Gerhard Dick:
Mit der Temesch in die Freiheit geschwommen Die Banater im Dreiländereck Rumänien, Serbien, Ungarn erleben den 10. Oktober 1981 als warmen, angenehmen Herbsttag. An der Endhaltestelle der Eisenbahnstrecke, die Temeswar, die Hauptstadt dieses Landstrichs, mit dem Grenzort Cruceni verbindet, steigen drei Mann aus dem Zug: Gerhard Dick (geboren am 27. Juni 1963) und Ewald Tussler (geboren am 8. Juni 1962) mit seinem Vater Franz Tussler. Die drei kommen mit dem letzten Zug aus Temeswar. Sie machen sich zusammen zu Fuß auf den Weg in ihren Heimatort Tschawosch. Gerhard Dick gibt vor, wie gewöhnlich an diesem Wochenende seine Eltern in Tschawosch besuchen zu wollen. Die Tusslers wohnen seit 1976 in Temeswar, sie wollen zu Ewalds Tante und seinem Onkel, die die Nachbarn der Eltern von Gerhard Dick sind. Tschawosch liegt an der rumänisch-serbischen Grenze als letzte Ortschaft des rumänischen Banats auf dem linken Temeschufer. Die Temesch entspringt im rumänischen Teil des Banats bei Wolfsberg im Banater Bergland und mündet in Pantschowa kurz hinter Belgrad in die Donau. Nach der Zerschlagung Österreich-Ungarns infolge des Friedensvertrags von Trianon 1920 wird das Banat zwischen Serbien und Rumänien aufgeteilt, ein kleiner Nordwestzipfel mit der Stadt Segedin bleibt Ungarn erhalten. Mit der neuen Grenzziehung vom 24. März 1924 verliert Tschawosch seine zentrale Lage, etwa 5 Kilometer vom Distriktsitz Modosch entfernt, wird in eine Randlage gedrängt und von allen Städten und Marktflecken Rumäniens isoliert. Die nahe Temesch-Brücke in Modosch ist für die Tschawoscher wegen der neuen Grenze auf serbischer Seite nicht mehr zugänglich, die Ortschaften jenseits der Temesch nicht mehr erreichbar. Die nächste Brücke ist flussaufwärts 25 Kilometer entfernt. Die Tschawoscher sind auch vom Modoscher Bahnhof abgeschnitten. Sie müssen jetzt eben nach Cruceni am rechten Ufer der Temesch gehen. Dazu bedienen sie sich einer kleinen Personenfähre, um das Temesch-Ufer zu wechseln. Der nächste südlich der Temesch gelegene Bahnhof ist in Gier, 12 Kilometer entfernt. Als Gerhard Dick und sein Freund Ewald mit dessen Vater den Fußmarsch entlang der Grenze antreten, haben sie schon ein gutes Gefühl. Kein Soldat begleitet sie diesmal auf dem Heimweg. Das kommt den beiden jungen Männern 18 und 19 Jahre alt - wie gerufen. Vor einer Woche haben sie entschieden: Sie wollen die erste Gelegenheit nutzen, um nach Serbien durchzubrennen. Die Zeit ist an diesem 10. Oktober anscheinend reif dafür. Warum dieses Mal kein Bewacher mitgeht? Sie wissen es nicht. Sie können nur vermuten, dass vielleicht
376