Flüchtlinge erzählen Der lange Treck Von Johann Steiner Seit Tagen ist Gewehr- und Kanonendonner zu hören. Er wird immer lauter. Die Deutschen in Billed in der Banater Heide haben ein ungutes Gefühl. Der Sommer ist fast zu Ende. Der Mais sollte schon gebrochen werden. Doch seit Tagen traut sich kaum noch jemand auf den Kneser und Hodonier Hotter. Und dann taucht am ersten Herbsttag der erste Rotarmist in der Sauerländer Gasse auf. Seit jenem 21. September 1944 sind fast 64 Jahre vergangen. Es sind Jahre, in denen sich das Dorf in Südwestrumänien so grundlegend verändert hat, dass die, die es seither nicht mehr gesehen haben, es kaum wiedererkennen würden. Für die, die nicht an der Front sind, beginnt im Herbst 1944 erst das große Leid. In jenen Septembertagen, aber auch noch später will kaum einer es wahr haben, was in den kommenden Monaten, Jahren und Jahrzehnten passiert. Der russische Vorposten in der Sauerländer Gasse kann keinen Feind im Dorf ausmachen und lässt seine Kameraden ausschwärmen. Auf dem Hof von Jakob Gilde im Schatten der Billeder Kirche taucht an diesem Tag ein Soldat asiatischer Herkunft auf, die Kalaschnikow im Anschlag. Sein Ziel: die Ställe. Seine Truppe braucht Pferde. Doch er findet keines. Jakob Gilde hat sein letztes Pferd - die beiden vorletzten hat die rumänische Armee ihm genommen - hinter den Strohschober gestellt. Bis dorthin geht der Rotarmist nicht. Er zieht unverrichteter Dinge ab. Das unverhoffte Auftauchen des Mannes mit den Schlitzaugen lässt bei Jakob Gilde die Alarmglocken läuten. Er will weg, bevor die Russen scharenweise einfallen. Das Pferd macht es noch möglich, und deutsches Militär, das die Russen am nächsten Tag aus dem Dorf drängt. Jakob Gilde, seine Frau Katharina und die Tochter, die auf denselben Vornamen wie die Mutter hört, zögern keinen Augenblick. Sie bereiten die Flucht vor. Sie schlachten ein Schwein, braten das Fleisch, konservieren es in Gläsern und packen das Nötigste. Am 24. September hat Jakob Gilde Geburtstag. Er wird ihn auf seinem ersten Fluchttag fahrend und marschierend verbringen. Er ist 48 Jahre alt, seine Frau 42. Die Gildes lassen einen Stall voller fetter Schweine zurück, einen Keller voller Kartoffeln, die gesamte zur Lieferung vorbereitete Hanfernte, den nicht geernteten Mais und die ganze Wirtschaft. Doch er hat viel Geld bei sich. Das Jahr 1944 war noch ein gutes Jahr für Landwirte im Banat. Zusammen mit den Gildes aus der Kirchengasse flüchtet auch ein Teil der
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