bucht sein“ vorkommen, die für uns erst langsam Sinn ergeben, und in der es von fast allen Wörtern Varianten gibt, abhängig davon, ob man von etwas Belebtem oder Unbelebtem spricht. Von Naturromantik ist hier nicht die Rede. Es

geht Kimmerer auch nicht darum, die Natur in Ruhe zu lassen. „Man zeigt seine Fürsorge nicht, indem man das, was man liebt, hinter einem Zaun wegsperrt.“ Auf vielfältige Weise, etwa auch anhand von botanischen Feldforschungen einiger ihrer Doktoranden, zeigt sie auf, dass es in der Beziehung zwischen Mensch und Natur um Reziprozität geht, um einen fairen Austausch. Mindestens so wichtig – darin liegt eine der größten Leistungen dieses Buchs – ist für Kimmerer die Einsicht, dass unsere Beziehung zum Land nicht gesunden kann, „solange wir uns nicht seine Geschichten anhören“. Sie selbst ist ganz groß im Hinhören: Durch Kimmerers Augen betrachtet wird ein Wassertropfen oder ein winziger Flecken Waldboden zum Ausgangspunkt für die spannendsten mythischen und wissenschaftlichen Detailgeschichten. Wohl auch deshalb stellt sich bei der Lektüre bald Zuversicht ein. Oder wie die britische Nature-Writing-Bestsellerautorin Helen Macdonald („H wie Habicht“) es ausdrückte: „Geflochtenes Süßgras“ gebe ihr Trost und habe ihr das Gefühl vermittelt, „dass es noch Hoffnung gibt für diesen Planeten“. JULIA KOSPACH

ILLUSTR ATION: PM HOFFMANN

I

n der Buch- und Verlagswelt wird viel und gern darüber gesprochen, welche Faktoren es sind, die die Verkaufszahlen eines Buchs in die Höhe schnellen lassen. Eine gute Story? Sowieso. Ein ordentliches Budget fürs Marketing? Auf jeden Fall. Vorangegangene Bestseller aus derselben Feder? Schadet keinesfalls. Eine charismatische Autorin, ein charismatischer Autor mit interessanter Lebensgeschichte, die wichtige Medien vorab prominent featuren? Unbedingt. Doch all das kann vorhanden sein und aus einem noch so guten Buch wird trotzdem kein Bestseller. Umgekehrt gibt es gute Bücher, die beinah im Verborgenen erscheinen, sich einen eigenen Weg bahnen und auch ganz ohne Rückenwind aus dem Verlagsmarketing zum Erfolg werden. Das geschieht, wenn das völlig unkalkulierbare Vehikel namens Mundpropaganda in Schwung kommt. Mit alchemistischer Energie verwandelt es einen Titel, auf den vorher keiner groß gewettet hätte, zum Senkrechtstarter. Mitunter dauert das. So wie bei Robin Wall Kimmerers Buch „Geflochtenes Süßgras“. In der amerikanischen Originalausgabe aus dem Jahr 2013 fiel es abseits einiger anerkennender Rezensionen nicht weiter auf. Doch dann, als Paperback, explodierten die Verkaufszahlen plötzlich und es steht seit dem Frühjahr 2020 nonstop auf der Bestsellerliste der New York Times.


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