Josef Györi:
Am Tag, als der Staatschef kam Diesen Tag haben sich die drei bewusst ausgesucht: den 30. August 1959. Es ist der Tag, an dem der rumänische Staats- und Parteichef Gheorghe GheorghiuDej (1901-1965) zu Besuch in Lenauheim weilt, um zu sehen, wie im Geburtsort des großen österreichischen Dichters Nikolaus Lenau (1802-1850) die kollektivierte Landwirtschaft funktioniert. An diesem 30. August starten Josef Györi (geboren am 21. Februar 1939), Josef Fuhr und Adam Kornacker in dem Banater Dorf Großjetscha mit Fahrrädern in Richtung serbische Grenze. Es regnet in Strömen, und das kommt ihrem Fluchtvorhaben entgegen. Vor dem Start trinken sie sich noch ein wenig Mut an. Und wenn sie an diesem Tag jemand gefragt hätte, wohin sie wollen, dann hätten sie die Ausrede gebraucht: nach Lenauheim, den Staatschef begrüßen. Ursprünglich wollten vier weitere junge Männer mitfahren. Doch die sind im letzten Augenblick abgesprungen. Györi, Fuhr und Kornacker erreichen die Grenze bei Ketscha. Es regnet. Die Hunde wittern die Flüchtenden nicht, auch die Grenzer merken nichts. Auf serbischer Seite angekommen, hören die drei einen Pfiff, und im nächsten Augenblick haben serbische Grenzer sie umstellt. Sie kommen in das große Flüchtlingslager Gorski Kotor. Sie warten auf die Weiterleitung nach Deutschland. Weil sich aber alles in die Länge zieht, versuchen sie auf eigene Faust wegzukommen. Nach mehreren vergeblichen Versuchen glückt ihnen der Grenzübertritt von Rijeka nach Fiume. In Italien kommen sie in ein Flüchtlingslager in Triest. Sie haben kein Geld und keine Arbeit. Sie können sich kaum über Wasser halten. Josef Györi geht über die grüne Grenze nach Österreich. Die beiden Fluchtkameraden folgen ihm nach ein paar Tagen. Von Österreich geht Györi als erster über die österreichisch-deutsche Grenze. Es ist der 6. Januar 1960. Seit der Flucht über die rumänische Grenze sind mehr als vier Monate vergangen. Deutsche Grenzbeamte stellen ihn. Ein Gericht verurteilt ihn zu vier Wochen Haft wegen illegalen Grenzübertritts. Inzwischen folgen auch Fuhr und Kornacker. Nach der Entlassung aus dem Gefängnis erledigt Györi die Behördengänge in Nürnberg und zieht zusammen mit seinen beiden Kameraden nach Düsseldorf. Sie finden Arbeit in einem Stahlwerk. Györi schult um zum Kellner. Fuhr lernt ein Mädchen kennen, heiratet und zieht nach Stuttgart. Kornacker wandert aus nach Kanada. Györi bleibt im Rheinland. Er lebt heute als Witwer und Rentner in Kaarst nahe Düsseldorf und fährt ab und an zum Zeitvertreib Taxi. Seine 1969 geborene Tochter lebt in Hannover. Nach der Flucht bekommen die Eltern der drei Flüchtlinge, aber auch Arbeitskollegen ernste Probleme mit dem Geheimdienst
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