Auch wenn nach altägyptischer Vorstellung jedes Tier (ebenso wie der Mensch) vom Schöpfergott geschaffen wurde, ist sicherlich nicht jedes Tier gleichermassen als Darstellung einer bestimmten Gottheit zu verstehen. Nichtsdestotrotz wurden seit vorgeschichtlichen Zeiten göttliche Mächte mit Tieren assoziiert, deren Fähigkeiten jene des Menschen überstiegen. So lag es nahe, dass für die frühesten Götterdarstellungen Ägyptens reine Tiergestalten Verwendung fanden. Im Verlaufe dieser Entwicklung durchliefen die tiergestaltigen Mächte der Vorgeschichte einen Prozess der Vermenschlichung, indem sie menschliche Körperteile erhielten. Eine ganz entscheidende und für das alte Ägypten charakteristische Entwicklung setzte in der Frühzeit, also seit etwa 3000 v. Chr., ein: die Verschmelzung von Menschenleib und Tierkopf. Obschon sich diese theriomorphe Darstellungsform durchsetzen und zur typischen Erscheinungsform altägyptischer Gottheiten entwickeln sollte (mit vereinzelten Ausnahmen, wie die Götter Ptah und Min, die anthropomorph dargestellt wurden), verdrängte sie die rein tierische Gestalt von Göttern nie, sondern ergänzte sie. So konnte beispielsweise der Mondgott Thot – Gott der Weisheit, der Magie und der Schreibkunst – entweder in der Gestalt eines Pavians, eines Ibis oder menschengestaltig mit Ibiskopf in Erscheinung treten (Abb. 8). Die Tatsache, dass keine dieser verschiedenen Gestalten sich endgültig durchzusetzen vermochte, mag als Hinweis dafür gedeutet werden, dass sie die unterschiedlichen Charaktereigenschaften der jeweiligen Gottheit abbildeten, die je nach Bedarf Verwendung fanden. Es wurde also keine kanonische, allgemein gültige Götterdarstellung angestrebt, sondern eine Form, die der Vielfalt und Komplexität der Gottheit gerecht wurde. Auf diese Weise liessen sich komplexe theologische Vorstellungen zum Ausdruck bringen. Die Tiere, die dabei entweder als Ganzes oder als pars pro toto zum Einsatz kamen, liessen sich aber nicht auf einen einfachen Symbolwert reduzieren, sondern verkörperten vielmehr eine vielschichtige Bedeutungswelt. Im Unterschied zur klassischen Antike, in der Mischgestalten einerseits keine Gottheiten darstellten und andererseits in erster Linie das Bedrohliche symbolisierten, erschienen die mischgestaltigen Götter Ägyptens stets in erhabener Schönheit. Selbst Dämonen wie Thoëris, Bes oder die «Fresserin» wurden derart stilisiert und gebändigt dargestellt, dass sie nicht mehr abstossend wirkten.
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