GEBÄUDE
mit Geschichte-
GESCHICHTEN über Gebäude
(Folge1) Zum Autor Otmar Lahodynsky 67, war Journalist beim „profil“, EUKorrespondent der „Presse“ und Außenpolitik-Chef beim „Kurier“. Er ist Ehrenpräsident der „Association of European Journalists“ (AEJ) und Dr-Karl-Renner-Preisträger.
Schneller Brüter Kommentar: Otmar Lahodynsky
Der EU-Hauptstadt Brüssel fehlte lange ein Amtsgebäude, mit dem das Machtzentrum der Union mit 27 Mitgliedstaaten auch architektonisch verbunden werden kann. Seit 2017 präsentiert sich die EU mit einem neuen Gebäude im an Glaspalästen nicht gerade armen Brüssel: „Europa“ heißt es schlicht und ist eine würfelförmige Struktur, in deren Innerem eine mehrstöckige, 40 Meter hohe Amphore mit Platz für mehrere Konferenzsäle integriert wurde. „Schneller Brüter“ oder „Space Egg“ nennen Einheimische respektlos den Amtssitz des „Europäischen Rates“, also jener EU-Institution, in der die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsstaaten vertreten sind. Mindestens viermal im Jahr halten sie hier ihre Gipfeltreffen ab, um die gemeinsame Politik festzulegen. Koordinator und Hausherr ist der Belgier Charles Michel, amtierender Präsident des Europäischen Rates.
Gelebte Kreislaufwirtschaft
Das auffälligste Merkmal ist die Außenwand auf zwei Seiten des Würfels: Sie besteht aus hölzernen Fensterrahmen, die aus Abbruchhäusern in mehreren EU-Ländern gesammelt wurden. So entstand ein Mosaik aus Holzsprossen, das Nachhaltigkeit demonstrieren soll. Ein PhotovoltaikDach und die Nutzung von Regenwasser für die Toilettenanlagen sollen ebenfalls Umweltbewusstsein zeigen.
Für den neuen Amtssitz hat der belgische Architekt Philippe Samyn 2005 die Ausschreibung gewonnen. Vermutlich auch, weil er am Massachusetts Institute of Technology (MIT) zur Tragfähigkeit von Baumaterialien forschte. Die Idee mit der bauchigen Form für mehrere Konferenzsäle sei ihm nachts gekommen, erzählte Samyn. Denn die statischen Auflagen waren heikel: Die Grundfläche musste wegen einer unten liegenden UBahn- und Eisenbahnstation klein bemessen sein. Für die Innenausstattung holte Samyn den belgischen Künstler Georges Meurant ins Boot. Der sorgte mit bunten Quadraten und Rechtecken an Wänden, Decken und Fussböden für ein farbenfrohes Ambiente. Das neue Ratsgebäude war mit Baukosten von über 300 Millionen Euro nicht gerade billig. Aber auch der frühere Amtssitz, das nebenan liegende „Justus Lipsius“-Gebäude, wo weiterhin die Büros der über 4.000 Beamten des EU-Rates untergebracht sind, war teuer. Es hat zwar keinen Spitznamen, wurde aber dafür spöttisch mit dem Baustil unter Hitler oder Mussolini verglichen.
Fotos: xxx, Adobe Stock
Hinter der Holzfensterfassade steht die eigentliche Schutzhülle des Kubus, eine von Stahlträgern gestützte doppelte Glasfassade. Nachts strahlt dahinter die 13-stöckige Amphore, die mit tausenden LED-Lämpchen bestückt ist. So erscheint die EU-Machtzentrale transparent, ist aber gleich-
zeitig gegen Terroranschläge ausreichend gewappnet, auch durch dicke Betonmauern und Stahlträger. An die anderen Würfelseiten schließt ein Art-Déco-Bau aus den Zwanziger Jahren, der „Résidence Palast“ an, der aufwendig renoviert wurde und vor allem die Büros der Mitgliedsstaaten beherbergt. Bei der Gründung galt der Appartementbau mit Hallenschwimmbad und Jugendstiltheater als luxuriöse Wohnadresse.
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