Es steht fest, stellt die Autorin klar, den Schießbefehl an der Grenze hat es gegeben, und er wurde ausgeführt, aber es haben auch viele Zivilisten ihr Leben verloren. Wo bleibt da die Justiz, fragt sie. 1941: Die erste Fluchtwelle Meyers Großes Taschenlexikon umschreibt Flucht als Ausweichen vor einer drohenden Gefahr durch schnellen Ortswechsel. Menschen fliehen vor Feuer, Wasser oder Krieg. Aber sie flüchten auch vor totalitären Regimen, die sie mit Kerker, Folter oder sogar mit dem Tod, mit der Vernichtung im Lager bedrohen. Die großen Fluchtbewegungen des 20. Jahrhunderts setzen schon vor dem Zweiten Weltkrieg ein. Die erste Fluchtwelle aus Rumänien in Richtung Westen beginnt 1941. Stalin erhält nach Absprachen mit dem Deutschen Reich das Buchenland und Bessarabien. 1812 tritt das Osmanische Reich Bessarabien an Russland ab. Nach dem Ersten Weltkrieg wird das damals hauptsächlich von Rumänen bewohnte Gebiet Rumänien zugesprochen. Wer von den Bessarabiern Stalin fürchtet, geht 1941 nach Rumänien, aber auch nach Deutschland. Die Grenzgänger werden über das ganze Land verteilt. 1942 besetzt Rumänien diese Territorien, 1944 marschieren Stalins Truppen wieder ein. Eine neue Fluchtwelle aus dem Buchenland und Bessarabien ist die Folge. 1941 wurden Mazedo-Rumänen aus dem Pindosgebirge in Bulgarien nach Bessarbien und ins Buchenland umgesiedelt. Auch sie werden vor den Sowjets nach Rumänien flüchten. Zar Alexander I. hatte Anfang des 19. Jahrhunderts in Bessarabien, das sich zwischen den Flüssen Dnjestr, Pruth und Donau nördlich des Schwarzen Meeres ausdehnt, deutsche Kolonisten angesiedelt: Ulmer Schiffsleute bringen im Jahr 1817 mehr als 5500 Siedler donauabwärts in diese Region. Im Zweiten Weltkrieg lässt Hitler nach Absprache mit Stalin die 92 000 BessarabienDeutsche „heim ins Reich“ holen. Die beschönigende Bezeichnung verbirgt, dass es sich bei der Umsiedlung der Schwarzmeer- und Bessarbien-Deutschen um ein Exempel für ethnische Vertreibung und Säuberung handelt. Auch die Eltern des jetzigen Bundespräsidenten Horst Köhler stammen beispielsweise aus Bessarabien. Auch seine Familie hat damals ihre Heimat aufgegeben. 1944 holt die Geschichte auch die anderen Deutschen in Rumänien ein. Im Sommer und Herbst 1944 flüchten nicht nur Rumänen, sondern auch viele der rund 500 000 Deutschen aus Rumänien, die im Banat, in Siebenbürgen und im Sathmarer Land zu Hause sind, ferner viele aus Jugoslawien und Ungarn im Schutz der Deutschen Wehrmacht vor der nahenden Sowjetarmee in Richtung Westen. Bei Kriegsende sind an die 100 000 Volksdeutsche aus Rumänien auf der Flucht vor der Roten Armee. Unter den Flüchtlingen ist auch der damals erst zwei Jahre alte Hansi Schmidt aus Marienfeld, der später einmal als Handballer
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