IMPRESSUM
Autor
Dr. med. Hans-Rudolf Weiß
Arzt für Orthopädie, Arzt für Physikalische & Rehabilitative Medizin Schroth Best Practice Academy Haarbergweg 2 55546 Neu-Bamberg Email: hr.weiss@koob-skoliose.com Website: www.schrothbestpractice.com
Hinweis
Die medizinische Entwicklung schreitet permanent fort. Neue Erkenntnisse, was Medikation und Behandlung angeht, sind die Folge. Autor und Verlag haben alle Texte mit großer Sorgfalt erarbeitet, um alle Angaben dem Wissensstand zum Zeitpunkt der Veröffentlichung anzupassen. Dennoch ist der Leser aufgefordert, Dosierungen und Kontraindikationen aller verwendeten Präparate und medizinischen Behandlungungsverfahren anhand etwaiger Beipackzettel und Bedienungsanleitungen eigenverantwortlich zu prüfen, um eventuelle Abweichungen festzustellen.
Aufgrund der besseren Lesbarkeit verzichten wir auf die weibliche Form. Es ist selbstverständlich, dass wir alle Geschlechter in Einzahl, wie Mehrzahl ansprechen.
Urheber- und Nutzungsrechte
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Druck ISBN
BluePrint AG, München 978-3-9482-7735-2
Bibliografische Information
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de/opac.htm abrufbar.
Dr. med. Hans-Rudolf Weiß, Christa Lehnert-Schroth, Dr. Marc Moramarco, Kathryn Moramarco
DER AUTOR
Dr. med. Hans-Rudolf WeißEr ist Orthopäde, Arzt für physikalische Medizin und Chirotherapeut und ehemaliger ärztlicher Leiter des Katharina-Schroth-Rehabilitationszentrums für Wirbelsäulendeformitäten in Bad Sobernheim und der Rehabilitationseinrichtung für Wirbelsäulendeformitäten in Gensingen. Derzeit ist er als Senior Consultant für die Firma Koob Scolitech GmbH, Neu Bamberg, tätig, wo er das Qualitätsmanagement der computergestützten (CAD) Korsett-Designs für die von ihm entwickelten innovativen und individuellen Rumpforthesen weltweit betreut.
Er ist der Enkel von Katharina Schroth, der Erfinderin der Schroth-Methode. Er ist verantwortlich für die neueste, patientenfreundlichere Weiterentwicklung der Schroth-Methode, bekannt als Schroth Best Practice, und ist Vorsitzender und Senior Instructor der Schroth Best Practice Academy, einer internationalen Fortbildungsorganisation, welche weltweit Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen zum Thema „konservative Behandlung von Patienten mit Wirbelsäulendeformitäten“ organisiert.
Als Entwickler des Gensingen Brace (GBW) zur Behandlung der Skoliose sowie anderer Rumpforthesen für eine Vielzahl von Wirbelsäulenerkrankungen hat er mehrere hundert Publikationen über Wirbelsäulendeformitäten veröffentlicht. Zudem ist er Gründungsmitglied der SOSORT (Society on Scoliosis Orthopedic and Rehabilitation Treatment).
Seine langjährige Erfahrung und Zusammenarbeit mit Dr. Jacques Chêneau auf dem Gebiet der Korsettversorgung umfasste zahlreiche praxisorientierte Fortbildungskurse in der Katharina-Schroth-Klinik in Bad Sobernheim. Sein Fachwissen zu den Prinzipien der dreidimensionalen Krümmungs- und Rumpfkorrektur ist unübertroffen und findet sich in seinen hochmodernen Korsett-Designs wieder. Zusammen mit seiner Mutter, Christa Lehnert-Schroth, der international bekannten Physiotherapeutin und Autorin, und seinen langjährigen Freunden und Wegbegleitern, Dr. Marc Moramarco sowie dessen Frau Kathryn Moramarco, Autoren und Schroth-Therapeuten aus den USA, hat er das vorliegende Buch verfasst, welches nun in der dritten Auflage zur Verfügung steht.
Zu den Veröffentlichungen des Erstautors
INHALT
Der Autor 5 Vorwort 10
1. Einleitung 13
2. Geschichte 27
2.1 Die Geschichte der dreidimensionalen Skoliosebehandlung 48 nach Katharina Schroth
2.2 Die Entwicklung der Skoliosebehandlung nach Katharina Schroth 49
2.3 Erste Untersuchungen und wissenschaftliche Erkenntnisse 54
2.4 Schroth Best Practice® goes global 56
3. Die aktuelle Literatur zur Physiotherapie bei Skoliose – 61 eine kritische Einschätzung
3.1 Die Schroth-Methode und das Schroth Best Practice-Programm® 68 3.2 Mobilisation und Chirotherapie 71 3.3 Unbewiesene Methoden oder Methoden mit möglichen 72 Kontraindikationen
4. Befunderhebung 77
4.1 Der Röntgenbefund 80
Der Krümmungswinkel nach Cobb 81
Die Messung der Wirbelrotation 82 Beurteilung der Knochenreife 84
4.2 Klinische Messverfahren 86
Das Scoliometer™ 86 Andere klinische Messverfahren 88 Objektive Formanalyse des Rumpfes durch Oberflächenvermessung 89
5. Leitlinien: Indikation zur Behandlung von Skoliosen
93
Teilnehmer des Bewertungsverfahrens zur Evaluation 95 des Leitlinienprotokolls (Stufe I)
Teilnehmer des Delphi-Verfahrens zur Evaluation des 96 Leitlinienprotokolls (Stufe II) Definition 96 Ätiologie 98 Epidemiologie Klassifizierungen 99
Ziele des konservativen Managements Evidenz 100
Systematische Anwendung der konservativen Behandlung 101 bezüglich Cobb-Winkel und Reifegrad
6. Krankengymnastische Befunde 109
7. Das Schroth Best Practice-Programm® 133
7.1 Das physio-logic®-Programm 136
7.2 Beschreibung des physio-logic®-Übungprogramms 140
7.3 Schulung der Alltagsaktivitäten 147
7.4 Das Programm „3D einfach gemacht“ 149 „3D einfach gemacht“ zur Behandlung einer Krümmung aus der 149 Musterkategorie 3B (mit Ausnahme 3BL) „3D einfach gemacht“ zur Behandlung einer Krümmung aus der 151 Musterkategorie 4B (einschließlich 3BL)
7.5
„Power Schroth“ 152
Der Muskelzylinder 154 Die 50×-Übung 157 Die Türklinkenübung 159 Frosch am Teich 162
Das Beckenheben 164 Korrekturverstärker 167 Besonderheiten vierbogiger Korrekturmechanismen 169
7.6 Die Rehabilitation des Ganges 174
7.7 Die Kurzrehabilitation 175
7.8 Skolioseübungen im Kindesalter 178 Grundprinzipien der PEP-Übungen 178 Übungsbeschreibung 179
7.9 Die Behandlung dekompensierter thorakaler Krümmungen 182 über 70° Cobb
Allgemeine Korrekturprinzipien des Originalsystems Schroth 183 Spezielle Korrekturprinzipien des Originalsystems Schroth 185 7.10 Neuromobilisationstechniken für die Behandlung von 191 Wirbelsäulendeformitäten
Übungen zur Neuromobilisation in der Skoliosebehandlung 192 8. Biofeedback in der Physiotherapie bei der Skoliosebehandlung 203 9. Die Korsettbehandlung 211 9.1 Die Korsettversorgung 214 9.2 Korsettversorgung bei nicht idiopathischen Skoliosen 238 10. Operation und Operationsverfahren 245 10.1
Vorwort zur 3. überarbeiteten Auflage
VORWORT ZUR
3. ÜBERARBEITETEN AUFLAGE
Fast 4 Jahre ist es nun her, seit die 2. Auflage dieses Buches veröffentlicht wurde. Zwischenzeitlich hat sich das Karussell der Wissenschaft weitergedreht, auch auf dem Gebiet der Behandlung von Patienten mit Wirbelsäulendeformitäten. Die aktuellen Indikationsleitlinien wurden zwischenzeitlich evaluiert und an die neuesten Erkenntnisse angepasst. Dementsprechend wurde die vorherige Version der Leitlinien auch in diesem Buch ersetzt. Das Kapitel „Krankengymnastische Befunde“ ist ebenfalls vollständig überarbeitet und dem aktuellen Kenntnisstand angepasst worden. Auch alle anderen Kapitel wurden vollständig überarbeitet. Neu ist die Einführung von QR-Codes, welche zu Videos und zu aktuellen Originalarbeiten führen. Damit wird dieses Buch zu einer Multimedia-Dokumentation des Themas. Es vereinfacht den Zugang zur aktuellen Basisliteratur und erweitert die Illustrationsmöglichkeiten über die einfache bildhafte Darstellung hinaus. Wir hoffen daher, dass dieses Buch auch den Einstieg in das Ausbildungsprogramm der Schroth Best Practice Academy erleichtert.
Die Nachfrage nach dem Schroth Best Practice-Programm® ist in den letzten Jahren weltweit weiterhin angestiegen. Dieser Erfolg ist nicht nur Freude, sondern auch Ansporn für zukünftige Entwicklungen und Verbesserungen mit dem Ziel, noch effektivere und dabei weniger belastende Therapieansätze zu finden. Ich möchte meinen verbliebenen Co-Autoren, Marc und Kathryn Moramarco für ihren Einsatz für dieses Buch, aber auch für ihre jederzeitige Unterstützung herzlich danken. Meinen vielen Patienten danke ich ebenso für das mir entgegengebrachte Vertrauen, aber auch für die Möglichkeit, an und mit ihnen zu lernen und damit die hier dargestellten Methoden weiter zu entwickeln.
Neu-Bamberg im Frühjahr 2022
Dr. med. Hans-Rudolf Weiß
Senior Instructor der Schroth Best Practice Academy
Zur Schroth Best Practice®-Academy
Das Schroth Best Practice-Programm® wird mittlerweile weltweit angewendet.
„Die physiotherapeutische Behandlung der Skoliose hat speziell in Deutschland eine lange Tradition.“
1. Einleitung
„Hauptziel physiotherapeutischer Bemühungen ist neben dem Erhalt oder der Verbesserung der Funktion auch das Eindämmen einer Krümmungszunahme.“
Früher definierte man die Skoliose als teilstrukturelle Seitverbiegung der Wirbelsäule, welche nicht mehr vollständig aufgerichtet werden kann (Heine und Meister 1972, Meister 1980, Asher und Burton 2006, Weiss und Moramarco 2013a). Im Gegensatz zu den Skoliosen bekannter Ätiologie (angeborene Skoliose, neurogene Skoliose, myogene Skoliose, Skoliose bei Stoffwechsel- oder Systemerkrankungen, Skoliosen bei seltenen Syndromen) tritt die idiopathische Skoliose (Abbildung 1) ohne ersichtlichen Grund vor Einsetzen der Skelettreife auf (Heine 1980, Perdriolle und Vidal 1985, Weiss und Moramarco 2013a).
In 80-90 % der Fälle handelt es sich um eine idiopathische Skoliose. Eine asymmetrische Rumpfsilhouette im Stand deutet auf eine Skoliose hin. Der Vorbeugetest zeigt die strukturelle Komponente der Skoliose durch den in dieser Haltung hervortretenden Rippenbuckel oder durch den dadurch in Erscheinung tretenden Lendenwulst. Durch die ventral verdrehten Rippen auf der thorakalen Konkavseite entsteht zusätzlich ein sogenannter ventraler Rippenbuckel. Die Diagnose einer Skoliose erfolgt mittels einer Röntgenaufnahme der gesamten Wirbelsäule im Stehen (Abbildung 2). Im Zeitalter des digitalen Röntgens ist es möglich, bei optimaler Einstellung in der Verlaufskontrolle mit einer „kleinen“ Aufnahme und reduzierter Belichtungszeit auszukommen (Abbildung 3). Bei Patienten mit einer Körpergröße über 170 cm sind allerdings in der Regel zwei Teilaufnahmen anzufertigen und dann aneinanderzufügen.
Einleitung
Abbildung 1: Deutlich sichtbare Skoliose bei einer 13-Jä hrigen. Alle Komponenten einer Skoliose sind klar zu erkennen: 1. Seitabweichung, 2. Rippenbuckel als Ausdruck einer Verdrehung der Rumpfabschnitte gegeneinander und 3. Flachrücken mit deutlicher Reduktion der Kyphose im thorakalen Wirbelsäu lenabschnitt. Auf dem mittleren Bild wird die Seitabweichung der Wirbelsäu le deutlich und auf dem rechten Bild sind zus ät zlich die gegeneinander verschobenen Rumpfabschnitte gekennzeichnet.
Einleitung
Abbildung 2: Ganzaufnahme im Stehen mit Teilen des Skelettschädels und Beckens. Unter Verwendung der „direct radiography“ (DR) kann man heutzutage allerdings Kinder und Adoleszente bei optimaler Einstelltechnik auch unter Einblendung des Strahlenfeldes auf die absolut notwendige Region (Region of Interest/ROI) fast immer auf eine DR-Platte bringen, ohne weitere Aufnahmen zu machen (Weiss und Seibel 2013).
Die Auswertung der Röntgenbilder erfolgt mittels der Ausmessung des Krümmungswinkels nach Cobb (1948), der Ausmessung der Scheitelwirbelrotation und der Bestimmung der knöchernen Reifezeichen (Abbildung 4). Krümmungen von weniger als 10 Grad nach Cobb (1948) werden nicht als Skoliosen definiert.
Weibliche Individuen sind im Verhältnis von etwa 4:1 häufiger von der idiopathischen Skoliose betroffen als männliche. Zwar treten Krümmungen unter 10 Grad bei Jungen und Mädchen gleich verteilt auf, je schwerer aber die Krümmung wird, desto häufiger sind Mädchen davon betroffen (Weinstein 1985 und 1986, Asher und Burton 2006).
Eindeutige Erkenntnisse hinsichtlich des natürlichen Verlaufs der unbehandelten idiopathischen Skoliose liegen bislang noch nicht vor. Auch in der neueren Literatur gibt es unterschiedliche Angaben zur Progredienz, zumal den Einzeluntersuchungen unterschiedliche Ausgangsbedingungen zugrunde lagen und der Begriff „Progredienz“ zum Teil doch recht uneinheitlich definiert wurde. Es kristallisiert sich allerdings heraus, dass kleine Wirbelsäulenverbiegungen einen eher günstigen Verlauf nehmen (Brooks et al. 1975, Rogala et al. 1978, Asher und Burton 2006). Demgegenüber geben Sahlstrand und Lidström (1980) sowie Lonstein und Carlson (1984) übereinstimmend an, dass Krümmungen größeren Ausmaßes prozentual gesehen sehr viel mehr zu einer Progredienz neigen. Im Vergleich zu Jungen ist das Risiko für eine Progredienz bei Mädchen mit vergleichbaren Krümmungsformen in Abhängigkeit vom Cobb-Winkel 4- bis 10-fach erhöht (Weinstein 1985, Asher und Burton 2006). Mit zunehmender Skelettreife sinkt das Risiko einer Progredienz, obwohl bei hochgradigen Krümmungen trotz vorhandener Skelettreife noch eine beträchtliche Tendenz zur Verschlechterung bestehen kann.
Mit dem Erreichen der Skelettreife wird die Tendenz zu einer weiteren Krümmungszunahme demnach deutlich geringer. Duriez (1967), Collis und Ponseti (1969) und Weinstein (1986) fanden heraus, dass Krümmungen prinzipiell während des
gesamten Lebens fortschreiten können. Dies betrifft jedoch in der Regel nur Verkrümmungen über 30 Grad, am stärksten solche zwischen 50 und 75 Grad zum Zeitpunkt der Skelettreife, welche kontinuierlich um 0,75 bis 1 Grad zunehmen können (Weinstein 1986). Caillens et al. (1991) beschrieben, dass zwischen dem 50. und 70. Lebensjahr bei stärkeren Lumbalskoliosen nochmals mit einer Progredienz von mehr als 2 Grad pro Jahr gerechnet werden muss. Im Alter zwischen 65 und 80 Jahren zeigte sich in der Untersuchung gar eine Krümmungszunahme um mehr als
Einleitung
Abbildung 3: Einplattentechnik. Im Zeitalter des digitalen Röntgens unter Verwendung der „direct radiography“ (DR) kann man die Wirbelsäule von Kindern und Adoleszenten bei optimaler Einstelltechnik unter Einblendung des Strahlenfeldes auf die absolut notwendige Region (Region of Interest/ROI) fast immer auf eine DR-Platte bringen, ohne weitere Aufnahmen zu machen. Dadurch werden unnötige Bestrahlungen größerer Körperregionen außerhalb der ROI vermieden. Links weit eingeblendetes Röntgenbild der Patientin (Mitte) ohne Korsett und rechts Röntgenkontrolle der Patientin mit Korsett.
Einleitung
5 Grad pro Jahr. Bislang ist allerdings nicht geklärt, ob diese Krümmungszunahmen medizinisch bedeutsam sind. Insgesamt ist die idiopathische Adoleszentenskoliose eine eher gutartige Wachstumsstörung. Auch im Alter sind nur geringe Einschränkungen zu erwarten (Weiss et al. 2016a).
Hauptziel physiotherapeutischer Bemühungen ist neben dem Erhalt oder der Verbesserung der Funktion auch das Eindämmen einer Krümmungszunahme. Nebenziele sind die Prävention sekundärer Funktionsstörungen, die sich im Bereich des Bewegungsapparates, aber auch im Bereich des kardiopulmonalen Systems, manifestieren können.
Es ist schon seit der Untersuchung von Collis und Ponseti (1969) bekannt, dass Skoliosepatienten nur unwesentlich stärker von Rückenschmerzen betroffen sind als ein nicht von der Skoliose betroffenes Kontrollkollektiv. Nach späteren Untersuchungen (Weiss 1993a, Weiss et al. 1999, Asher und Burton 2006) lässt sich kein Zusammenhang zwischen dem Ausmaß des Krümmungswinkels und Rückenschmerzen nachweisen.
Sofern Schmerzen vorliegen, besteht bei den Skoliosepatienten eine erhöhte Schmerzanfälligkeit im Bereich des Krümmungsscheitels (Weiss 1993a). Auch wenn zwischen Krümmungswinkel und Schmerz keine Korrelation besteht, so lässt sich doch der Schmerz bei Patienten mit Skoliose durch eine intensive krankengymnastische Therapie günstig beeinflussen (Weiss 1993a, Weiss et al. 1999, Weiss et al. 2016b).
In der Regel haben Skoliosepatienten große Angst vor den Einschränkungen im kardiopulmonalen Bereich. Diese Ängste sind jedoch meist unbegründet. Nach Pehrsson et al. (1992) führen Krümmungen unter 100 Grad nicht zu lebensverkürzenden kardiopulmonalen Einschränkungen. Patienten mit deutlich weniger als 100 Grad nach Wachstumsabschluss sind dementsprechend nicht von einem Cor pulmonale bedroht, was aber nicht heißt, dass nicht auch Betroffene mit Krümmungen von weit mehr als 100 Grad 80 Jahre alt werden können und auch nicht zwangsläufig über eine mangelhafte Lebensqualität klagen (Weiss 2016c). Es ist allerdings bekannt, dass Beeinträchtigungen der Atemmechanik und der Leistungsfähigkeit schon bei geringeren Krümmungswinkeln bestehen können (DiRocco und Vaccaro 1988, Weber et al. 1975). Aus diesem Grunde spielt die Rehabilitation der Atmung im Rahmen der Physiotherapie bei Skoliose nicht nur zur Korrektur des skoliotischen Atemmusters eine große Rolle, sondern auch zur Verbesserung der Atemfunktion und damit der Leistungsfähigkeit der Betroffenen.
Die physiotherapeutische und gymnastische Behandlung der Skoliose hat in Europa, und speziell in Deutschland, eine lange Tradition. Auch im europäischen Ausland gibt es eine Vielzahl spezialisierter Zentren, welche sich mit der Physiotherapie bei Skoliose befassen. Zwanzig Jahre lang existierte eine europäische Gesellschaft zur krankengymnastischen Behandlung der Skoliose (Groupe Européen Kinésithérapie Travail sur la Scoliose, GEKTS), deren Mitglieder sich jährlich auf wissenschaftlichen Kongressen zur Weiterentwicklung der physiotherapeutischen Ansätze austauschten. Diese Gruppe ist später in der SIRER (Société Internationale de Recherches et d’Etudes sur le Rachis) aufgegangen, wobei die Skoliosebehandlung ein Schwerpunkt
geblieben ist. Durch die Sprachbarriere haben sich nur wenige Kontakte dieser ursprünglich französischsprachigen Gesellschaft zu deutschen oder englischsprachigen Spezialisten ergeben. Heute gibt es eine internationale Akademie (Schroth Best Practice Academy), die es sich ursprünglich zur Aufgabe gemacht hat, den konservativen Behandlungsstandard international zu verbessern.
In Deutschland selbst gab es eine Vielzahl krankengymnastischer Behandlungsansätze. Letztendlich haben sich die Behandlungsverfahren auf entwicklungskinesiologischer Grundlage (Vojta und E-Technik) zur Frühbehandlung der Skoliose und die dreidimensionale Skoliosebehandlung nach Katharina Schroth® auch für die prognostisch ungünstigeren Fälle sowie begleitend zur Korsetttherapie durchgesetzt. Das PEP-Verfahren (peripher evozierte Posturalreaktion), das in diesem Buch beschrieben ist, wird heutzutage vor allem bei Kindern unter zehn Jahren in der Frühbehandlung angewendet.
Neuere Erkenntnisse zur Korrigierbarkeit der Skoliosen (van Loon et al. 2008) lassen den Schluss zu, dass sowohl die Seitverbiegung der Wirbelsäule als auch die Wirbelsäulenrotation durch eine einfache Korrekturbewegung vermindert werden können. Allein durch Verstärkung der lumbalen Lordose auf Höhe des 2. Lendenwirbelkörpers, in Verbindung mit einer Verstärkung der Kyphose im unteren Brustkorbbereich, wird eine Verringerung der Seitverbiegung möglich. Dementsprechend werden neuerdings vermehrt Übungen zur Korrektur des Sagittalprofils in das Schroth-Konzept integriert. Die sogenannten „physio-logic®“-Übungen haben bei zusätzlicher Anwendung im Rahmen der stationären Rehabilitation das Behandlungsergebnis in erheblichem Maße verbessert (Weiss und Klein 2006).
Die Langzeitprognose der idiopathischen Adoleszentenskoliose quoad vitam ist insgesamt günstig (Weiss et al. 2016a). Die Zeichen und Symptome einer idiopathischen Skoliose, auch geringeren Ausmaßes (Hawes und O’Brien 2006), müssen jedoch aufgrund ihrer volkswirtschaftlichen Bedeutung (vermehrte Krankheitsanfälligkeit, Arbeitsunfähigkeit) Zielparameter der konservativen Skoliosebehandlung sein.
Im Langzeitvergleich haben operierte und korsettbehandelte Skoliosepatienten mit vermehrtem Verschleiß und – nach aktuellen Untersuchungen – mit einer leicht erhöhten Schmerzinzidenz zu rechnen (Danielson und Nachemson 2001, Danielsson et al. 2001, Weiss et al. 2016a). Die Beeinträchtigungen durch die Skoliose sind im Langzeitverlauf für operierte und nicht operierte Patienten nach älteren Untersuchungen gleich stark. Den Beeinträchtigungen (Funktionsverlust, Reduktion des allgemeinen Gesundheitszustandes, erhöhte Schmerzinzidenz, Beeinträchtigung der Lungenfunktion) kann also nicht durch eine Operation vorgebeugt werden.
Durch aktuellere Cochrane-Reviews von Romano et al. (2012) und Negrini et al. (2010) ist nachgewiesen, dass sowohl die Physiotherapie bei Skoliose, als auch die Korsettversorgung als evidenzbasierte Behandlungsverfahren gelten. Interessant ist in diesem Zusammenhang die randomisierte, kontrollierte Untersuchung (RCT) aus China, nach der auch unspezifische Übungen bei reiferen Jugendlichen offenbar eine positive Wirkung auf Skoliosen haben (Wan et al. 2005).
Einleitung
Mittlerweile wurden einige RCTs zur konservativen Behandlung veröffentlicht: drei zu korrigierenden Übungen (Monticone et al. 2014, Schreiber et al. 2015, Kuru et al. 2016) und eine zur Korsettbehandlung (Weinstein et al. 2013). Ferner gibt es eine Metaanalyse zur konservativen Behandlung der Skoliose (Anwer et al. 2015). Die konservative Skoliosebehandlung ist somit auf Stufe-I-Evidenz basiert.
In mehreren systematischen Reviews kam zutage, dass die konservativen Behandlungsmaßnahmen als wirksam eingeschätzt werden können, die operativen Behandlungsverfahren jedoch nicht (Weiss und Goodall 2008, Westrik und Ward 2011, Weiss et al. 2013, Bettany-Saltikov et al. 2015, Bettany-Saltikov et al. 2016, Weiss et al. 2021). Somit können wir uns mit Selbstbewusstsein der konservativen Behandlung der Skoliose widmen, zumal wesentliche Nebenwirkungen und Risiken für konservative Behandlungsverfahren nicht beschrieben sind.
Die idiopathischen Skoliosen werden eingeteilt in die infantile Skoliose, die juvenile Skoliose, sowie die Adoleszentenskoliose (Winter 1995, Kruzel und Moramarco 2020). An dieser Stelle sollen allerdings auch die weniger häufigen Skolioseformen kurz umrissen werden.
Grob eingeteilt werden die Skoliosen in:
• idiopathische Skoliosen,
• neuromuskuläre Skoliosen (neuropathisch, myopathisch),
• kongenitale Skoliosen,
• Skoliosen bei Neurofibromatose,
• Skoliosen bei mesenchymalen Veränderungen (Marfan, Ehlers-Danlos und andere),
• Osteochondrodystrophien und
• a ndere seltene symptomatische Skoliosen (Winter 1995, Chik 2020).
Allerdings spielen nach den Erfahrungen des Erstautors auch Gendefekte (z. B. das Prader-Willi-Syndrom, Abbildung 5) eine Rolle (Weiss und Goodall 2009).
Der Definition gemäß sind idiopathische Skoliosen Wirbelsäulenverkrümmungen bei ansonsten gesunden Kindern oder Jugendlichen. Demgegenüber können wir die anderen Skolioseformen als symptomatische oder auch syndromatische Skoliosen bezeichnen, da diese in direktem Zusammenhang mit einer Grunderkrankung auftreten.
Neuromuskuläre Skoliosen sind beispielsweise Skoliosen in Zusammenhang mit einer Störung im Bereich des Nervensystems (neuropathisch), wie bei der Zerebralparese oder auch der Meningomyelocele (Abbildung 6). Eine Unterform der myopathischen Skoliosen sind zum Beispiel die Skoliose bei Muskeldystrophie oder bei Arthrogryposis Multiplex Congenita (AMC).
Die Skoliose bei Neurofibromatose ist gekennzeichnet durch rasch progrediente Verläufe. Typisch sind die Flecken auf der Haut, deren Farbe Milchkaffee ähnelt (Abbildung 6).
Die Prognose der symptomatischen Skoliosen ist auch innerhalb der einzelnen Skolioseformen recht unterschiedlich und damit schwer vorhersagbar. Daher sind im Wachstumsalter wie bei der idiopathischen Skoliose Verlaufskontrollen in 3-monatigen Abständen angebracht. Bei optimaler konservativer Behandlung ist die operative Behandlung nicht primär indiziert, zumal es hierzu ohnehin keine Evidenz (Cheuk et al. 2012, Weiss et al. 2021), aber Berichte über hohe Komplikationsraten gibt (Weiss und Goodall 2008).
Einleitung
Abbildung 5: Patienten mit Prader-Willi-Syndrom. Es handelt sich um einen Gendefekt mit unterschiedlicher Expression. Im Allgemeinen besteht Übergewicht und ein fast unstillbarer Heißhunger. Obwohl eher kleinwüchsig, entwickeln Patienten mit Prader-Willi-Syndrom oftmals beträchtliche Skoliosen (Weiss und Goddall 2009).
Abbildung 6: Spina Bifida, Neurofibromatosis, AMC (v. links nach rechts). Unterschiedliche Skolioseformen. Links gehf ä h iger Patient mit einer Meningomyelocele ohne Hautdefekt, aber mit deutlicher Haarbildung im Bereich der Haut über der Fehlbildung. Mitte: Thorakal rechtskonvexe Skoliose bei einem Jungen mit Neurofibromatose. Typisch sind Hautflecken, deren Farbe Milchkaffee ähnelt. Rechts Junge mit Arthrogryposis Multiplex Congenita (AMC) mit der typischen Kyphoskoliose.
Einleitung
Bei den kongenitalen Skoliosen sind die Formationsstörungen (Keil-, Halbwirbel) von den Segmentationsstörungen (einseitige Stabbildung, Rippensynostosen) zu unterscheiden. Oft kommen Formationsstörungen gemeinsam mit Segmentationstörungen vor. Die kongenitalen Skoliosen sind vielfach gutartig und bedürfen oft überhaupt keiner Behandlung (Abbildungen 7 und 8). Segmentationsstörungen sind nicht immer progredient, auch wenn bei mehrsegmentalen Synostosen eher von einer ungünstigen Prognose ausgegangen werden muss (Abbildung 9).
Vom klinischen Erscheinungsbild her sind kongenitale Skoliosen mitunter unauffällig (Abbildungen 7 und 8), können aber besonders im Zusammenhang mit Segmentationsstörungen zu beträchtlichen Deformitäten führen (Abbildung 10).
Somit besteht auch bezüglich der symptomatischen oder syndromatischen Skoliosen primär eine konservative Behandlungsindikation, wobei auch hier in Phasen verstärkten Wachstums die Korsettversorgung und in Phasen geringerer Wachstumserwartung die spezifische Physiotherapie im Vordergrund steht (Weiss und Goodall 2009, Weiss 2012, Kaspiris et al. 2011).
Die vielfach propagierte frühe operative Behandlung der kongenitalen Skoliose ist bei balancierten Deformitäten meist unnötig und bei größeren Deformitäten nicht grundsätzlich erfolgreich (Abbildung 11). Die hohe Komplikationsrate bezüglich der operativen Behandlung (Weiss und Goodall 2008) und die mangelnde Evidenz hinsichtlich postoperativer Langzeitverläufe bis zum Wachstumsabschluss (Kaspiris et al. 2011) sprechen gegen eine primäre operative Indikation bei Patienten mit kongenitaler Skoliose.
Abbildung 7: Mädchen mit kongenitaler Skoliose ohne jegliche Behandlung links im radiologischen Verlauf zwischen dem 10. und 14. Lebensjahr ohne Progression. Rechts das klinische Bild bei Behandlungsabschluss (Kaspiris et al. 2011).
Einleitung
Einleitung
Abbildung 10: Links ein junger Mann mit einer Formationsstörung thorakolumbal. Auff ä l lig ist die thorakolumbale Kyphose im betroffenen Wirbelsäu lenabschnitt, wä hrend die Seitabweichung nicht stark auff ä l lt. Rechts Adoleszente mit Rippensynostosen (s. a. Abbildung 9 rechts) und ausgepräg ter Deformität. Bei dieser Patientin hatte der Erstautor eine Operationsindikation gestellt. Die Operation wurde nach erfolgter MRT-Untersuchung von den Wirbelsäu lenchirurgen aus Gründen des beträchtlichen neurologischen Risikos abgelehnt.
Die Schroth-Therapie umfassend erklärt
Physiotherapie, Neuromobilisation, Korsettversorgung: Die Behandlungsmethoden für die Erkrankung der Wirbelsäule sind, abhängig von Schweregrad und Krümmungsmuster, sehr vielfältig. Das Autorenteam rund um Dr. med. Hans-Rudolf Weiß stellt die verschiedenen Möglichkeiten, die im Rahmen einer konservativen Skoliose-Therapie zur Verfügung stehen, ausführlich dar. Dabei wenden sich die Experten mit ihrem Skoliose-Buch sowohl an Betroffene als auch an Physiotherapeuten.
Katharina Schroth war eine Pionierin. Ihre Dreidimensionale Skoliosebehandlung dient als Basis der in diesem Buch vorgestellten Therapien. Diese wurden entsprechend neuester medizinischer Erkenntnisse erweitert – so wird eine bestmögliche Versorgung der Skoliose-Patientinnen und -Patienten sichergestellt.
Die spezifischen Übungen wurden dafür vereinfacht, ohne an Effektivität einzubüßen. Bei Berücksichtigung aller hier beschriebenen Tipps und Tricks sind sogar klinische Überkorrekturen möglich.
Ganzheitliche Skoliose-Therapie, modernisiert und nach neuestem Stand der Wissenschaft weiterentwickelt: Finden Sie in diesem Buch die individuelle Behandlungsmethode, die Ihnen die größten Erfolge verspricht!
Dr. med. Hans-Rudolf Weiß ist Orthopäde, Arzt für physikalische Medizin, Chirotherapeut und ehemaliger ärztlicher Leiter des Katharina-Schroth-Rehabilitationszentrums für Wirbelsäulendeformitäten in Bad Sobernheim und der Rehabilitationseinrichtung für Wirbelsäulendeformitäten in Gensingen. Derzeit ist er als Senior Consultant für die Firma Koob Scolitech GmbH, Neu Bamberg, tätig, wo er das Qualitätsmanagement der computergestützten (CAD) KorsettDesigns für die von ihm entwickelten innovativen und individuellen Rumpforthesen weltweit betreut.
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